Molly
»Sind Sie sicher, dass es Ihnen nicht zu viele Umstände macht, mir dabei zu helfen?«, fragt Lee und schenkt uns ein strahlendes Lächeln, das Schokolade innerhalb von wenigen Sekunden zum Schmelzen bringen würde. »Das gehört ja nicht unbedingt zu Ihren Aufgaben.«
Samantha und ich sind mit Lee Merkel, der PR-Beauftragten von Carla Ryan, der Königin des Frauenromans, in einer Buchhandlung in der Innenstadt und arbeiten an unserem Zeitschriftenartikel »Ein Tag im Leben von …«.
»Natürlich nicht«, flötet Samantha, fördert begeistert weitere Exemplare von Carlas Büchern aus verschiedenen Kartons zutage und staubt sie ab.
Ich verziehe das Gesicht. Sie wäre ja erträglich, wenn sie nicht immer so fröhlich wäre.
»Wir helfen gern«, erwidere ich und versuche, beim Lächeln nicht zu viele Zähne zu zeigen. Ich muss sie wirklich bald mal bleichen lassen. Lees Zähne leuchten beinahe, so makellos schneeweiß sind sie. In ihrer Gesellschaft wird mir schmerzlich bewusst, wie fleckig meine von dem vielen Kaffee und Rotwein geworden sind.
Wenn ich Zähne hätte wie Lee, hätte Charlie mich vielleicht nicht verlassen. Dieser Gedanke schießt mir plötzlich durch den Kopf. Wenn ich jeden Tag Zahnseide und eine Zahnweiß-Pasta verwendet hätte, wäre er vielleicht noch zu Hause, und wir wären glücklich. Womöglich sind auch nicht meine Zähne das Problem. Ich könnte ja zusätzlich noch an Mundgeruch leiden. Ob mein Atem stinkt, ohne dass mich je ein Mensch darauf angesprochen hat?
Versuche, mich zu erinnern, ob andere Leute in meiner Gegenwart gewürgt oder mich sogar gemieden haben, halte mir diskret die Hand vor den Mund, hüstle und schnuppere. Ich kann nichts riechen, doch das hat nichts zu bedeuten. Wer Mundgeruch hat, bemerkt es selbst nie. Erst wenn sich jemand ein Herz fasst und es ihm sagt.
Wir sind wegen Carla Ryans Lesung hier. Sie will einen Auszug aus ihrem Buch vortragen und dann Bücher für die Massen ihrer Anhängerinnen signieren, die bereits vor dem Laden Schlange stehen, um ihre Heldin leibhaftig kennenzulernen. Da Carla schon seit einigen Jahren keine Lesung mehr hatte, herrscht höchste Aufregung. Lee hat recht: Samantha und ich müssten eigentlich nicht helfen, sondern nur schriftlich festhalten, dass Carla einfach phantastisch ist, dass Ruhm und Wohlstand sie überhaupt nicht verändert haben, und so weiter und so fort. Aber Lee ist allein hier, und ich hoffe, sie auf diese Weise bei ihr beliebt machen zu können, damit sie uns in Zukunft weitere Exklusivinterviews mit ihren Autoren zuschanzt. Sie hat die beste Autorenliste in der Stadt. Schließlich brauchen wir nichts weiter zu tun, als die Bücher auszupacken und sie ordentlich neben einem Tisch zu stapeln, an dem Carla sitzen wird, um sie zu signieren. Die Arbeit ist beruhigend. Und außerdem bin ich so wenigstens beschäftigt. Was heißt, dass ich keine Zeit habe, an Charlie zu denken. Und auch nicht daran, dass er sich noch immer nicht mit mir in Verbindung gesetzt hat, obwohl bald sein Geburtstag ist. Ich habe keine Ahnung, bei wem er ist und wie er den Tag feiern wird, was mich sehr beunruhigt. Doch wenn ich Lee helfe, kann ich wenigstens nicht darüber nachgrübeln. Auch nicht über David, das verpatzte Interview und die Tatsache, dass er mich jetzt offenbar mit jeder Faser seines Herzens hasst. Wenn ich mich richtig ins Zeug lege, bin ich voll und ganz abgelenkt. Nun, zumindest den Großteil der Zeit. Falls ich mich nicht gerade wegen vergilbter Zähne, Zahnfleischschwunds und Mundgeruchs zermürbe.
