Kapitel 34

Das Festnetztelefon klingelte, als Tammy am nächsten Abend gerade die Boutique verlassen wollte.

»Es ist Jane«, sagte Meena. »Sie klingt anders als sonst.«

»Okay.« Tammy nahm den Hörer entgegen. »Hi, Janey, ist alles in Ordnung?«

»So einigermaßen, aber ich muss dich dringend sprechen. Kannst du kurz vorbeikommen?«

»Natürlich«, sagte Tammy, obwohl sie sich fürchterlich müde fühlte.

»Danke, Tam. Bis gleich.«

Tammy verließ den Laden. Auf der Fahrt zum Gordon Place hoffte sie inbrünstig, dass es kein Abgang war. Beklommen läutete sie an der Tür.

Ihr wurde sofort geöffnet. »Wie schön, dich zu sehen. Danke, dass du gekommen bist.«

Tammy fand, dass Jane für jemanden, dem angeblich gerade etwas Schreckliches widerfahren war, sehr entspannt aussah.

»Was ist los?«

»Komm in die Küche. Ein Glas Wein?«, bot Jane ihr an.

»Gern.« Tammy nahm es entgegen. »Wie geht’s dir und dem Kind?«

»Bestens.« Stolz strich Jane ihre Bluse glatt, um den kleinsten Ansatz eines Babybauchs zu offenbaren. »Und was machst du an Weihnachten?«

»Nähen.« Tammy musterte sie misstrauisch. »Janey, was geht hier vor sich?«

»Nichts, überhaupt nichts, wirklich …«

Die Haustür wurde geöffnet und wieder geschlossen. Tammy hörte Männerstimmen, die sich der Küche näherten, und ihr Herz begann zu rasen. »Janey, nein … bitte!« Wie ein in die Enge getriebenes Tier sah sie sich nach einem Fluchtweg um.

»Ich finde, das ist ein sehr guter Preis, und ich würde deiner Mutter raten, ihn zu akzeptieren«, sagte Paul, als er die Küche betrat.

Mit Nick.

Ihre Blicke begegneten sich. Dann sprachen sie beide gleichzeitig.

»Verdammt, Paul!«, fluchte Nick.

»Tausend Dank, Janey! Ich gehe.« Tammy drängte sich an ihm vorbei und bemerkte da erst ein kleines Mädchen von etwa neun oder zehn Jahren, das Nicks Hand hielt.

»Und?«, fragte Paul. »Soll ich die Vorstellung übernehmen, oder machst du das, Nick?«

Nick seufzte resigniert. »Tammy, das ist Clemmie. Meine Tochter.«

»Entschuldigung allseits, aber ich gehe.« Tammy zwängte sich an allen vorbei und ging zur Haustür. Das Blut rauschte ihr in den Ohren, sodass ihr schwindlig wurde. Sobald sie draußen stand, verfiel sie in einen Laufschritt, fort von allem, was sie weder wissen noch hören wollte.

»Wer war das, Daddy?«, fragte Clemmie. »Sie ist sehr hübsch.«

»Zum Himmel noch mal, Mann, jetzt lauf ihr schon nach!«, drängte Paul, als Nick Tammy nur nachstarrte. »Findest du nicht, dass du ihr wenigstens eine Erklärung schuldig bist?« Paul musste ihn förmlich zur Küche hinausschieben. »Wir passen auf Clemmie auf. Jetzt geh schon!«

Nick trat auf den Bürgersteig und sah Tammy die Straße hinunterlaufen. Eine Weile folgte er ihr in seinem üblichen Tempo, ohne sie aus den Augen zu verlieren, er war sich noch immer unsicher. Plötzlich beschleunigte er seine Schritte. Paul hatte recht, er war Tammy eine Erklärung schuldig. Jetzt, wo die Karten auf dem Tisch lagen, konnte er wenigstens mit ihr reden.

Tammy lief blindlings Richtung Kensington Gardens, sie brauchte Luft und Platz um sich. Auf der ersten Bank, die sie im Park erreichte, ließ sie sich fallen. Als Nick einige Sekunden später neben ihr auftauchte, schrie sie vor Wut.

»Verschwinde!«

»Tam, ich kann gut verstehen, dass du mich nie wiedersehen willst, und es tut mir sehr leid, dass wir beide so grausam überlistet wurden. Ich schwöre, das war nicht meine Idee.«

Sie hatte den Kopf gesenkt, sodass sie nur seine Schuhe und den Saum seiner Jeans sah. Sie kniff die Augen zusammen, um auch deren Anblick auszublenden.

