Molly

»Oh mein Gott!«, kreischt Al ins Telefon, dass mir das Trommelfell vibriert. »Ist alles in Ordnung?«

Ich habe Al gerade erzählt, dass ich die Treppe runtergefallen bin und mir die Schulter verletzt habe, weil ich weiß, dass Penny auf der anderen Seite der Trennwand lauscht und sich womöglich Notizen für ihre streng geheime Personalakte macht. Seit ich zurück bin, lauert sie darauf, dass ich vergesse, so zu tun, als könne ich den Arm nicht richtig gebrauchen. Das weiß ich genau. Sie hat vorhin sogar absichtlich einen ihrer kostbaren KitKat-Riegel über die Trennwand geworfen, um zu sehen, ob ich ihn mit der falschen Hand auffange.

»Es geht mir gut«, antworte ich tapfer. »Natürlich habe ich starke Schmerzen, aber ich halte durch«, füge ich hinzu, damit sie es endlich kapiert.

»Du hast es doch nicht … nicht etwa mit Absicht gemacht, oder?«, fragt Al. »Du weißt schon, wegen Charlie … und so?«

Ich höre Als Stimme die Aufregung an. Nichts liebt er mehr als ein bisschen Dramatik. Obwohl er es niemals zugeben würde, wäre er insgeheim begeistert, wenn ich Selbstmordgedanken hätte.

»Natürlich nicht«, erwidere ich.

»Also ist alles okay? Wegen Charlie …?«

Über Charlie zu sprechen hat mir gerade noch gefehlt. Ich habe Al und Tanya nicht erzählt, dass er mir geschrieben hat und zurückkommen will und dass ich unsere Ehe allmählich für einen schweren Fehler halte. Das werde ich auch erst tun, wenn mir eine Lösung eingefallen ist.

»Ja, alles bestens«, entgegne ich bemüht fröhlich und selbstsicher.

Was ich aber am liebsten sagen möchte, ist: »Bring mich um, bitte sofort. Auf irgendeine schnelle, schmerzlose und sofort wirkende Methode. Schubs mich vor einen Bus – dann würde es wie ein Unfall aussehen.« Das habe ich letzte Woche in der Zeitung gelesen. Eine bedauernswerte Frau, die gerade aus dem Urlaub in Orlando zurückgekommen war, hat in die falsche Richtung geschaut und ist direkt unter den Bus Nummer 46A gelaufen. Wie die Polizei vermutet, hat sie vergessen, dass sie wieder in Irland ist, wo Linksverkehr herrscht. Es war wirklich tragisch – sie trug noch das in Disneyland gekaufte Micky-Mouse-T-Shirt.

»Soll ich heute Abend vorbeikommen?«

Ich kann Al heute nicht treffen. Sobald er mich sieht, wird er alle Informationen aus mir herausholen, und ich will es ihm nicht sagen. Noch nicht.

»Es geht mir wirklich gut«, beteuere ich. »Ich ruhe mich nach der Arbeit einfach aus und rufe dich morgen an. Okay?«

»Zwing mich nicht, deine Tür einzutreten«, entgegnete er in gespieltem Ernst.

»Al, du wiegst etwa fünfundvierzig Kilo, du könntest nicht mal eine Katzenklappe eintreten.« Ich muss wider Willen lachen.

»Ja, wahrscheinlich hast du recht«, seufzt er. »Gut, dann bitte ich eben einen tollen Typen aus dem Fitness-Studio, mitzukommen und mir dabei zu helfen. Ich liebe Männer in engen Sportklamotten. Gestern habe ich im Fitness-Studio einen echt niedlichen Typen gesehen. Ich glaube, er steht auf mich.«

»Was ist denn mit deinem Gefängnisaufseher?«, erkundige ich mich. »Butch, richtig? Ich dachte, es läuft richtig toll mit euch beiden.«

»Du hast recht – anfangs war das auch so. Aber dann habe ich festgestellt, dass wir nichts gemeinsam haben. Ich kann doch nicht mit einem Mann zusammen sein, der Romane von Carla Ryan liest!«

Ich fange an zu lachen.