»Worum geht es denn in Carlas neuem Buch?«, erkundigt sich Samantha bei Lee und schwenkt Carlas Erotikschmachtfetzen Der Liebe eine zweite Chance.
»Ach, Sie wissen schon, das Übliche – viel Dramatik und scharfer Sex. Das altbewährte Rezept.«
Lee verzieht das Gesicht und wuchtet weitere Bücher aus den Kartons. Draußen warten Horden von Carlas Leserinnen, um sie zu treffen und ein signiertes Exemplar in die Finger zu bekommen. Also müssen wir dafür sorgen, dass auch jede ein Buch abkriegt.
Ich drehe das Buch um und lese den Klappentext:
Riley Hunt und Morgan Marshall waren ein Paar, bis das Schicksal sie auseinanderriss und sie für immer trennte. Tief enttäuscht schwört sich Riley, nie wieder zu lieben. Doch dann tritt der Draufgänger Michael Cox in ihr Leben. Wird Riley endlich das Glück finden und Morgan vergessen?
»Mögen Sie Carla?«, frage ich, betrachte den Einband und überlege, warum wohl alle Frauenromane gleich aussehen. Etwas in Lees Tonfall lässt mich nämlich daran zweifeln, dass sie ein Fan von Carla ist.
»Aber klar«, entgegnet sie zögernd. »Schließlich ist sie Bestseller-Autorin. Embassy Publishing verdient ein Vermögen an ihren Büchern. Doch offen gestanden finde ich ihre Romanhandlungen manchmal ein wenig an den Haaren herbeigezogen. Ich meine, immer gibt es ein Happy End. Wer glaubt heutzutage noch so etwas? Ich verstehe nicht, warum so viele Frauen auf diesen romantischen Kitsch hereinfallen. Es ist unrealistisch.«
Lee klingt genauso wie Penny in der Redaktion von Sie.
»Tja, ihre Leserinnen lieben sie«, erwidere ich mit einem Lächeln.
»Ja, das steht fest. Wahrscheinlich sehnen wir uns insgeheim alle nach Romantik. Die Frauen verschlingen jedenfalls ihre Romane. Wenn wir Carla nur dazu bringen könnten, einer Ghostwriterin zuzustimmen, würden wir im Geld ersticken. Die Bücher gehen so schnell weg, dass sie mit dem Schreiben gar nicht mehr nachkommt.«
»Ich weiß kaum etwas über sie«, sagt Samantha und stapelt weitere Bücher auf dem Boden neben dem Signiertisch auf. »Sie lebt sehr zurückgezogen, richtig?«
»Ja, das gehört zu ihrem Image. Sie spielt gerne die Geheimnisvolle.« Lee verdreht die Augen. »Die Frau ist ziemlich schwierig. Normalerweise gibt sie keine Interviews – Sie haben wirklich Glück, dass sie einverstanden war. Seit ihre Sekretärin vor ein paar Jahren private Details an ein paar Boulevardblätter ausgeplaudert hat, ist sie in Sachen Presse paranoid.«
»Ich weiß«, antworte ich und klopfe mir im Geiste auf den Rücken. »Charlie sagt, dass sie die Medien normalerweise meidet.«
Der Satz ist mir einfach so herausgerutscht. Warum sage ich so etwas? Weshalb erwähne ich meinen verschollenen Ehemann? Ich könnte mich ohrfeigen. Hoffentlich erkundigt sich Lee jetzt nicht nach ihm.
»Wer ist Charlie?«, fragt Lee wie aufs Stichwort.
»Charlie ist Mollys wundervoller Ehemann.« Samantha versetzt mir einen freundschaftlichen Rippenstoß. »Molly ist nämlich frisch verheiratet, was beweist, dass die Romantik noch nicht ausgestorben ist, richtig?«
»Richtig«, stimme ich ihr zu und wünschte, der Erdboden würde sich auftun, um mich zu verschlingen.
»Und Ihr Mann kennt Carla?«, hakt Lee nach.