»Darf ich dir erzählen, was passiert ist? Dann gehe ich auch, ja?«, sagte Nick. »Also: Vor elf Jahren stellte ich in meinem Geschäft in Southwold eine junge Frau an, die Evie Newman hieß. Sie war tüchtig und lernbegierig. Wir verstanden uns sehr gut, und obwohl ich wusste, dass sie schon seit Langem einen Freund hatte, habe ich mich in sie … verliebt, aber sie hat mir gegenüber nie eine Andeutung gemacht, dass sie meine Gefühle erwidert. Dann fuhren wir zusammen zu einer Auktion nach Frankreich. Abends haben wir uns in einer Bar maßlos betrunken, und in der Nacht sind wir miteinander ins Bett gegangen. Damals dachte ich, mein Traum wäre in Erfüllung gegangen. Ich habe ihr meine Gefühle gestanden und gesagt, dass ich sie liebe.«

Nick begann, beim Reden auf und ab zu gehen.

»Am nächsten Tag sind wir nach Hause gefahren, und ich ging davon aus, dass das der Anfang einer wunderbaren Liebesbeziehung war, aber sie ist mir nach Kräften ausgewichen. Ein paar Wochen später hat sie mir gesagt, dass sie schwanger ist. Brian, ihr Freund, hatte eine neue Stelle als Dozent in Leicester bekommen, und sie sind zusammen aus Southwold fortgezogen.«

Nick kickte einen Stein weg, der über den Boden flog.

»Es ist schwer zu erklären, was für eine Art Liebe ich für Evie empfand. Rückblickend ist mir klar, dass es keine gesunde Liebe war, sondern eher Besessenheit. Nachdem sie mir gesagt hatte, dass sie weggeht, konnte ich unmöglich weiter an dem Ort leben, wo ich so viele Erinnerungen an sie hatte, also habe ich das Geschäft verkauft und bin nach Australien gezogen. Darf ich mich setzen?«

Tammy zuckte mit den Achseln, und er nahm in einiger Entfernung von ihr auf der Bank Platz.

»Das nächste Mal sah ich Evie vor ein paar Monaten wieder, als ich meine Mutter in Southwold besuchte. Sie hatte mir geschrieben. Ich habe sie besucht, und sie hat mir erklärt, weshalb sie sich bei mir gemeldet hat. Hörst du mir noch zu?«

»Ja«, flüsterte Tammy.

»Es hatte mit Clemmie zu tun. Evie erzählte mir, dass die Beziehung mit Brian bald nach dem Umzug nach Leicester immer schlechter wurde, aber sie wusste nicht, warum. Kurz nach Clemmies Geburt gestand Brian ihr dann, dass er sich fünf Jahre zuvor hatte sterilisieren lassen. Er war gut fünfzehn Jahre älter als sie und hatte schon zwei Kinder, die bei ihrer Mutter lebten, von der er geschieden war. Sprich, er konnte unmöglich Clemmies Vater sein. Er hatte geglaubt, mit Evies Betrug klarkommen und Clemmie als seine Tochter großziehen zu können, aber es gelang ihm nicht. Wenig später ist er ausgezogen, und Clemmie wuchs auf, ohne zu wissen, wer ihr Vater war.«

Nick sah in Tammys ausdrucksloses Gesicht, bevor er fortfuhr.

»An dem Abend in Southwold fragte Evie mich, ob ich bereit wäre, einen Vaterschaftstest machen zu lassen, um festzustellen, ob ich tatsächlich der Vater war. Also habe ich das gemacht, und ehrlich gesagt habe ich insgeheim gebetet, er wäre negativ. Du und ich hatten uns gerade kennengelernt – wir hatten Pläne für die Zukunft, ich …« Seufzend schüttelte Nick den Kopf. »Wie auch immer, das Ergebnis war positiv, die DNA-Marker haben mit Clemmies übereingestimmt. Ich bin ihr biologischer Vater.«

Tammy atmete langsam durch und versuchte, ruhig zu bleiben. »Warum hast du dich nicht gefreut? Du hast doch gerade gesagt, dass du Evie geliebt hast. Du musst gedacht haben, dass dein Traum schließlich doch in Erfüllung geht.«

»Früher einmal wäre das auch so gewesen, ja. Aber wie ich schon sagte, es war Besessenheit, keine eigentliche Liebe. Nicht wie die Liebe, die ich für dich empfinde. Außerdem …«

»Was?«, drängte Tammy. Sie wollte diesen quälenden Albtraum einfach nur hinter sich bringen.