»Bist du wirklich sicher, dass du mich nicht brauchst?«

»Ganz sicher, Ehrenwort.«

Ich hänge auf und mache mich wieder an die Arbeit. Dabei achte ich darauf, hin und wieder in gespieltem Schmerz zusammenzuzucken, um die richtige Wirkung zu erzielen. Die Schulterverletzung war eine geniale Idee. Wer hätte gedacht, dass ich so phantasievoll bin? Mir mit dem Verbandsmaterial aus dem Bad den Arm von der Schulter bis zum Handgelenk zu bandagieren war eine Frage von Minuten. Dann musste ich nur noch den Arm in eine provisorische Schlinge legen, und alles sah völlig echt aus. Das einzige Problem war, mit der U-Bahn zur Arbeit zu fahren. Ich hatte beschlossen, dass es unabdingbar war, das Behindertsein zu üben, bevor ich es im Büro vorführte. Also zwang ich mich, ein Buch und einen Kaffeebecher gleichzeitig mit nur einer Hand zu balancieren. Alles klappte recht gut, bis ich etwas Kaffee über die Frau gegenüber verschüttete. Ich dachte schon, sie würde mir den anderen Arm tatsächlich brechen. Aber wenigstens habe ich so einen Sitzplatz ergattert, was wunderbar war. Normalerweise muss ich in der U-Bahn stehen, doch die vorübergehende Behinderung brachte mit sich, dass ich während der ganzen Fahrt dasitzen und ein tapferes Gesicht machen konnte. Bei der Arbeit lief es bis jetzt prächtig. Überlege schon, ob ich die Sache mit der Schulter noch eine Weile hinauszögere. Samantha war den ganzen Vormittag so nett zu mir, dass es die Mühe beinahe wert ist. Es ist auch gar nicht so schwierig, darauf zu achten, dass ich mich so verhalte, als hätte ich grausige Schmerzen. Inzwischen bin ich so gut im Theaterspielen, dass ich mich fast selbst von meiner Schulterverletzung überzeugt habe. Ich jaule sogar vor Schmerzen auf, wenn niemand hinschaut.

»Bist du sicher, dass du schon zur Arbeit gehen solltest?«, erkundigt sich Samantha und beobachtet voll Sorge, wie ich zum wohl hundertsten Mal das Gesicht verziehe.

»Schon gut.« Ich lächle und zucke leicht zusammen. »Allerdings weiß ich nicht, ob ich das mit dem Fotokopieren hinkriege.«

Ich werfe einen matten Blick auf den Stapel von Pressemitteilungen der PR-Leute, die kopiert werden wollen, damit Minty sie sich anschauen kann. Fotokopieren ist die Arbeit, die ich am meisten verabscheue. Der verdammte Kopierer produziert einen Papierstau, sobald ich mich auch nur in seine Nähe wage.

»Nein, natürlich nicht.« Mitfühlend schnalzt sie mit der Zunge. »Du Arme, damit könntest du es noch verschlimmern. Ich erledige das.«

»Was?« Penny streckt den Kopf über die Trennwand. »Für mich tust du so etwas nie!«

»Penny, das ist wirklich taktlos von dir«, entgegnet Samantha mit finsterer Miene. »Molly hat starke Schmerzen. Eigentlich sollte sie sich zu Hause ausruhen.«

Ich lächle sie engelsgleich an. Das funktioniert ja großartig. Ich habe zwar ein leicht schlechtes Gewissen, weil Samantha auf meine Geschichte hereingefallen ist, aber andererseits bemuttert sie ihre Mitmenschen gerne.

»Soll ich dir eine Tafel Schokolade holen?«, fährt sie fort. »Du hast ein wenig Stärkung nötig. Du bist etwas blass um die Nase.«

»Äh, nein, alles bestens«, antworte ich. »Ich habe keinen richtigen Hunger.«

Ich ziehe die Wangen ein, um meine Wangenknochen zu betonen. Je abgezehrter und eingefallener ich aussehe, desto besser. Was den Hunger angeht, habe ich nicht gelogen. Ich bin noch immer ein wenig appetitlos. Aber komischerweise glaube ich fast, dass ich eine Tüte Chips herunterbringen könnte. Käse-und-Zwiebel-Aroma wäre optimal. Und vielleicht doch ein bisschen Schokolade. Nur ein oder zwei Riegel. Vielleicht kriege ich Samantha ja dazu, später für mich einkaufen zu gehen.

