Eve
Lieber Charlie,
meine Verabredung mit Cyril, dem Steuerberater, war eine absolute Katastrophe. Ich hätte wissen müssen, dass es ein schlimmes Ende nehmen wird, als auf dem Weg dorthin die einzige Elster im Umkreis von mehreren Kilometern direkt an mir vorbeiflog. Du hast mich immer wegen meines Aberglaubens aufgezogen, aber es ist eine allgemein bekannte Tatsache, dass eine Elster Leid und Sorgen bringt. Und dieser Vogel hätte mich beinahe umgenietet, so sehr war er darauf erpicht, mir seine besondere Aufmerksamkeit zu schenken.
Wir hatten uns in der Lobby des Sheldon Hotels zum Mittagessen verabredet, und da ich ganz in der Nähe wohne, habe ich leichtsinnigerweise beschlossen, zu Fuß zu gehen, um einen klaren Kopf zu kriegen und meine flatternden Nerven zu beruhigen. Immerhin war es meine erste Verabredung seit zwei Jahren. Eine große Sache also. Es hätte alles Mögliche passieren können. Vielleicht wäre ja Cyril genau mein Typ gewesen. Allerdings bezweifelte ich das, weil mir noch immer kein einziges gemeinsames Gesprächsthema einfiel. Worüber sollte ich mit ihm reden außer über die Krise auf dem Aktienmarkt? Nicht, dass ich je verstanden habe, was da überhaupt los ist. Aber vielleicht würde er mich ja überraschen und charmant und schlagfertig sein, also gar nicht meinem Vorurteil gegen Steuerberater entsprechen. Möglicherweise hatte er nur auf Druck seiner Eltern Betriebswirtschaft studiert. Und es konnte durchaus sein, dass Zahlen, Tabellen und Buchhaltung ihn langweilten und er in Wirklichkeit ein Künstler sein wollte. Ob es Liebe auf den ersten Blick sein würde? Das war zwar ziemlich unwahrscheinlich, aber möglich.
Diese Gedanken machten mich sehr nervös, und so beschloss ich, zu Fuß zu gehen. Leider hatte Anna darauf bestanden, dass ich mir Mühe geben müsse, Cyril zu beeindrucken, weshalb ich nicht meine Lieblingsballerinas anziehen durfte. Sie sagte, wenn ich wie eine unbeschwerte Singlefrau und Partylöwin aussehen wolle, müsse ich wenigstens ein paar nuttige hochhackige Pumps tragen. Sie wollte mich auch zu einem tief ausgeschnittenen Oberteil überreden, aber dort habe ich die Grenze gezogen und mich stattdessen für meinen bewährten Pulli mit Polokragen entschieden – den, über den du einmal gewitzelt hast, ich sähe darin aus wie eine Bibliothekarin, obwohl ich versucht habe, nicht daran zu denken.
Habe jedenfalls meine Füße in die Pumps gezwängt und mich auf den Weg gemacht. Hatte nur vergessen, wie lebensgefährlich es ist, auf Absätzen zu gehen, die höher sind als drei Zentimeter. Ich bin so an meine Turnschuhe gewöhnt, dass ich alle paar Meter über meine eigenen Füße stolperte und auf Zehenspitzen über den Bürgersteig trippelte, um nicht vornüberzufallen. Kein Wunder, dass die Elster sich unter allen Passanten ausgerechnet mich ausgesucht hat – wahrscheinlich war ich ein ziemlich erheiternder Anblick.
Als ich ins Hotel gewankt kam, war ich eine Viertelstunde zu spät dran. Doch ich habe mir keine großen Sorgen gemacht, denn Anna hat mir gesagt, bei einem Blind Date dürfe man zu spät kommen. Es gehöre sogar beinahe zum guten Ton. Komm zu spät, nur für den Fall, dass deine Verabredung noch nicht da ist. Sitz nicht am Tresen wie bestellt und nicht abgeholt und verrenk dir nicht jedes Mal den Hals, wenn sich die Tür öffnet. So lauten die ungeschriebenen Gesetze. Allerdings stellte sich heraus, dass Cyril diese Gesetze nicht kannte. Oder dass er sich mutwillig nicht daran hielt.