»Äh … ich glaube, er ist ihr einmal begegnet. Er arbeitet in der Branche«, nuschle ich, in der Hoffnung, rasch das Thema wechseln zu können.
»Moment mal … Sie meinen doch nicht etwa Charlie Adler, oder?«, will Lee wissen. »Ich habe gehört, dass er kürzlich geheiratet hat.«
»Das ist er«, bestätige ich mit meinem besten zuversichtlichen Lächeln.
»Wow … herzlichen Glückwunsch.«
Ich glaube, kurz einen merkwürdigen Ausdruck auf Lees Gesicht zu bemerken, bin aber nicht sicher, warum.
Was, wenn ihr zu Ohren gekommen ist, dass Charlie mich verlassen hat? Was, wenn sie alles weiß? Da sie beide als PR-Fachleute für die Verlagsbranche tätig sind, liegt das durchaus im Bereich des Möglichen. Was, wenn die ganze Branche informiert ist? Ich würde sterben. Meine Wangen fangen an zu glühen.
»Und was hält Charlie von Carla Ryan?«, fragt Samantha.
Lee und Samantha sehen mich erwartungsvoll an.
»Ich kann mich nicht so genau erinnern«, erwidere ich ausweichend. Wenn Samantha noch einmal Charlies Namen ausspricht, werde ich ihr eins mit Carlas neuem Buch überziehen. Bin sicher, dass mir die Verlegenheit ins Gesicht geschrieben steht. »Ich glaube, er hat sie als sehr zurückhaltend beschrieben. Als einen Menschen, der nicht viel über sich preisgibt.«
»Ja, das klingt richtig«, meint Lee. »Allerdings denke ich trotzdem, dass sie die Geheimnisvolle nur spielt. Aber bei einem Gesicht wie ihrem ist es das Beste für uns, sie aus der Presse herauszuhalten. Sie ahnt das natürlich nicht.«
Samantha stolpert bei ihrem Versuch, ja keines von Lees Worten zu verpassen, beinahe über einen Bücherstapel.
»Was soll das heißen?«, erkundigt sie sich.
»Nun.« Lee schaut sich um. Sie flüstert, obwohl nur wir drei hier sind. »Wahrscheinlich sollte ich das nicht sagen, aber ist Ihnen aufgefallen, dass auf den Bucheinbänden nie ein Foto von ihr ist?«
»Stimmt«, erwidert Samantha und dreht das Buch auf der Suche nach einem Autorenfoto hin und her.
»Dafür gibt es einen einfachen Grund.« Lee beugt sich vor. »Sie reißt einen nicht unbedingt vom Hocker.«
»Wirklich?«, wundert sich Samantha. »Auf diesen Gedanken wäre ich nie gekommen. Ich habe immer angenommen, sie sei glamourös und sexy wie ihre Heldinnen.«
»Weit gefehlt. Sie schreibt zwar über wunderschöne Frauen, ist aber selbst ziemlich unscheinbar. Deshalb machen wir das Theater zum Schutz ihrer Privatsphäre nur zu gerne mit. Sie glaubt, dass wir ihre Grenzen achten. Doch in Wahrheit ist diese Strategie für uns sehr hilfreich. Wenn ihr Gesicht zu häufig in der Öffentlichkeit gesehen wird, könnte die Nachfrage nach ihren Büchern sinken. Es könnte den Verkaufszahlen wirklich schaden.«
Ich wusste schon immer, dass die Verlage lieber junge und gut aussehende Autoren fördern, doch als Lee das so offen zugibt, wird mir klar, wie deprimierend das alles ist. Carla mag die Königin der Liebesromane sein, wird es aber nie auf die Titelseite einer Zeitschrift schaffen. Das ist wirklich ausgesprochen unfair.
»Die arme Carla«, sagt Samantha mit bedrückter Miene.
»Ja. Die Leserschaft will sie sich als Sexbombe vorstellen, die im Negligé schreibt«, fährt Lee fort. »In Wirklichkeit ist sie aber eine Frau mittleren Alters, die dringend etwas gegen ihren Damenbart tun sollte.«
»Und wenn die Fans das wüssten, würden sie ihr das sexy Image nicht abkaufen?«, fragt Samantha.