»Du musst nach einem so scheußlichen Sturz auf dich achten«, sagt sie und tätschelt mir den gesunden Arm. »Ich kenne jemanden, der schwer gestürzt ist und sich dabei so erschreckt hat, dass er drei Wochen lang nichts essen konnte.«

»Was für ein Schwachsinn«, höhnt Penny. »Wahrscheinlich wollte er nur die Versicherung reinlegen. Manche Leute sind ja so verlogen.«

Ich spüre, dass meine Wangen glühen. Offenbar handelt es sich um eine verschlüsselte Botschaft an mich. Penny glaubt mir nicht, so viel steht fest.

Samantha achtet nicht auf sie. »Hast du schon mit Minty gesprochen?«, erkundigt sie sich.

»Noch nicht.« Ich schlucke.

Mir graut vor einer Begegnung mit Minty. Falls sie herausfindet, dass ich die Armverletzung nur vortäusche, stürze ich mich am besten gleich wirklich die Treppe hinunter. Den ganzen Vormittag bemühe ich mich schon, mich unauffällig zu verhalten und ihr aus dem Weg zu gehen. Hauptsächlich deshalb, weil ich befürchte, sie könnte sofort durchschauen, dass mir nichts fehlt. Allerdings auch aus dem Grund, dass ich zwar mit dem Artikel über Carla Rylan und dem Interview mit David für die nächste Nummer gut vorangekommen bin, aber mit dem Text über die Ehe noch nicht einmal angefangen habe, und den will sie sicher bald sehen.

Deshalb habe ich meinen Schreibtisch mit Papieren vollgestapelt, hinter denen ich mich verstecke, um nicht in ihr Blickfeld zu geraten. Obwohl es bis jetzt gut klappt, weiß ich, dass es nur eine Frage der Zeit ist. Wenn sie mich irgendwann bemerkt, wird sie sich daran erinnern, dass der Artikel schon vor Tagen hätte fertig sein sollen, und dann gibt es RICHTIG ÄRGER. Vorhin auf dem Klo wäre ich ihr beinahe in die Arme gelaufen. Ich habe sie in der Nachbarkabine gehört – ihr Pinkelgeräusch ist unverkennbar; da sie dabei ihre Beckenbodenübungen macht, verstummt das Plätschern immer wieder, um dann erneut einzusetzen. Sobald mir klar wurde, dass sie es war, blieb ich auf der Toilette sitzen und stemmte die Füße an die Wand, damit sie nicht meine Schuhe erkennt, mich aus der Kabine zerrt und gleich an Ort und Stelle vor dem energiesparenden Handtrockner den Artikel einfordert. Ich wollte kein Risiko eingehen. Es ist allgemein bekannt, dass Minty gern unter die Kabinentüren späht, um sicherzugehen, dass ihre Mitarbeiterinnen nicht zu häufig eine Pinkelpause einlegen. Sie ist nämlich fest davon überzeugt, dass man, wenn man so regelmäßig Beckenbodenübungen macht wie sie, nur zweimal täglich aufs Klo muss: einmal morgens und einmal abends. Ihrer Ansicht nach ist Blasenschwäche etwas für Memmen. Sie hat sogar einmal versucht, diesen Punkt auf die Tagesordnung einer Redaktionssitzung setzen zu lassen. Und dann war da noch der peinliche Zwischenfall, als eine Aushilfe, die gerade ihr erstes Baby gekriegt hatte, bei einer Besprechung niesen musste und Minty sie fragte, ob sie nun den Stuhl neu würde polstern lassen müssen. Wenn ich Minty bei einem Meeting gegenübersitze, merke ich manchmal an dem konzentrierten Ausdruck ihres verkniffenen spitzen Gesichts, dass sie innerlich die Muskeln anspannt.

Das Problem ist, dass ich den Ehe-Artikel nicht schreiben kann. Jedes Mal, wenn ich es versuche, ist mein Verstand schlagartig wie leergefegt – so wie damals in der Schule bei den Klausuren. Ich weiß, dass die Information irgendwo gespeichert sein muss, kann sie aber nicht zu Papier bringen. Das liegt daran, dass mir der Aufhänger fehlt. Ich brauche nur einen guten Aufhänger, dann läuft der Rest wie von selbst. Allerdings erweist es sich als unmöglich, einen Aufhänger zu finden, und allmählich ergreift mich Todesangst. Um eine Eingebung flehend starre ich auf den leeren Bildschirm.

»Der Tag, an dem ich geheiratet habe, war der glücklichste meines Lebens«, tippe ich langsam, wobei ich darauf achte, nur die Finger meiner gesunden Hand zu benutzen, nur für den Fall, dass jemand mich beobachtet. So weit, so gut.

