Molly
»Oh mein Gott, er will zurückkommen? Was tust du denn jetzt?«, zischt Tanya ins Telefon.
Ich habe Tanya kurz von Charlies Brief erzählt. Außerdem habe ich ihr erklärt, dass ich bei einem Fototermin und von Menschen umgeben bin, weshalb ich nicht jedes drastische Detail in Technicolor schildern kann, so gerne sie das auch möchte. Ich hätte mit meiner Eröffnung warten sollen, bis ich die Möglichkeit habe, frei zu reden. Aber als ich den Anruf annahm, erkannte sie an meiner Stimme, dass etwas geschehen war, weshalb die Wahrheit auf den Tisch musste. Ich bin ihr aus dem Weg gegangen – was nicht schwierig war, denn sie ist geschäftlich in New York –, und so hatte sie bereits Verdacht geschöpft.
»Ich weiß es nicht«, erwidere ich zögernd und mit leiser Stimme. »Ich muss darüber nachdenken.«
Wenn ich ehrlich bin, habe ich nichts anderes getan, als über dieses ganze Chaos nachzudenken, seit ich Charlies Brief bekommen habe. Doch ich bin noch immer ratlos. Inzwischen wächst meine Überzeugung, dass es zwischen uns nie geklappt hat, kann mich aber nicht entscheiden, ob wir versuchen sollten, unsere Beziehung zu retten oder nicht. Ich weiß nur, dass die Zeit knapp wird. Charlie wartet auf meine Antwort, und wenn er nicht bald von mir hört, wird er eines Tages auf der Matte stehen und sie einfordern.
»Hast du über unser Gespräch nachgedacht? Charlie … und eine andere Frau?«
Ich höre, wie sie sich räuspert, als sie mich das fragt. Offenbar macht es sie verlegen, es noch einmal zu erwähnen, aber sie fühlt sich dazu verpflichtet. Anscheinend will sie mich beschützen wie damals, als wir noch klein waren, wenn ein anderes Kind mich auf dem Spielplatz geärgert hat.
»Nicht wirklich. Ich hatte keine Zeit. Im Büro ist die Hölle los.«
Das ist gelogen. Ich bin zwar nicht sicher, ob eine dritte Person im Spiel ist, doch je länger ich es mir überlege, desto wahrscheinlicher kommt es mir vor. Am meisten Sorge bereitet es mir, dass ich bei der Vorstellung, Charlie könnte in den Armen einer anderen Frau liegen, nicht von Eifersucht zerfressen werde. Und das kann doch nicht normal sein.
»Nun, du solltest nichts überstürzen. Denk gründlich nach.« Ihr Tonfall ist besorgt.
»Gut, versprochen«, erwidere ich. »Jetzt muss ich aber Schluss machen – die Aufnahmen fangen gleich an.«
»Um wen geht es denn?«, erkundigt sie sich, und ich spiele mit dem Gedanken, ihr zu verraten, dass es David ist, dass ich einen Artikel über ihn für Sie schreibe und dass wir heute ein Studio gemietet haben, um Fotos für die Zeitschrift zu machen. Doch ich bringe es nicht über mich. Tanya hat David vergöttert, und ich weiß, sie wäre insgeheim begeistert, wenn sie wüsste, dass wir einander wieder begegnet sind. Wie kann ich ihr sagen, dass er mich inzwischen hasst? Dass ihn der Boden anekelt, den meine Füße berührt haben? Sie wäre entsetzt. Außerdem würde ich sie dann gar nicht mehr dazu kriegen, das Telefonat zu beenden.
»Niemand, den du kennst«, lüge ich. »Ich muss jetzt los, er ist da.«
Der letzte Satz stimmt. David ist gerade im Studio eingetroffen. Er hat mich noch nicht bemerkt, weil ich mich hinter einer Säule hinten im Raum versteckt habe, als Tanya anrief, um einigermaßen ungestört mit ihr reden zu können. Rasch klappe ich das Telefon zu, bevor Tanya weitere unangenehme Fragen stellen kann, und verharre an meinem Platz, froh, dass ich eine Minute Zeit habe, um mich zu fassen, bevor ich ihn begrüße. Ich schlüpfe rechts hinter der Säule hervor und spähe hinaus, um einen Blick auf ihn zu erhaschen. Es verschlägt mir den Atem. Er sieht hinreißend aus. Seine Wangen sind leicht gerötet, und er ist ein wenig außer Atem. Offenbar ist er die Treppe hinaufgelaufen. Er fährt nie mit dem Aufzug, sondern hat immer darauf bestanden, zwei Stufen auf einmal nehmend nach oben zu rennen.