Ich wusste gleich beim Eintreten, wer er war, nämlich der Typ im zu engen Anzug, der die Financial Times las, während alle richtigen Kerle sich ihr Mittagsbier gönnten und, mit offenem Mund kauend, Käsetoast verschlangen. Er hielt sich die Zeitung ganz nah ans Gesicht, so als wäre er kurzsichtig oder versuche, sich zu verstecken – ich konnte es nicht richtig deuten, und inzwischen war es mir auch egal. Ich war so erleichtert, überhaupt heil angekommen zu sein, dass ich zu ihm hinüberhinkte und mich vorstellte. Gerade wollte ich mich auf einen Stuhl sinken lassen, um meine müden Füße auszuruhen, als er mich von oben bis unten musterte, auf die Uhr sah und verkündete, er könne sich keine Beziehung mit einer unpünktlichen Person vorstellen. Mit diesen Worten faltete er seinen beigen Trenchcoat von Burberry zusammen und verschwand ohne ein weiteres Wort. Ich hatte gerade den Rekord für das kürzeste Blind Date der Geschichte gebrochen. Und so humpelte ich völlig frustriert wieder nach Hause.
Als ich Anna erzählte, wie es gelaufen ist, war sie richtig sauer. Sie wollte ihn sogar anrufen und ihm körperliche Gewalt androhen. Ich habe eine Ewigkeit gebraucht, um ihr das auszureden. Sie sagt, ich solle ihn vergessen. Dass er nicht der Richtige gewesen sei, hieße nur, dass ich nicht lockerlassen dürfe und weiter nach der Liebe suchen müsse – oder wenigstens nach einem guten Fick. Ich habe erwidert, ich hätte gar keine Gelegenheit gehabt herauszufinden, ob er der Richtige sei oder nicht. Dazu sei er zu schnell aus der Lobby geflohen (außerdem würde er mich auf gar keinen Fall ins Bett kriegen: Ein Mann im Polyesteranzug ist definitiv nicht mein Typ).
Anna entgegnete, ich könne jetzt nicht aufgeben, sondern müsse unter Leute gehen. Ich meinte, ich hätte eigentlich keine große Lust dazu – unter Leuten sei es mir viel zu gefährlich, weshalb ich mich hier am wohlsten fühlte: in meiner Wohnung, wo ich mir keinen Korb von wildfremden Männern einfange. Sie antwortete, ich müsse mir einen Ruck geben. Sie wäre nicht so glücklich mit Derek, wenn sie nicht auch einmal etwas riskiert hätte. Ich wollte ihr nicht sagen, dass ein Leben mit einem Mann, der sich gerne in Tangas zwängt, nicht meinen Vorstellungen von einer Bilderbuchbeziehung entspricht. Aber welches Recht habe ich, ein Urteil über sie zu fällen? Seit du fort bist, hatte ich keine irgendwie geartete Beziehung mehr – ob nun aus dem Bilderbuch oder nicht. Vielleicht ist es gar keine so schlechte Idee, die Unterwäsche mit einem 90-Kilo-Hünen zu teilen. Vielleicht sollte ich risikofreudiger werden.
Das habe ich Anna natürlich nicht verraten. Sie brennt so darauf, mir zur wahren Liebe zu verhelfen, dass ich ihr nicht die Wahrheit sagen konnte. Sie redet bereits davon, die nächste Verabredung für mich zu organisieren. Nach dieser Katastrophe graut mir davor, aber ich bin zu klug, um ihr zu widersprechen. Also habe ich geschwindelt und behauptet, ich freute mich schon darauf. Allerdings bin ich nicht sicher, ob sie mir geglaubt hat. Ich bin keine gute Lügnerin. Wenn ich in unserer Beziehung nur aufmerksamer gewesen wäre. Du hast mich so lange belogen, dass ich sicher eine Expertin hätte werden können, hätte ich nur besser aufgepasst. Aber wenn ich es genauer bedenke, war ich auch nicht ehrlich zu dir.
Weißt du, dass ich deine Einstellung in Sachen Ehe insgeheim nie geteilt habe? Offen gestanden hatte ich Phantasien, du könntest es dir anders überlegen und mich heiraten wollen. Ich habe davon geträumt, du würdest mir einen Antrag machen, damit ich Gelegenheit bekomme, ein weißes Rüschenkleid zu tragen, fünfzehn Brautjungfern zu haben und ein Riesentheater darum zu veranstalten, ob es beim Hochzeitsmenü Hühnchen oder Rindfleisch geben soll. Doof, ich weiß. Ich mag weder Hühnchen noch Rindfleisch, aber Fisch kommt eben einfach nicht in Frage. Das steht zumindest in allen Hochzeitszeitschriften, und die genießen in diesen Dingen absolute Autorität. Ich weiß das, weil ich schon seit Jahren Hochzeitszeitschriften kaufe – das ist auch eines meiner Geheimnisse. Ich habe einen Monat, nachdem wir uns kennengelernt hatten, drei davon abonniert. Inzwischen scheint eine Ewigkeit vergangen, und ich habe jetzt eine ziemlich große Sammlung. Wenn ich wollte, könnte ich eine Trauung im kleinen Kreis für zehn Personen oder eine große Feier mit vierhundert Gästen organisieren, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich habe den Blumenschmuck, die Musik und die Farbgestaltung bereits ausgewählt und könnte morgen heiraten, wenn mir jemand einen Antrag machen würde. Doch das ist ziemlich unwahrscheinlich. Insbesondere seit mir wildfremde Männer einen Korb geben, ehe ich auch nur einen Mucks herausbringe.