Aber … war es wirklich der glücklichste Tag meines Lebens? Das heißt, ich dachte damals wirklich, dass ich glücklich bin. Ich schließe die Augen, versuche, den Weg zum Altar zu visualisieren, und sehe mich, begleitet von den sanften Klängen klassischer Musik, dahinschweben. Während ich vorbeigleite, lächle ich und nicke den Leuten so huldvoll zu wie Mutter Teresa, nur in einem figurbetonenden Designer-Brautkleid. Ich habe mich für einen engelsgleichen, anmutigen Stil entschieden. Mit nur einem Hauch von dezentem Hollywood-Chic. Nun macht sich bezahlt, dass Alastair mich gezwungen hat, das Gleiten zu üben: das endlose Herumgelaufe in seinem Wohnzimmer, mit einem Lexikon auf dem Kopf, gestrafften Schultern und eingezogenem Hintern – es klappt großartig. Auch wenn ich mir womöglich durch das Balancieren eines fünf Kilo schweren Buches einen dauerhaften Schaden an der Wirbelsäule zugezogen habe, hat es sich eindeutig gelohnt. Was macht es schon, wenn ich mit fünfunddreißig im Rollstuhl sitze? Ich kann hören, wie die Leute tatsächlich begeistert nach Luft schnappen – außer, jemand leidet an chronischem Asthma … da kann man nie sicher sein. Jedenfalls betrachten sie mich alle ehrfürchtig, und das ist das Wichtigste. Ich überlege, ob ich nicht die Hand heben und ein wenig winken soll wie die Mitglieder des Königshauses, damit sie wissen, dass sie meine Gunst genießen. Doch das könnte übertrieben sein und sie gegen mich aufbringen. Also beschließe ich, stattdessen ein bisschen häufiger zu nicken, und senke zur Abwechslung immer wieder einmal schüchtern Kopf und Blick wie Prinzessin Diana zu ihren Glanzzeiten. Ich finde, das ist die optimale Mischung. »Ich bin schön, aber bescheiden«, will sie ausdrücken. »Eine Heilige, aber voller Demut.«

Tanya geht vor mir. Sie trägt ihr maßgeschneidertes Brautjungfernkleid mit Satinapplikationen und hält den Rücken ebenso kerzengerade wie ich. Doch ich glaube, das liegt daran, dass ihr Kleid zwei Nummern zu klein ist, weil sie seit der letzten Anprobe ein wenig zugelegt hat. Sie behauptet, dass sie in zwei Monaten unmöglich um zwei Kleidergrößen zugenommen haben kann. Zandray, der Modeschöpfer, habe sich bestimmt total vermessen. Ich allerdings glaube, dass sie sich etwas vormacht. Zandray ist in der Welt der Mode eine Legende, ein kreatives Genie, das Roben für verschiedene Promis entwirft. Der macht keine Fehler – obwohl Tanya schwört, beim letzten Maßnehmen süßen Sherry in seinem Atem gerochen zu haben. Aber ganz gleich, was auch der Grund sein mag, jedenfalls muss sie kräftig den Bauch einziehen, was heißt, dass sie ganz langsam vor mir herschreitet. Spannenderweise ist der Effekt phantastisch: Sie sieht aus wie eine niedere Dienstmagd, die ihrer Königin (mir) den Weg freihält. Schade, dass ich ihr keinen Korb mit Blütenblättern zum Verstreuen gegeben habe, um die Stimmung zu unterstreichen. Dennoch merke ich ihr an, dass sie wirklich Schmerzen leidet. Natürlich könnte das eher etwas mit der komplizierten Hochsteckfrisur zu tun haben, die die Friseurin ihr in letzter Minute verpasst hat. Die Haarverlängerungen, um mehr Volumen vorzutäuschen, waren eine geniale Idee, auch wenn Tanya nicht sehr begeistert war und sich beschwerte, jetzt sehe sie aus wie ein Mopp.

Offen gestanden bin ich insgeheim froh darüber, dass sie ein bisschen zugenommen hat, denn nun wirke ich auf den Hochzeitsfotos wenigstens schlank. Das ist zugegebenermaßen gemein von mir, aber dafür ist auf alten Polaroids zu erkennen, dass ich jahrelang als pummelige Schwester mürrisch neben ihr herumgestanden habe. Heute ist mein großer Tag, und wenn Tanya deshalb ein bisschen zurückstecken muss, dann ist das eben so. Von meinem momentanen Blickwinkel aus betrachtet verstehe ich inzwischen, warum sie sich anfangs gegen Satin gesträubt hat. Der Stoff schmeichelt ihrem Hintern wirklich nicht, insbesondere jetzt, da sich die dicken Säume ihres Bauchweg-Korsetts durchdrücken und ihr in den Po einschneiden.