»Komm schon, Molly!«, rief er dann, wenn ich murrte, dass Gott keine Aufzüge erschaffen hätte, wenn er wollte, dass wir Treppen steigen. »Sei nicht so ein Faulpelz.«
Dann packte er mich an der Hand und schleppte mich so viele Stockwerke hinauf, wie ich es schaffte. Oft tat ich so, als hätte ich Seitenstechen, worauf er mich über die Schulter warf und mich den restlichen Weg trug. Er war so stark, und wenn er mich mühelos schulterte, fühlte ich mich wie ein federleichtes, zierliches Mädchen, nicht wie die kräftig gebaute Frau, die ich in Wirklichkeit war. Bei ihm kam ich mir immer sicher und geborgen vor. Das gehörte zu den Dingen, die ich am meisten an ihm liebte. Ich wusste, dass er mich beschützen würde, koste es, was es wolle.
Jetzt beobachte ich, wie er aus dem Mantel schlüpft und sich mit den Händen durchs Haar fährt. Auf seinem Gesicht malt sich ein leicht finsterer Ausdruck ab. Ich merke ihm an, dass er nervös ist. Er hasst es, fotografiert zu werden. Sicher hat ihm vor dem heutigen Termin gegraut. Mich wundert, dass er überhaupt einverstanden war. Plötzlich habe ich das verrückte Bedürfnis, durch den Raum zu stürmen, mich in seine Arme zu werfen und ihm zu versichern, dass alles gut wird und dass ich auch dafür sorgen werde. Ich werde es ihm so leicht wie möglich machen. Die Ananas aus dem Obstkorb habe ich bereits beseitigt, weil ich weiß, dass er dagegen allergisch ist. Wenn ich ihn mir jetzt so anschaue, kostet es mich alle Selbstbeherrschung, ihm nicht um den Hals zu fallen und ihm zu schwören, ihn vor allen Gefahren zu beschützen, die ihm drohen könnten, ganz gleich, was es auch sein mag. Doch das geht nicht, denn dann wird er mich betrachten, als wäre ich das jämmerlichste Geschöpf auf Gottes Erdboden – genau wie während des schrecklichen Interviews in der Hotelhalle.
»Was machst du denn da hinten, du Dummerchen?« Samantha ist in ihrem Element. Den ganzen Weg hierher hat sie geredet wie ein Wasserfall. Seltsamerweise hatte es eine beruhigende Wirkung, ihr zuzuhören.
»Nichts«, murmle ich in der Hoffnung, dass sie nicht bemerkt hat, wie ich ihn anschwärme.
»Hier, nimm meine Brille«, sagt sie und hält mir mit einem freundlichen Lächeln ihre riesige Sonnenbrille hin. »Damit du mit David reden kannst, ohne dass er die Krise kriegt.«
Ich halte kurz inne, bevor ich die Brille aufsetze. Soweit Samantha im Bilde ist, kann David niemanden in die Augen schauen, sonst erleidet er einen Anfall. Außerdem habe ich bei unserer letzten Begegnung behauptet, ich wäre lichtempfindlich. Wenn ich die Brille heute also nicht trage, wird er wissen, dass ich ihn angelogen habe. Das darf auf gar keinen Fall passieren. Ich muss weiter Theater spielen, damit er die Wahrheit nie erfährt – nämlich, dass ich die Brille nur aufhatte, damit er mein verhärmtes Gesicht nicht sieht.
»Okay, wir machen es kurz und schmerzlos«, reißt mich die Stimme des Fotografen aus meinen Gedanken. »Da Sie ein attraktiver Mann sind, David, dürfte es nicht weiter schwierig werden. Was für ein Bild wollen wir vermitteln?«
Der Fotograf dreht sich nach mir um. Ich soll ihm erklären, welches Image sich für die Seiten unserer Zeitschrift eignet. Das hätte ich lange vor Davids Ankunft erledigen sollen. Jetzt muss ich es in seiner Gegenwart tun. Ich spüre, wie meine Wangen vor Verlegenheit glühen, als ich mich zwinge, hinter der Säule hervorzukommen.
»Ach, da ist sie ja!«, höhnt der Fotograf. »Die Frau, die alle Antworten parat hat.«
Als David aufblickt, bemerke ich, wie kurz ein erschrockener Ausdruck über sein Gesicht huscht, den er jedoch rasch verbirgt. Er hat heute nicht mit meiner Anwesenheit gerechnet, so viel steht fest.