»Richtig«, gibt Lee zu. »Die Branche ist nichts weiter als ein Spiegelkabinett. Dass sie ihr Privatleben nicht publik machen will, hat deshalb bis jetzt für uns gut geklappt. Doch nun hat sie beschlossen, öfter an die Öffentlichkeit zu gehen.«
»War sie deshalb mit dem Artikel in Sie einverstanden?«, erkundige ich mich.
»Genau. Außerdem hat sie auch auf dieser Signierstunde beharrt. Ihre Erzrivalin Noreen Brady hat sie letztes Jahr nämlich in Sachen Verkaufszahlen überflügelt. Carla ist dahintergekommen, dass das an Noreens weitaus stärkerer Medienpräsenz liegt, und sie will sie zur Strecke bringen. Das ist natürlich alles inoffiziell.« Lee seufzt.
Ich denke an Noreen Brady, auch eine Autorin, die dasselbe Genre vertritt. Nur, dass Noreen eine üppig ausgestattete Blondine ist und sich gern zur Schau stellt – was ihrem Profil sicherlich nicht geschadet hat. Kein Wunder, dass Carla nun den Einsatz in Sachen Publicity erhöhen will. Ein brodelnder Zickenkrieg zwischen den beiden bekanntesten Autorinnen von Liebesromanen des Landes klingt spannend. Das könnte ein toller Aufhänger werden. Vielleicht bringe ich Lee ja dazu, mir mehr zu verraten. Minty wäre begeistert, wenn ich diesen Aspekt in meinem Artikel erwähne.
»Sind Sie sicher, dass Sie diese Kartons tragen können, Molly?«, erkundigt sich Lee.
»Kein Problem.« Ich schleppe den nächsten Karton durch den Raum und fange an, die Bücher auf den Tisch zu packen.
»Das ist toll. Tut mir leid, dass es so viele sind, aber es sind schon Hunderte von Leserinnen hier.« Wieder ein tiefer Seufzer.
»Alles in Ordnung?«, frage ich, während ich weitere Bücher zum Tisch karre und sie in künstlerisch arrangierten Stößen auf dem Boden anordne.
»Klar. Es ist nur, dass diese Signierstunden irgendwann ein bisschen anstrengend werden. Aber dafür können wir heute wenigstens sicher sein, dass hordenweise Leute kommen. Ich habe auch schon erlebt, dass niemand erschienen ist.«
»Wirklich?« Ich bin entsetzt. »Wie schrecklich.«
»Ja, es ist der reinste Horror. Das ist für den Autor ein echter Schlag ins Kontor.«
Ich versuche mir vorzustellen, wie es ist, wenn kein Mensch hören will, wenn man aus seinem neuen Buch liest. Däumchen drehend an einem Tisch zu sitzen und zuzuschauen, wie draußen die Leute vorbeigehen, ist bestimmt entsetzlich demütigend.
»Um wie viel Uhr kommt Carla denn?«, frage ich.
»Jeden Moment. Also sollten wir besser auf die Tube drücken.« Lee lächelt mir zu. Ich nehme mir fest vor, alles für sie zu tun. Ich werde herumflitzen und dafür sorgen, dass Carla immer genug Stifte hat, und den Krug auf dem Tisch mit Eiswasser nachfüllen, damit sie auch ja nicht die Kräfte verlassen. Ich überlege, ob ich einen kleinen Imbiss zur Stärkung besorgen soll, nur für den Fall, dass sie bei ihrer Ankunft Hunger hat. Einen Energieriegel vielleicht oder Nüsse. Doch noch ehe ich mich entscheiden kann, stößt Samantha einen Schrei aus.
»Sie kommt!«
Wenige Sekunden später rauscht eine zierliche, fest in einen riesigen Pashmina gewickelte Frau herein. Lee hat recht. Sie ist kein Ölgemälde. Ihre Augen zieren dicke Tränensäcke, und sie hat den Hauch eines Schnurrbarts auf der Oberlippe. Aus einem großen Muttermal an ihrer linken Wange sprießen weitere Haare. Außerdem trägt sie einen seltsamen Turban aus buntem Polyester, auf dem vorne eine große Brosche prangt, auf dem Kopf. Ein wirklich komisches Ding … obwohl es sicher nützlich ist, wenn die Haare nicht richtig sitzen wollen. Vielleicht sollte ich sie fragen, woher sie ihn hat.