Ich schaue rasch zur Seite, nur um mich zu vergewissern, dass alle aufpassen und sämtliche Blicke auf mir ruhen. Das sollten sie nämlich: Ich sehe einfach hinreißend aus. Nicht nur okay oder geht so, sondern bezaubernd. Dafür haben die zwei Stunden bei der Maskenbildnerin gesorgt. Ich war ganz verzweifelt, als Jenna in letzter Minute abgesagt hat – sie ist die beste Maskenbildnerin überhaupt und hatte mir hoch und heilig versprochen, mich am Hochzeitstag zu schminken. Doch offenbar hat es einen Notfall wegen eines zickigen Models und eines aufbrausenden Designers bei einem Foto-Shooting für Unterwäsche gegeben, weshalb sie mir Cassandra, ihre Assistentin, geschickt hat.

Anfangs hatte ich, was Cassandra anging, so meine Zweifel. Sie ist optisch kein Vergleich zu Jenna, die ihr Haar zu einem Knoten aufgesteckt trägt wie eine elegante Pariserin. (Wenn ich mein Haar zu einem Knoten aufstecke, sehe ich einfach nur verhärmt und gewöhnlich aus, nicht als sollte ich mit einem Pudel an der Leine die Champs-Élysées entlangschlendern.) Cassandra machte einen sehr bohemienmäßigen und zornigen Eindruck, obwohl ich glaube, dass das zu ihrem Image gehört – wenigstens redete ich mir das ein, um nicht vor Angst loszuheulen. Sie hatte ein Batik-T-Shirt an und mindestens ein halbes Dutzend Ohrringe im Ohr, und auf ihrem Unterarm prangte ein Tattoo mit der Aufschrift FUCK in keltischen Buchstaben. Obwohl sie mich sehr, sehr nervös machte, hatte ich keine andere Wahl. Entweder sie oder niemand. Mich selbst zu schminken hätte ich niemals zustande gebracht. Immer vergesse ich, die Grundierung am Kiefer richtig zu verreiben, und beim Auftragen des Lidstrichs zittern meine Hände meistens so sehr, dass ich das Handtuch werfe. Aber schließlich ging alles gut. Die einzige Sache, bei der ich mir nicht ganz sicher bin, ist der leuchtend blaue Lidschatten. Sie beteuerte, ich müsse meine Schweinsäuglein betonen, und der Blauton würde sie »hervorheben«.

»Sollte ich es nicht mit einem konservativeren Look versuchen?«, fragte ich, während ich gefangen auf dem Schminkstuhl saß. Weil ich in einen gewaltigen Umhang gewickelt war, konnte ich mich nicht bewegen. Ich war wirklich nicht überzeugt davon, dass die Farben aus den Achtzigern meinem Teint schmeicheln würden – das hatten sie schon beim ersten Mal nicht getan. Ich erinnerte mich noch gut daran, wie ich mich mit meinem neuen Madonna-Look, inklusive neonfarbenes Make-up, im Jugendclub zum Gespött gemacht hatte.

»Würde Beige mir nicht besser stehen? Ich habe eigentlich an etwas Dezenteres gedacht …« Meine Stimme erstarb, und ich dachte daran, wie wundervoll Jenna mich beim Probeschminken hergerichtet hatte.

Cassandra runzelte die Stirn und warf mir einen waidwunden Blick zu.

»Tja, wenn Sie aussehen wollen wie alle anderen Bräute in diesem Land, können Sie natürlich Beige nehmen«, entgegnete sie nach einer Weile gekränkt. »Ich habe geglaubt, Sie möchten etwas Besonderes, das ein wenig ausgefallener ist. Aqua ist eine starke Signalfarbe und bei den Modenschauen in London sehr beliebt.«

Panisch schaute ich mich um und versuchte, Sichtkontakt mit Tanya aufzunehmen, um sie nach ihrer Meinung zu fragen. Doch sie stellte sich gerade tot, während die Friseurin sie mit einem gewaltigen Föhn und einem Ding bearbeitete, das wie der Schwanz einer Ratte aussah.