Mary, die Therapeutin, sagt, ich müsse dieses kleine Missgeschick loslassen. Ihrer Ansicht nach besteht der Prozess des Heilens aus einem Schritt vorwärts und einem zurück. Irgendwann würde ich dann einen friedlichen Ort voller Liebe und Akzeptanz erreichen. Wenn ich genauer darüber nachdenke, hat sie ziemlich lange über die steinigen Wege, die ich gehen, und die Berge, die ich erklimmen muss, geredet, bevor ich die Sache mit dem Lieben und dem Akzeptieren hinkriege. Aber sie scheint recht zuversichtlich zu sein, dass es alles ein gutes Ende nehmen wird.
Sie hat mir vorgeschlagen, doch meine Wohnung in einem hübschen, frischen Farbton zu streichen, um mich aufzuheitern. Ich habe erwidert, ich sei mit dem momentanen Zustand meiner Wohnung sehr zufrieden – Beige passt zu mir –, sie beharrt allerdings darauf, bunte Farben könnten die Stimmung wirklich beeinflussen. Alles in einem warmen Sonnengelb zu streichen würde für meine Stimmung Wunder wirken. Ich war mir da nicht so sicher. Klar, ich weiß, dass Gelb einen aufmunternden Effekt haben soll, doch ich muss bei dem Anblick dieser Farbe immer an Bananen denken, und du kennst ja meine Einstellung zu den Dingern. Ich habe immer noch Albträume, weil ich in der Schule wegen meiner ziemlich langen Arme Schimpanse gerufen worden bin. Gut, der Rest von mir ist irgendwann nachgewachsen, aber die Hänseleien haben Narben hinterlassen.
Anna findet die Idee großartig, die Wohnung zu streichen. Sie sagt, es sei eine wissenschaftlich erwiesene Tatsache, dass helle Farben eine positive Wirkung auf Menschen haben. Deshalb besteht sie jetzt darauf, dass Derek immer Blau und Rot trägt. Sie glaubt, dass er aufhören wird, ihre Unterwäscheschublade zu plündern, wenn er sich männlicher fühlt. Und das Tragen von kräftigen Primärfarben kann den Testosteronspiegel eines Mannes erhöhen. Sie denkt, Derek würde die Lust auf ihre Spitzenslips verlieren, wenn er sich anzieht wie Superman. Ich habe ihr erklärt, dass die Angelegenheit sicher komplizierter ist, doch sie besteht darauf, es zu versuchen. Falls es nicht klappt, wird sie ihm eine Hormonkur verpassen. Das Problem ist nur, dass Derek eine Nadelphobie hat. Also wird sie ihn vielleicht bewusstlos schlagen müssen, bevor sie ihm eine Spritze gibt. Hoffentlich erwartet sie nicht, dass ich ihr dabei helfe. Sie hat mich bei diesen Worten so vielsagend angesehen.
Jedenfalls probiere ich das mit den Farben vielleicht mal aus. Schaden kann es ja nicht. Anna hat einen guten Anstreicher an der Hand: Dereks Freund Homer. Homer ist nicht sein richtiger Name, in Wirklichkeit heißt er Murray. Anna hat keine Ahnung, warum alle ihn Homer nennen, aber ich bin sicher, dass es an seiner Begeisterung für die Simpsons liegt. Laut Anna ist er als Anstreicher und Dekorateur eine Wucht, doch ich habe da meine Zweifel, insbesondere falls er Ähnlichkeit mit seinem Namenspatron haben sollte. Anna behauptet auch, dass ich mich spitze fühlen werde, wenn meine Wohnung erst einmal mit einem frischen Gelbton aufgepeppt wurde. Allerdings hat ihre leicht zweifelnde Miene in mir den Verdacht geweckt, dass sie vielleicht selbst zu einer kleinen Notlüge gegriffen hat.
Eve