»Carla, Liebes«, flötet Lee und gibt ihr einen Luftkuss. »Du siehst hinreißend aus.«
Lee lügt wie gedruckt. Diese Frau hinreißend zu nennen ist schlechterdings unmöglich. Ich bin nicht einmal sicher, ob man sie, selbst bei günstigen Lichtverhältnissen, als einigermaßen attraktiv beschreiben könnte. Sie ist unscheinbar. Mit einem großen U.
»Hallo, Lee«, erwidert Carla und tätschelt ihren wirklich sehr seltsamen Turban. »Mein Gott, inzwischen ist mir wieder eingefallen, wie ich solchen Mist hasse. Warum war ich jemals einverstanden?«
»Keine Sorge«, meint Lee beruhigend. »Es dauert nicht lange, Ehrenwort.«
Ich schlucke. Das ist wieder eine dicke Lüge. Die Schlange von Frauen (und mindestens einem Mann), die Carla lesen hören und anschließend ihre Bücher signieren lassen wollen, erstreckt sich inzwischen von der Ladentür die Straße entlang. Sie wird stundenlang hier sitzen müssen.
»Und Sie wissen ja, wie die Leserinnen signierte Exemplare lieben«, fährt Lee fort. »Das steigert die Verkaufszahlen.«
Carla verzieht den Mund. »Leserinnen! Die wollen immer mehr und mehr. Nie lassen sie mich in Ruhe. Sie schreiben mir, mailen mir, wollen mich kennenlernen.« Inzwischen ist sie richtig sauer. »Ich hätte zu Hause bleiben sollen!«
»Carla, das ist Molly.«
Lee nimmt mich am Arm und schiebt mich vor Carla, offenbar, um sie abzulenken. »Sie ist von der Zeitschrift Sie und hat uns beim Aufbau geholfen. Ihnen wird das Arrangement sicher gefallen.«
»Hallo.« Ich grinse nervös. »Wie nett, Sie kennenzulernen.«
»Haben Sie Sie gesagt?« Carla beäugt mich von Kopf bis Fuß und hält mir die rechte Hand hin, damit ich sie schüttle.
»Richtig. Die Zeitschrift Sie«, bestätige ich. »Wir freuen uns ja so, dass Sie mit dem heutigen Termin einverstanden waren.«
Ich plappere dummes Zeug, und das weiß ich auch. Allerdings glaube ich, dass ein bisschen Schleimen in dieser Situation angebracht ist. Schließlich hat Lee selbst gesagt, dass sie sehr wartungsintensiv ist.
»Hmmm …« Carlas Augen verengen sich. »Solange Sie kein falsches Bild von mir zeichnen. Ich kenne euch Journalisten. Ihr tut alles für eine Story, vorzugsweise für eine, die nicht stimmt.«
Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass Lee nervös die Hände ringt.
Das ist gar nicht gut. Falls Carla glaubt, dass wir sie nicht in den höchsten Tönen loben werden, könnte sie ihre Zustimmung zu dem Artikel verweigern, und das wäre eine Katastrophe.
»Haben Sie eines meiner Bücher gelesen?«, fragt sie nun und mustert mich mit durchdringendem Blick.
»Natürlich!«, lüge ich. »Ich bin ein großer Fan von Ihnen.«
»Wirklich?« Carla zieht die Augenbrauen hoch. »Wie reizend. Und welches Buch gefällt Ihnen am besten?«
»Am besten?«, wiederhole ich.
Plötzlich wünsche ich, Samantha würde etwas sagen. Warum muss sie ausgerechnet jetzt stumm sein wie ein Fisch? Sie verharrt reglos neben mir und starrt wortlos Carlas Turban an. Ihr Mund steht leicht offen.
»Ja, Ihr Lieblingsbuch. Von meinen Romanen.«
Carla lächelt mich verkniffen an. Ihr Turban schwankt dabei sanft hin und her.
Oh mein Gott, was sage ich bloß? Ich kenne die Titel ihrer Bücher doch gar nicht, mit Ausnahme des letzten.