»Also gut«, gab ich mich geschlagen, schloss die Augen und hoffte auf das Beste. Als ich sie wieder öffnete, war mein Gesicht durch Lidschatten, Rouge und eine Tonne Glitzer völlig verwandelt.

»Wozu soll denn das gut sein?«, erkundigte ich mich voller Angst. Glitzer war doch sicher ein wenig übertrieben.

»Für die Fotos natürlich«, erwiderte sie, als wäre ich ein bisschen doof und hätte von Tuten und Blasen keine Ahnung. »Sie wollen doch leuchten!«

Dann blickte sie träumerisch und verklärt ins Leere. »Sie sehen aus wie die Models auf der diesjährigen Show von Dolce. Gefährlich

Bevor ich Gelegenheit hatte, darüber nachzudenken, ob ich wirklich gefährlich aussehen wollte, hatte ich mich schon in mein Kleid gezwängt und war auf dem Weg zur Kirche.

Während ich nun zum Altar gleite, bin ich froh, dass ich auf sie gehört habe. Ich hätte nie an ihr zweifeln sollen – nicht einmal als sie mich beim Auftragen der Grundierung ständig anfauchte. Offenbar wusste sie, was sie tat, denn das Aqua und der Glitzer scheinen die Leute zu verzaubern: Ich sehe, dass viele mit dem Finger zeigen, während ich vorbeirausche. Einigen bleibt buchstäblich der Mund offen stehen. Ein wundervolles Gefühl. So müssen sich Supermodels jeden Tag vorkommen: sexy, mächtig, im Rampenlicht. Plötzlich frage ich mich, ob mir nicht eine internationale Karriere als Model bevorsteht. Den zackigen Gang beherrsche ich inzwischen aus dem Effeff. Wenn nur ein Talentsucher unter den Gästen wäre, jemand, der in der Modeindustrie einen Namen hat. Natürlich müsste derjenige auf der Suche nach einem ganz bestimmten Typ sein. Zum Beispiel nach einer Frau, die nur eins sechzig groß und eher kurvenreich ist und Schweinsäuglein hat. Allerdings gilt es inzwischen als sexy, aus der Norm zu fallen, das weiß doch jeder. Schließlich gibt es Supermodels, die die Millionen nur so scheffeln, obwohl sich auf der Straße keiner nach ihnen umdrehen würde. Nun, umdrehen vielleicht schon, aber nur wegen ihrer spindeldürren Beine, ihrer Körpergröße und der im Vergleich dazu überdimensionalen Köpfe. Außerdem ist meine Figur momentan so gut wie nie zuvor. Was unter gewöhnlichen Umständen nicht viel zu bedeuten hätte. Aber ich weiß, dass ich heute ziemlich spektakulär aussehe. Erstens tendieren meine Kurven nicht ins Schwammige: Dafür hat die Algenpackung gesorgt. Ich bin so froh, dass ich das Geld investiert habe; es hat sich wirklich gelohnt, denn die Ausbuchtungen sind jetzt weg. Es war auch gar nicht so schlimm, sich in all die Bandagen wickeln zu lassen; nachdem ich mich erst mal an den ekligen Fischgeruch gewöhnt hatte, war es beinahe erträglich. Ich bin jedoch nicht sicher, wie lange die Wirkung anhalten wird. Deshalb trage ich sicherheitshalber einen Taillenformer. Fettwülste können hinterhältig sein. Man weiß nie, wann sie sich wieder melden, nur um hallo zu sagen und sich ein bisschen in den Vordergrund zu drängen. Doch im Moment schmiegt sich mein traumhaftes Kleid an meine Konturen, meine Haut strahlt (ich hatte vor der Hochzeit so viele Peeling-Behandlungen, dass die oberste Hautschicht zum Großteil abgetragen wurde), und mein Haar sitzt optimal (keine Krause, nichts steht weg, es fällt einfach nur weich wie in der Fernsehwerbung). Das hier ist der Augenblick, von dem ich immer geträumt habe. Der Augenblick, in dem alle sehen können, wie glamourös, anmutig und elegant ich bin. Ich bin ja so glücklich. Vielleicht so glücklich wie noch nie zuvor.

Ich schlage die Augen auf und versuche, das Gefühl festzuhalten. Wenn mir das gelingt, müsste ich es eigentlich auch zu Papier bringen können.