»Evie hat Leukämie und wird bald sterben. Sie hat mich um den Vaterschaftstest gebeten, damit Clemmie wenigstens einen leiblichen Elternteil hat. Und nach ihrem Tod vielleicht sogar eine richtige Familie. Deswegen ist sie nach Southwold zurückgezogen.«

»O mein Gott.« Tammy starrte Nick entsetzt an. »Das ist ja … grauenhaft.«

»Ja, das stimmt. Sie ist erst einunddreißig – so alt wie du.«

Eine Weile saßen sie beide schweigend da.

»Nick«, sagte Tammy dann leise. »Entschuldige, dass ich dich das frage nach dem, was du mir gerade erzählt hast, aber bist du … wieder mit ihr zusammen?«

»Nein, das schwöre ich dir. Ich habe ihr von dir erzählt, dass ich dich liebe und mir eine Zukunft mit dir wünsche.«

»Aber …«, brachte sie schließlich hervor, »wenn Evie gesund wäre – würdest du dann mit ihr zusammen sein wollen?«

»Glaub mir, Tammy, darüber habe ich ewig nachgedacht. Die Antwort lautet nein. Du bist diejenige, die ich liebe, unabhängig davon, ob Evie wieder in mein Leben getreten wäre oder nicht. Du hast den Bann gebrochen. Ich war noch nie so glücklich, und dann ist das alles passiert, und ich … ich …«

Nick legte das Gesicht in die Hände, seine Schultern zitterten. Wider Willen legte sie ihre Hand auf seine und drückte sie.

»Verzeih mir, Tammy, dieses ganze Durcheinander. Es tut mir unendlich leid.«

»Nick, warum in aller Welt hast du mir nicht früher davon erzählt?«

»Weil ich für Evie da sein musste und auch Zeit brauchte, um Clemmie kennenzulernen, eine Beziehung mit ihr aufzubauen und herauszufinden, ob es überhaupt funktionieren würde, bevor ich dir von der Situation erzählte. Außerdem dachte ich, du würdest vermutlich glauben, dass ich wieder eine Affäre mit Evie hätte, und so war’s dann ja auch. Ich bin davon ausgegangen, dass du mich verlassen würdest, wenn du die Wahrheit wüsstest. Wir kennen uns noch nicht so lange. Wie konnte ich dich da bitten, dich damit abzufinden, dass ich regelmäßig meine Exgeliebte und meine Tochter besuche?«

»Ich habe dein Auto vor ihrem Haus stehen sehen, als Amy und ich an dem Abend neulich dort vorbeifuhren.«

»Ich weiß, das hat Amy mir erzählt. Da war ich bei Evie und Clemmie. Ich habe die meisten Wochenenden bei ihnen verbracht. Nur damit du es weißt, Evie sagte, zu gegebener Zeit würde sie dich gerne kennenlernen.«

»Warum denn das?«

»Weil«, antwortete Nick seufzend, »sie wusste, dass du eines Tages womöglich Clemmies Stiefmutter sein würdest.«

»Ich verstehe.« Bei dem Gedanken bekam Tammy einen Kloß im Hals. »Na, es hätte geholfen, wenn du mir davon erzählt hättest, anstatt herumzudrucksen, bis ich die offensichtliche Schlussfolgerung gezogen habe. Du hast mir nicht vertraut, Nick, ebenso wenig wie meiner Liebe«, flüsterte sie.

»Ich weiß, und das tut mir unsäglich leid.«

»Wo bist du die letzten zwei Wochen gewesen?«, fragte sie. »Paul sagte, du wärst bei ihnen ausgezogen.«

»Das stimmt. Ich habe meine Sachen in das neue Haus in Battersea gebracht, dann habe ich Clemmie vorzeitig aus der Schule geholt und bin zum Skifahren mit ihr nach Verbier geflogen. Wir mussten etwas Zeit zu zweit miteinander verbringen, ganz abgesehen davon, dass Clemmie auch einmal etwas Spaß haben sollte. Sie muss seit zwei Jahren mit ansehen, wie ihre Mutter vor ihren Augen dahinschwindet.«

»Das muss ihr das Herz brechen.«

»Das tut es auch. Evie hat vor gut zwei Jahren erfahren, dass sie Leukämie hat. Clemmie war praktisch diejenige, die sich während der Behandlung um sie gekümmert hat. Dann war sie ein Jahr symptomfrei, aber im Juni ist die Leukämie mit voller Wucht zurückgekehrt, und Evie wurde gesagt, dass sie nicht mehr allzu lange leben würde.«

»Clemmie weiß also, dass ihre Mutter sterben wird?«

»Ja, sie weiß es. Sie ist ein liebes Mädchen, Tammy, und unglaublich tapfer. Und natürlich bricht es ihr wegen ihrer Mum das Herz. Daran kann ich nichts ändern, aber zumindest kann ich für sie da sein und sie ablenken, während Evie …« Nick zuckte mit den Schultern. »Seit wir aus Verbier zurück sind, suchen wir Möbel für ihr Zimmer in Battersea aus. Es ist wichtig, dass sie das Gefühl hat, ein Zuhause zu haben.«