»Lassen Sie mich überlegen …« Ich spiele auf Zeit und tue so, als ließe ich ihre gesamte Bibliographie Revue passieren, bevor ich meinen Favoriten nenne. »Es sind so viele, dass ich mich gar nicht entscheiden kann.«
Ich schaue Lee an, um ihr zu signalisieren, dass ich nur bluffe und dass sie etwas unternehmen muss, um die Lage zu retten. Aber sie lächelt mir nur aufmunternd zu. Nun stehe ich gleich auch vor ihr wie eine komplette Idiotin da. Nie wieder wird sie mich mitschleppen, wenn ich jetzt einer ihrer besten Autorinnen auf den Schlips trete.
»Ich denke …« Ich betrachte die Poster von Carlas neuem Roman, die überall an den Wänden hängen, und komme zu dem Schluss, dass ich keine andere Wahl habe. »Der Liebe eine zweite Chance. Das ist einfach spitze.«
»Oh, haben Sie es bereits gelesen?« Carla runzelt die Stirn. »Das war aber schnell. Welche Figur mögen Sie denn am liebsten?«
Allmählich bricht mir der Schweiß aus. Zumindest hat Lee Samantha weggeschleppt, um dem Filialleiter zu sagen, dass wir jetzt anfangen können. Also wird sie nicht Zeugin meiner großen Blamage werden.
»Äh … die männliche Hauptfigur war faszinierend«, erwidere ich. »Möchten Sie vielleicht einen Schluck Wasser oder einen Müsliriegel?«
Aber sie lässt sich nicht ablenken.
»Meinen Sie Michael?« Carla sieht mich finster an.
»Ja, Michael.« Ich bin ja so erleichtert, endlich einen Namen ins Spiel bringen zu können, dass ich mich begeistert darauf stürze. »Er ist phantastisch.«
»Ein gewalttätiger Alkoholiker ist phantastisch?« Carlas Blick wird argwöhnisch.
»Äh, ja.« Wie konnte ich mich in so eine Lage manövrieren? »Aber er hat doch auch seine Vielschichtigkeiten, finden Sie nicht?«
Sie schweigt einen Moment. Offenbar lässt sie die Antwort auf sich wirken. Dann beugt sie sich vor. Das war’s. Sie wird mich auffordern zu verschwinden. Der Artikel ist gestorben. Sie will mich nie mehr wiedersehen. Und sie wird Minty anrufen und sie bitten, mich an die frische Luft zu setzen. Ich halte den Atem an.
»Wissen Sie was? Sie sind die Erste, mit der ich gesprochen habe, die Michael richtig versteht. Ja, er ist gewalttätig, aber nur, weil er von seinem Vater misshandelt worden ist. Sie haben den inneren Michael erkannt, den Michael, mit dem meine Leserinnen hoffentlich mitfühlen können.« Als sie mir zulächelt, atme ich auf.
»Nun … das ist ja wunderbar!« Ich recke den Daumen in die Luft, um ihr zu zeigen, wie froh ich bin.
»Was ist mit Morgan?«
»Morgan?«
»Ja, Morgan. Was halten Sie von ihm?«
»Morgan ist faszinierend. Er ist so …« Ich suche nach dem richtigen Adjektiv für einen Helden von Carla Ryan. »… männlich.«
Carla strahlt. »Das beschreibt ihn sehr treffend. Männlich. Glauben Sie, dass Riley und er füreinander bestimmt sind?«
»Absolut«, antworte ich. Allmählich weiß ich, wie der Hase läuft. »Sie sind offensichtlich Seelenverwandte!«
»Ganz recht. Sie gehören zusammen, ganz gleich, was auch geschieht.« Sie nickt mir beifällig zu. »Haben Sie Ihren Seelenverwandten schon gefunden?«
Es wird schlagartig still im Raum.
»Ja, ja«, antworte ich rasch, und ich weiß, dass ich es ernst meine.
»Ja, das dachte ich mir. So etwas merke ich den Menschen an.«
Wieder lächelt sie mir zu, und allmählich denke ich, dass sie vielleicht doch nicht so unscheinbar ist. Ihr Gesicht hat etwas, das plötzlich Schönheit ausstrahlt, solange man nicht auf den Damenbart achtet.