»Verheiratet zu sein ist ein Traum

Kein schlechter Aufhänger. Vielleicht nicht reißerisch genug, aber es könnte klappen. Dann jedoch höre ich eine leise innere Stimme: »Was verstehst du schon von einer traumhaften Ehe? Dein Mann hat sich schneller verdrückt als du gucken kannst, deine Schwester und dein bester Freund glauben, dass er eine Affäre hat, und du bekommst allmählich Zweifel an der ganzen Sache. Dir fehlen schlichtweg die Qualifikationen, um etwas über die Liebe, die Ehe oder überhaupt eine irgendwie geartete Beziehung zu schreiben. Du bist eine Beziehungsflasche.«

Manchmal wünsche ich, meine innere Stimme wäre nicht so durchsetzungsfähig. Es ist wirklich schwierig, sich zu konzentrieren, wenn sie mich die ganze Zeit vollquatscht.

»Die Ehe ist nicht nur eine körperliche, sondern auch eine geistige Verschmelzung.«

Nun, das ist eine dicke, fette Lüge. Erstens ist Charlies Geist mir ein Rätsel: Er liest den Economist und verabscheut The X Factor. Außerdem stand Leidenschaft bei uns nie groß auf dem Programm. Aber darüber will ich jetzt nicht nachdenken, da es mich noch mehr deprimieren würde, und ich fühle mich schon elend genug, seit der Taxifahrer mir klargemacht hat, was in unserer Beziehung fehlte.

»Die Ehe hat ihre Höhen und Tiefen.«

»Die Ehe ist ein Bund fürs Leben.«

Nichts klingt richtig. Es ist zwecklos. Ich bin eine tote Frau.

Wenn Minty rauskriegt, dass ich noch nicht einmal angefangen habe, macht sie mich einen Kopf kürzer. Sie könnte mich sogar mit Gegenständen bewerfen. Einmal hat sie ihren teuren Briefbeschwerer aus Quarz nach jemandem geworfen. Zum Glück daneben. Aber das Ding knallte mit einem solchen Schwung gegen die Wand in ihrem Büro, dass ein riesiger Riss zurückblieb. Der Riss wurde niemals zugegipst. Stattdessen hat Minty ein Herz darum gemalt, damit auch niemand vergisst, wozu sie in der Lage ist.

Und selbst wenn sie nichts wirft, wird sie mich ganz sicher anbrüllen. Wenn Brüllen eine olympische Disziplin wäre, wäre Minty die Goldmedaille sicher. Oder noch schlimmer: Sie schlägt diesen raunenden Tonfall an, mit dem sie ihre Mitmenschen gerne ängstigt. Dann spricht sie so leise, dass man beinahe über den Schreibtisch kriechen muss, um sie zu verstehen. Es ist erstaunlich wirkungsvoll. Wenn sie das tut, weiß man, dass man besser seine Sachen packt und sich so schnell wie möglich aus dem Staub macht.

Vielleicht sollte ich ihr von Charlie erzählen. Sie könnte Nachsicht mit mir haben. Ob ich ihr eine E-Mail schicke und ihr anvertraue, dass ich derzeit eine emotional schwierige Phase durchlebe und ein wenig Anteilnahme am Arbeitsplatz nötig habe? Doch sie würde die Mail vermutlich an alle anderen weiterleiten, und die ganze Redaktion wüsste Bescheid. Wie damals, als der Typ aus der IT-Abteilung ihr mitteilte, er müsse freinehmen, um wegen seiner Zwangsstörung einen Psychologen aufzusuchen. Minty hat die Mail an alle geschickt, die sie kannte – sie fand es zum Totlachen, dass er nicht das Haus verlassen konnte, ohne dreiundfünfzigmal das Licht ein- und auszuschalten. Der Arme hat kurz darauf gekündigt.

Nein, ich kann es ihr nicht sagen. In diesem Fall erfahren es alle, und ich könnte es nicht ertragen, wenn die Leute sich das Maul über mich zerreißen. Es war schlimm genug, als Mum und Dad starben. Immer, wenn ich hereinkam, verstummten alle schlagartig. Falls meine Kolleginnen darüber im Bilde wären, dass Charlie so kurz nach der Hochzeit einen Schlussstrich unter unsere Beziehung gezogen hat, hätte das noch schlimmere Folgen, auch wenn er inzwischen zu mir zurückkehren will. Und dabei besaß er nicht einmal den Anstand zu sterben, sondern hat mich einfach verlassen. Waisenkind und verlassene Ehefrau – diese Ballung tragischer Ereignisse würde der Gerüchteküche Stoff für viele Wochen liefern. Und das Schlimmste ist, dass Minty vermutlich einen Artikel darüber einfordern würde, wenn ihr die Story gefällt. Schließlich hat sie von Penny auch verlangt, dass sie darüber schreibt, als sie vor dem Traualtar stehen gelassen wurde.