»Also, worauf soll ich achten?«, hakt der Fotograf nach und neigt fragend den Kopf. Ich merke ihm an, dass er ungeduldig ist. Wahrscheinlich hat er heute noch einen anderen Auftrag zu erledigen und möchte es so rasch wie möglich hinter sich bringen.
»Äh …«, stottere ich, während ich überlege, was ich sagen soll. Mir fällt nichts ein. Obwohl ich weiß, dass ich wie eine unfähige Idiotin dastehe, weiß ich beim besten Willen nicht, was ich erwidern soll. Dabei habe ich solche Fototermine schon unzählige Male abgewickelt und kenne das Geschäft. Warum also hat es mir plötzlich die Sprache verschlagen?
Der Fotograf starrt mich an. Er gilt als aufbrausender Zeitgenosse, der wenig Geduld mit den Schwächen seiner Mitmenschen hat. Ich kann fast sehen, wie er vor Zorn vibriert. Wenn ich nicht bald eine zündende Idee habe, geht er in die Luft.
»Grüblerisch!«, schlägt Samantha, die hinter mir steht, selbstbewusst vor, als ich weiter schweige. »Grüblerisch und sexy, um genau zu sein. Das ist es, was wir wollen.«
Ich lächle der strahlenden Samantha dankbar zu.
Der Fotograf weist mit dem Kopf auf uns, als wisse er genau, was wir meinen.
»Okay, dann also grüblerisch und sexy. Verstanden. Sollte kein Problem sein.«
Ich sehe David an. Er unterhält sich gerade freundlich mit dem Assistenten des Fotografen, der ihn in die optimale Position vor den Scheinwerfern dirigiert. Sein schiefes Lächeln bricht mir das Herz. Ich ringe um Fassung.
»David, sexy und grüblerisch kriegen Sie doch hin, oder?«
»Ich versuche es«, erwidert er leise und starrt geradeaus.
»Spitze!«, sagt der Fotograf. »Also los.«
Der Assistent korrigiert noch etwas an der Studiobeleuchtung, und wenige Sekunden später fängt der Fotograf an zu knipsen und ruft David dabei Anweisungen zu.
»Gut, das ist klasse so. Heben Sie das Kinn. Nicht ganz so hoch. Super!«
David schaut mit undurchdringlicher Miene ins Objektiv.
Der Fotograf hält inne.
»Ich brauche mehr. Sie müssen ein schwermütiges Gesicht machen. Stellen Sie sich ein trauriges Ereignis in Ihrem Leben vor und drücken Sie es mit den Augen aus.«
»Traurig?«, wiederholt David.
»Ja! Traurig! Sie sind niedergeschlagen. Jemand hat Ihnen das Herz gebrochen. Die Liebe Ihres Lebens hat Sie verlassen, und Ihr Leben ist ein Scherbenhaufen. Das müssen Sie fühlen! Ich will, dass Sie mir das zeigen!«
Wie in Zeitlupe dreht David sich um und sieht mich unverwandt an. Ich spüre, wie meine Hände zu zittern anfangen. Sein Blick durchbohrt mich. Inzwischen bebe ich am ganzen Körper. Diesen Gesichtsausdruck kenne ich. Es ist genau derselbe wie damals, als ich ihm gesagt habe, dass ich ihn nicht mehr liebe. Dass ich weg wollte, und zwar ohne ihn. Seine Miene ist wie an diesem Tag. Todtraurig.
Ich durchlebe noch einmal den Moment, in dem ich mich umgedreht habe und einfach gegangen bin. Und jetzt bin ich sicher, dass er mir das nie verzeihen wird.
»Das ist es. Perfekt!« Ich höre, wie der Fotograf knipst und Anweisungen gibt. Und ehe ich Zeit zum Nachdenken habe, stürme ich aus dem Studio. Beim Laufen reiße ich mir die Sonnenbrille von der Nase und werfe sie auf den Boden. Tränen rinnen mir über die Wangen, und ich bekomme kaum noch Luft.
Samantha ruft meinen Namen, doch ich bleibe nicht stehen. Ich möchte immer so weiterrennen. Nach Atem ringend haste ich die Treppe hinunter und durch die Eingangstür hinaus. Wenn ich erst auf der Straße bin, kann ich bestimmt wieder richtig durchatmen. Tränenblind dränge ich mich durch die Menschenmassen auf dem Gehweg. Ich kann nur daran denken, dass ich verschwinden muss, und es kümmert mich nicht, wer mir den Weg versperrt. Plötzlich stoße ich frontal mit jemandem zusammen, der mir nicht Platz macht. Als ich erst nach rechts, dann nach links ausweiche, um an der Person vorbeizukommen, verharrt sie reglos vor mir und rührt sich nicht von der Stelle.