»In dem Haus, bei dem du mich vor ein paar Wochen fragtest, ob ich mit dir dort leben wolle?«

»Ja.«

Tammy sah zu ihm und seufzte. »Wow. Da hast du dir ganz schön viel aufgebürdet. Hast du dir je überlegt, mir etwas davon zu sagen?«

»Ich … ich weiß es nicht. Als die Vergangenheit förmlich in meine Gegenwart hereingebrochen ist, konnte ich alles nur schrittweise bewältigen, einen Tag nach dem anderen. Ich musste für Clemmie da sein, ich wusste nur nicht, wie ich es dir beibringen sollte.«

»Das kann ich verstehen.«

»Wirklich?«

»Ja.«

Nick drehte sich zu ihr, Tränen standen ihm in den Augen. Er nahm die Hand, die auf seiner lag, und drückte sie fest.

»Danke.«

So blieben sie lange Zeit sitzen, während Tammy versuchte, das, was er ihr gesagt hatte, zu verarbeiten.

»Nick?«

»Ja?«

»Kannst du mir bitte sagen, und zwar ehrlich, ob du noch etwas für Evie empfindest?«

»Ich … Sie ist mir wichtig, Tammy, natürlich ist sie mir wichtig. Sie stirbt, dabei ist sie noch so jung, und das Leben ist so grausam. Aber ob ich sie liebe wie dich? Nein, ganz bestimmt nicht.«

»Wirklich ehrlich? Bitte, Nick, du musst ehrlich sein«, bat sie.

»Ehrlich.« Wieder drehte er sich zu ihr und lächelte. »Und jetzt, wegen deiner Reaktion auf das, was ich dir heute Abend gesagt habe, liebe ich dich noch mehr. Du bist eine wundervolle Frau. Wirklich. Die Frage ist, ob du dir vorstellen kannst, mit einem Mann zusammen zu sein, der aus heiterem Himmel eine neunjährige Tochter bekommen hat.«

»Ehrlich gesagt habe ich mir nie Gedanken über Kinder gemacht«, sagte sie.

»Ich mir auch nicht – bis ich dich kennenlernte.« Nick lächelte. »Aber jetzt habe ich eins, das schon fix und fertig ist und nicht von dir stammt, und ich könnte es wirklich verstehen, wenn du damit nicht zurechtkämst. Clemmie wird in den nächsten Monaten sehr viel Liebe brauchen. Ich muss für sie da sein, Tammy.«

»Das ist doch klar.«

»Aber klar ist auch, dass ich mir sehr wünsche, du wärst auch für sie da.«

»Ich … o Gott, Nick, ich weiß nicht. Ich weiß einfach nicht, ob ich der mütterliche Typ bin. Abgesehen davon würde Clemmie mich wahrscheinlich hassen, weil ich nie ihre richtige Mum sein werde.«

»Das glaube ich überhaupt nicht, Tam. Sie ist wirklich unglaublich lieb und vertrauensvoll. Bevor du und ich … uns zerstritten haben, habe ich ihr von dir erzählt und gesagt, dass ich hoffe, wir würden eines Tages heiraten. Da hat sie gesagt, dass sie dich gern kennenlernen würde.«

»Wirklich?«

»Ja.«

Tammy sah ihn an und glaubte ihm. Plötzlich merkte sie, wie kalt ihr war.

»Nick, ich brauche etwas Zeit, um zu verdauen, was du mir gesagt hast.«

»Natürlich.«

»Ich meine, ich möchte wirklich nicht in Clemmies Leben auftauchen und dann wieder verschwinden, wenn ich feststelle, dass ich damit nicht zurechtkomme. Verstehst du?«

»Absolut.« Nick warf ihr ein mattes Lächeln zu. »Ich möchte dir noch mal sagen, dass ich dich liebe und mir über alle Maßen wünsche, dass es klappt. Aber wenn du das Gefühl hast, dass du es nicht willst und es dich überfordert, kann ich das auch verstehen.«

»Danke.« Tammy stand auf und steckte die Hände zum Aufwärmen in die Taschen ihrer Lederjacke. »Ich melde mich bei dir, sobald ich kann. Tschüss, Nick.«

»Tschüss.«

Nick sah ihr nach, als sie davonging. Als sie an einer Laterne vorbeikam, schimmerte ihr Haar im Licht. Er schickte ein Stoßgebet gen Himmel, dann stand er auf, um zu seiner Tochter zurückzukehren.