»Molly, tolle Nachrichten!«, flötet Samantha, stellt eine dampfende Teetasse vor mich hin und reißt mich aus meinen Gedanken. »Du weißt doch, dass ich versucht habe, einen Fototermin mit David Rendell zu arrangieren. Nun, er war endlich einverstanden. Ist das nicht spitze?«

Mir krampft es den Magen zusammen. Das hat mir gerade noch gefehlt. Ich will David nicht wiedersehen. Ich halte es nicht aus, wenn er mich wieder so mustert wie während des Interviews. So als verachte er mich und hasse mich mit jeder Faser seines Herzens.

»Freust du dich denn nicht?«, fragt Samantha enttäuscht, weil ich keinen Satz über den Schreibtisch mache und ihr um den Hals falle. »Ich dachte, du würdest begeistert sein, weil ich die Initiative ergriffen und alles organisiert habe.«

Beim Anblick ihres traurigen Gesichts weiß ich, dass ich lügen muss, um sie nicht zu kränken.

»Natürlich bin ich begeistert!« Ich lächle sie breit an. »Gut gemacht, Samantha.«

Während sie davonhüpft, werde ich von Verzweiflung ergriffen. Ich muss David wiedersehen, und diesmal wird es noch schlimmer als zuvor. Viel, viel schlimmer, denn inzwischen weiß ich, was ich weggeworfen habe, als ich gegangen bin.

Drei Engel gegen Charlie
titlepage.xhtml
cover.html
978-3-641-08600-8.html
978-3-641-08600-8-1.html
978-3-641-08600-8-2.html
978-3-641-08600-8-3.html
978-3-641-08600-8-4.html
978-3-641-08600-8-5.html
978-3-641-08600-8-6.html
978-3-641-08600-8-7.html
978-3-641-08600-8-8.html
978-3-641-08600-8-9.html
978-3-641-08600-8-10.html
978-3-641-08600-8-11.html
978-3-641-08600-8-12.html
978-3-641-08600-8-13.html
978-3-641-08600-8-14.html
978-3-641-08600-8-15.html
978-3-641-08600-8-16.html
978-3-641-08600-8-17.html
978-3-641-08600-8-18.html
978-3-641-08600-8-19.html
978-3-641-08600-8-20.html
978-3-641-08600-8-21.html
978-3-641-08600-8-22.html
978-3-641-08600-8-23.html
978-3-641-08600-8-24.html
978-3-641-08600-8-25.html
978-3-641-08600-8-26.html
978-3-641-08600-8-27.html
978-3-641-08600-8-28.html
978-3-641-08600-8-29.html
978-3-641-08600-8-30.html
978-3-641-08600-8-31.html
978-3-641-08600-8-32.html
978-3-641-08600-8-33.html
978-3-641-08600-8-34.html
978-3-641-08600-8-35.html
978-3-641-08600-8-36.html
978-3-641-08600-8-37.html
978-3-641-08600-8-38.html
978-3-641-08600-8-39.html
978-3-641-08600-8-40.html
978-3-641-08600-8-41.html
978-3-641-08600-8-42.html
978-3-641-08600-8-43.html
978-3-641-08600-8-44.html
978-3-641-08600-8-45.html
978-3-641-08600-8-46.html
978-3-641-08600-8-47.html
978-3-641-08600-8-48.html
978-3-641-08600-8-49.html
978-3-641-08600-8-50.html
978-3-641-08600-8-51.html
978-3-641-08600-8-52.html
978-3-641-08600-8-53.html
978-3-641-08600-8-54.html
978-3-641-08600-8-55.html
978-3-641-08600-8-56.html
978-3-641-08600-8-57.html
978-3-641-08600-8-58.html
978-3-641-08600-8-59.html
978-3-641-08600-8-60.html
978-3-641-08600-8-61.html
978-3-641-08600-8-62.html
978-3-641-08600-8-63.html
978-3-641-08600-8-64.html
978-3-641-08600-8-65.html