Durch einen Tränenschleier erkenne ich die verschwommenen Umrisse eines bunten Gegenstandes auf dem Kopf der Person. Offenbar ein Turban.
»Was soll die Scheiße?«, fragt die Person, und schlagartig wird mir klar, wen ich vor mir habe. Es ist Carla Ryan, die Königin des Liebesromans.
Eine Stunde später sitzen Carla und ich in einem Weinlokal in einer ruhigen Ecke beim zweiten Glas Rotwein.
»Heißt das, dass dich dein Mann sofort nach den Flitterwochen sitzen gelassen hat?«
»Ja.« Ich nicke. »Genau das heißt es.«
Die Situation hat etwas Unwirkliches. Ich schütte einer Frau, der ich zuvor nur einmal begegnet bin, mein Herz aus, und aus irgendeinem Grund scheint es die normalste Sache der Welt zu sein.
»Das ist ja verrückt. Hält der sich für einen der dämlichen Helden aus einem Liebesroman?« Als Carla mir über den Tisch hinweg zulächelt, kann ich nicht anders, als die Geste zu erwidern.
Offenbar liest sie die Kritiken ihrer Bücher: Ihren Romanen wird häufig vorgeworfen, die Figuren seien überzeichnet und die Handlung an den Haaren herbeigezogen – selbst ihre PR-Beauftragte findet das.
»Und was hast du jetzt vor?«, erkundigt sie sich und füllt aus der Flasche, die wir bestellt haben, mein Glas nach.
Ich spiele daran herum.
»Ich weiß nicht.«
»Wenn du deinen Kopf anstrengst, ist es eigentlich ganz einfach.«
»Wirklich?« Ich verstehe die Welt nicht mehr. Wie kann sie dieses Chaos als einfach bezeichnen?
»Natürlich. Liebst du deinen abgängigen Ehemann denn?«
Ich überlege.
»Ich bin nicht sicher«, erwidere ich.
»Du bist nicht sicher?« Sie zieht ihre buschigen Augenbrauen hoch. Sie sollte sie dringend zupfen lassen oder es mit der indischen Methode des Augenbrauenmodellierens versuchen – die soll Wunder wirken.
»Ich dachte es wenigstens«, sage ich schließlich. Allerdings klingt das nicht einmal in meinen Ohren überzeugend.
»Was soll das bedeuten?« Als Carla die Ellbogen auf den Tisch stützt und sich vorbeugt, wirft sie beinahe die Weinflasche um.
»Tja, er wollte mich unbedingt heiraten«, antworte ich in zweifelndem Ton. »Das heißt doch, dass wir verliebt waren, oder?«
»Die Menschen heiraten aus den verschiedensten Gründen.«
Ich gehe nicht darauf ein, denn diese Möglichkeit will ich gar nicht in Erwägung ziehen.
»Er war von mir hingerissen«, füge ich hinzu. »Er hat sich richtig ins Zeug gelegt, weißt du? Mir den Hof gemacht wie in einem Liebesroman.«
»Und er hat dich überredet, ihn zu heiraten.«
»Ja. Ich war so überwältigt, dass ich mich gar nicht mit meinen eigenen Gefühlen beschäftigt habe. Ich habe mich einfach treiben lassen …«
Als ich das ausspreche, wird mir klar, dass es stimmt. Die Romantik und die großen Gesten haben mir so den Kopf verdreht, dass ich mir nicht die Zeit genommen habe, in mich hineinzuhorchen. Mein Magen krampft sich zusammen.
»Glaubst du, dass eine andere Frau im Spiel ist?«, fragt Carla.
»Keine Ahnung«, antworte ich. Mir fallen Tanyas und Als Bemerkungen ein, eine Affäre sei die plausibelste Erklärung für Charlies Verschwinden.
»Wie würdest du dich fühlen, wenn da eine andere wäre?«
Ich stelle mir vor, wie Charlie mit einer anderen Frau zusammen ist, sie küsst und mit ihr schläft. Wenn ich ihn wirklich lieben würde, wäre das doch sicher ein schwerer Schlag für mich. Doch ich empfinde nichts, und das kann einfach nicht richtig sein.
Carla kratzt sich am Turban und dreht ihn mit finsterer Miene herum.