»Möchten Sie vielleicht etwas knabbern, bevor es losgeht?«, erkundige ich mich, um das Thema zu wechseln. »Ich kann schnell etwas besorgen.«
Ich hoffe, dass sie ja sagt, damit ich die Flucht ergreifen kann, was inzwischen mein sehnlichster Wunsch ist. Das Gespräch über Seelenverwandtschaft hat in mir ein unbehagliches Gefühl ausgelöst.
»Das ist wirklich reizend.« Als sie wieder lächelt, wippen die Härchen auf ihrer Oberlippe. »Aber ich habe eigentlich keinen Hunger. Ich hatte vorhin etwas Nettes im Bett, und ich muss sagen … dass es sehr angenehm war. Verstehen Sie, was ich meine?«
Sie zieht die Augenbrauen hoch, und mir wird klar, dass sie nicht unter der Bettdecke ein Ciabattabrötchen und einen Fruchtsmoothie genascht hat.
Ich erwidere nervös ihr Lächeln. Hoffentlich vertraut sie mir jetzt keine Details aus ihrem Liebesleben an. Das wäre schrecklich peinlich.
Doch bevor ich Gelegenheit zu einer Antwort habe, höre ich eine Art Sprechchor.
»Was ist denn das?«, frage ich mich laut.
»Die Fans«, erwidert Lee.
Carla verdreht die Augen zum Himmel. »Sie singen gerne die Lieder, die ich in den Büchern erwähne. Noch ein Grund, warum ich solche Veranstaltungen nicht mag.«
Sie hat recht: Es klingt eindeutig nach Dutzenden von Frauen, die Love on the Rocks von Neil Diamond singen.
»Herrje, haben diese Frauen denn nichts Besseres zu tun«, seufzt Carla.
Dann rückt sie ihren seltsamen Turban zurecht, marschiert zum Signiertisch, greift nach einem Stift, setzt ein gefrorenes Lächeln auf und bedeutet Lee mit einem Nicken, die Tür zu öffnen.
Vier Stunden später bin ich auf dem Heimweg und völlig erschöpft. So viele Frauen haben mich in dem verzweifelten Versuch, ihr Idol kennenzulernen, angerempelt, versucht mich zu bestechen, und mich angesprochen, dass ich völlig erledigt bin. Ich musste sogar bei einer Prügelei einschreiten, als eine Frau eine andere beschuldigte, sie hätte sich vorgedrängt. Und als es einer Leserin gelang, sich zweimal mit Carla fotografieren zu lassen, wäre es beinahe zu tumultartigen Ausschreitungen gekommen.
Carla hat zwar eisern in die Kamera gelächelt, doch als das Blitzlicht losging, glitzerten ihre Augen gefährlich.
»Nur ein Foto pro Fan«, zischte Lee mir zu. »Wenn das noch mal passiert, flippt sie aus. Könnten Sie das den anderen sagen?«
Ich betrachtete die Fans, die immer noch Love on the Rocks sangen und sich im Takt wiegten. Sie sahen wie zivilisierte Menschen aus. Also war ich sicher, dass sie Verständnis haben würden, wenn Carla nur begrenzt Zeit für jede von ihnen hatte.
Deshalb klatschte ich in die Hände, um mir die allgemeine Aufmerksamkeit zu sichern. Als das nicht klappte, sprang ich auf und ab und ruderte mit den Armen. Leider missdeutete eine Leserin das als Beifallsbekundung.
»Eine La-Ola-Welle. Lasst uns eine La-Ola-Welle machen!«, rief sie, und ehe ich wusste, wie mir geschah, hoben und senkten hundert Anhängerinnen von Liebesromanen die Arme und stampften mit den Füßen.
»Nein, nein!!!«, schrie ich. »Ich wollte Ihnen nur sagen: ein Foto pro Person.«
Aber niemand hörte mich, da alle viel zu sehr damit beschäftigt waren, wild herumzuspringen und Carlas Namen zu rufen. Also tat ich das Einzige, was mir einfiel: Ich pfiff auf zwei Fingern. Das konnte ich schon immer gut. Es ist einer meiner Party-Tricks. Al glaubt, ich könnte Trommelfelle zum Platzen bringen, wenn ich es darauf anlege.