»Hättest du was dagegen, wenn ich dieses verdammte Ding abnehme?«, erkundigt sie sich, und ehe ich etwas erwidern kann, reißt sie ihn sich vom Kopf, und eine glänzende kastanienbraune Mähne fällt ihr über die Schultern.
Ich schnappe nach Luft. Sie hat wunderschöne Haare. Ich begreife beim besten Willen nicht, warum sie sie unter dieser scheußlichen Polyesterhaube versteckt.
»Ich liebe meine kleinen Geheimnisse.« Sie schmunzelt, als sie meinen Gesichtsausdruck bemerkt. »Mir ist bekannt, wie die Leute über mich reden – dass ich eine graue Maus und ein hoffnungsloser Fall bin. Diese Seite an mir kriegt außer mir niemand zu sehen, und so soll es auch bleiben. Nun, niemand außer mir und meinen Liebhabern natürlich!« Sie lacht kehlig. »Noreen Brady, diese Zicke, wird es dieses Jahr schwer haben, auf den ersten Platz der Bestsellerliste zu kommen. Sie hält sich mit ihrer blondierten Föhnfrisur und den falschen Titten für die Schönste, aber ich kann auch etwas hermachen.«
Ich lächle ihr über den Tisch hinweg zu. Wenn ihr Verlag nur wüsste, wie sie wirklich aussieht, würde er es sich vermutlich anders überlegen und ihr Foto auf die Bucheinbände drucken.
»Bei unserer ersten Begegnung hast du mir erzählt, du hättest deinen Seelenverwandten gefunden. War das Charlie?«
»Nein«, sage ich nach einer Weile, und da weiß ich, dass es wahr ist.
»Wenn Charlie nicht dein Seelenverwandter ist, wer dann?«
Wieder drehe ich mein Glas hin und her, antworte aber nicht. Ich habe eine Todesangst davor, es laut auszusprechen. Denn das hieße, es mir selbst einzugestehen, und so weit bin ich noch nicht.
Carla mustert mich und lächelt dann breit. »Darf ich dich etwas fragen? Wenn das hier ein Roman von Carla Ryan wäre, und du wärst die Autorin, was wäre dein Happy End?«
Ein Szenario steht mir vor Augen, doch ich schiebe es rasch beiseite. Es ist zwecklos, auch nur daran zu denken, denn ich lebe nicht in einem Liebesroman, wo wie von Zauberhand ein Happy End aus dem Nichts erscheint. Das hier ist das wirkliche Leben. Und das wirkliche Leben ist weitaus komplizierter.
»Ich habe den Auftrag, einen Artikel darüber zu schreiben, warum ich geheiratet habe«, wechsle ich das Thema.
»Und weiter?«
»Das Problem ist, dass ich mich nicht daran erinnern kann. Findest du das nicht seltsam?«
»Wie ich schon sagte, heiraten die Menschen aus den verschiedensten Gründen«, entgegnet sie. »In meinem ersten Roman hat die Heldin einen Mann, den sie nicht liebte, des Geldes wegen geheiratet.«
»Ich habe Charlie nicht aus finanziellen Gründen geheiratet, so viel steht fest.«
»Warum dann?«, hakt sie leise nach.
»Weil ich einen anderen vergessen wollte.« Das ist mir unwillkürlich herausgerutscht.
»Deinen wahren Seelenverwandten?«
»Ja.« Eine Träne läuft mir die Wange hinunter. Ich fasse es nicht, dass ich vor einer wildfremden Frau meine Seele entblöße, habe aber das Gefühl, es ist gut so.
»Jeder macht Fehler, Molly«, meint Carla und greift nach meiner Hand. »Es ist nie zu spät, noch einmal von vorne anzufangen.«
Ich schweige, doch ich weiß, dass es für mich zu spät ist. David hasst mich inzwischen, und ich kann die Zeit nicht zurückdrehen. Alles ist nur meine Schuld. Mums und Dads Tod. Meine und Davids Trennung. Selbst Charlies Verschwinden. Ich hätte seinen Heiratsantrag nie annehmen dürfen. Es war ein Fehler – ein folgenschwerer Fehler.
»Danke für den Wein, Carla«, sage ich, schiebe das Glas weg und stehe auf. Ich muss gehen. »Du hast mir wirklich geholfen.«
»Kein Problem.« Carla lächelt. »Wirst du irgendwo erwartet?«
»Ja«, antworte ich. »Ich muss etwas erledigen.« Dann umarme ich sie und verlasse das Lokal. Plötzlich weiß ich, was ich tun muss.