»Passen Sie auf«, begann ich, nachdem mir endlich alle zuhörten. »Carla freut sich sehr darauf, jede Einzelne von Ihnen kennenzulernen« – das war gelogen, doch das brauchten sie ja nicht zu wissen –, »allerdings können Sie sich nur einmal mit ihr fotografieren lassen. Okay? Bitte verlangen Sie nicht mehr, denn eine Zurückweisung könnte kränkend sein.«
»Jetzt passen Sie mal auf, gute Frau«, schleuderte eine Frau mittleren Alters, die einen Turban wie Carla trug und ganz vorne in der Schlange stand, mir entgegen. »Ich warte nun schon seit Stunden, um Carla zu treffen. Ich habe alle ihre Bücher und ihre Hörbücher gekauft. Wenn ich zwei Fotos will, kriege ich zwei Fotos.«
»Tut mir leid«, erwiderte ich so taktvoll wie möglich, »aber so lauten die Regeln. Carla hat wirklich nur wenig Zeit, also nur ein Foto pro Person.«
»Hören Sie zu, Kleine«, brüllte sie, »ich kriege so viele Fotos, wie ich will, verdammt. Kapiert?«
»Hey, beruhigen Sie sich«, sagte der einzige männliche Fan in der Schlange. »So benimmt man sich doch nicht.«
Ich lächelte beklommen und bemerkte dabei das HASS-Tattoo auf seinen Fingerknöcheln. Vielleicht würde er mich ja retten, falls sich die Situation zuspitzen sollte.
»Hau doch ab, Fettwanst«, zischte die wildgewordene Leserin. »Von dir lasse ich mir keine Vorschriften machen.«
Im nächsten Moment erschien Samantha mit zorniger Miene.
»Jetzt passen Sie mal auf, GUTE FRAU!«, donnerte sie und hielt ihre Nase ganz dicht an das Gesicht der Leserin. »Es gibt nur ein Foto pro Kundin. Es zwingt Sie ja keiner.«
Die Menge schnappte nach Luft. Wenn das nichts nützte, würde es einen Ansturm geben.
»Schon gut.« Die wildgewordene Leserin zuckte die Achseln. »Wenn Sie gleich so ein Theater machen müssen. Es ist ja nur ein dämliches Foto.«
Dann stimmte sie die zweite Strophe von Love on the Rocks an, es folgte die nächste La-Ola-Welle, und der ganze Zwischenfall war vergessen.
»Diese Liebesromanleserinnen brauchen eine harte Hand. Zu viel Romantik weicht das Gehirn auf«, sagte Samantha und rieb sich die Hände wie der Türsteher eines Clubs, der gerade einen Störenfried auf die Straße gesetzt hat. »Das ist die Massenhysterie. Im Knast funktioniert es genauso. Steve, der Schatz, hat mir alles erklärt. Wenn die Dinge außer Kontrolle geraten, muss man bestimmt auftreten, sonst machen die Hackfleisch aus einem.«
Habe wortlos genickt und war plötzlich froh, dass sie mit einem Todeskandidaten korrespondiert. Offenbar weiß sie wirklich, wie man eine Revolte niederschlägt.
Inzwischen bin ich fast zu Hause und will eigentlich nichts weiter, als mir ein heißes Bad einlassen und dann ins Bett fallen. Kann mir schon vorstellen, wie das warme Wasser meine schmerzenden Gliedmaßen liebkost. Ganz bestimmt werde ich gut schlafen.
Ich schleppe mich zur Tür herein und werfe meine Sachen ab, ohne mich darum zu kümmern, dass sich der Großteil meines Tascheninhalts, auch die Puderdose aus dem Schminktäschchen, auf den Fliesenboden ergießt. Und dann sehe ich ihn.
Auf der Fußmatte liegt ein weißer Umschlag, auf dem in ordentlichen Druckbuchstaben in schwarzer Tinte mein Name steht. Er ist unverkennbar von Charlie. Mein verschollener Ehemann hat mir noch einen Brief geschrieben.