Mansion House
Bodmin Moor, Cornwall

Juni 1955

»Und jetzt, anlässlich des freudigen Ereignisses ihres achtzehnten Geburtstags, möchte ich ein paar Worte über meine Enkeltochter Posy sagen. Ich könnte nicht stolzer auf sie sein, und ich weiß, dass ich damit auch für ihren Vater spreche … und natürlich auch für ihre Mutter.«

Ich stand neben Oma, und als sie mir einen Blick zuwarf, sah ich Tränen in ihren Augen glänzen.

Tränen, hatte ich festgestellt, waren die ansteckendste Plage auf der ganzen Welt, und dementsprechend bald kamen sie auch mir.

»Nicht nur hat sie einen begehrten Platz an der Universität Cambridge errungen und ihre abschließenden Prüfungen an der Schule mit Bestnoten bestanden, Posy hat sich auch, trotz der Schwierigkeiten, die sie erlebte, seit sie zu uns gekommen ist, nie in Selbstmitleid ergangen. Ihr wisst alle, dass sie jedem ein Lächeln schenkte, dass sie in Zeiten der Not stets hilfsbereit mit anpackte und für jeden in Not ein offenes Ohr hatte.«

»Hört, hört!«, rief Katie aus der Menschenmenge, die sich um mich im Garten versammelt hatte.

»Wünschen wir ihr alles Gute, wo sie jetzt erwachsen wird und ihr die nächste große Herausforderung bevorsteht. Auf Posy!«

»Auf Posy!«, riefen alle im Chor und hoben ihr Glas Schaumwein. Ich prostete ebenfalls, obwohl ich nicht wusste, ob ich auf mich selbst anstoßen durfte, aber ich wollte gern einen Schluck trinken. Es war sehr heiß an dem Tag.

Anschließend kamen viele Dorfbewohner zu mir, um mir persönlich zu gratulieren, und dann aßen wir von dem köstlichen Buffet, das Daisy aufgebaut hatte, bevor die Sandwiches in der Hitze vertrockneten.

Am späteren Abend, als alle gegangen waren, öffnete ich die Geschenke, die sich auf dem Tisch türmten. Die meisten waren selbst gemacht, und die Taschentücher mit Monogramm, die ich nun besaß, sollten mindestens für meine drei Jahre in Cambridge reichen, wenn nicht bis an mein Lebensende. Aber ich wusste, dass jedes einzelne mit Liebe bestickt worden war, und das Herz ging mir auf angesichts der Herzlichkeit, mit der das Dorf mich gefeiert hatte. Das füllte ein wenig die Leere, die ich empfand, denn zu meiner Enttäuschung war Maman nicht zu meiner Party gekommen. Obwohl ihr Besuch immer höchst unwahrscheinlich gewesen war, hatte das kleine Mädchen in mir gehofft, womöglich habe Oma ihre Ankunft verheimlicht, auch wenn sie mir einen Monat zuvor sanft beigebracht hatte, dass Maman nicht kommen könne.

»Mein Liebling, sie machen ausgedehnte Flitterwochen. Sie sagte, sie sei sehr traurig, nicht dabei zu sein, aber sie hat dir das geschickt.«

Das Kuvert stand noch auf dem Gabentisch neben Omas Karte, die an einem in glänzendes Silberpapier verpacktes Geschenk hing. Form und Größe ließen an ein dünnes Buch denken.

»Magst du jetzt die Karte deiner Mutter öffnen?« Oma reichte sie mir.

Ein Teil von mir hätte den Umschlag am liebsten zerrissen oder in Brand gesetzt, um mir den Schmerz zu ersparen, die hohlen Worte zu lesen, die bloße Plattitüden waren für eine Tochter, die sie nicht mehr kannte.

Aber ich nahm mich zusammen, öffnete das Kuvert und fragte mich, weshalb ich den Tränen nah war, obwohl ich mir doch tausendmal gesagt hatte, ich müsse sie so nehmen, wie sie war.

Auf der Karte war ein Bild von einer Champagnerflasche und zwei Gläsern, die aneinanderstießen, und daneben stand: »Alles Gute zum 18. Geburtstag!« Ähnliche Karten hatte ich von vielen aus dem Dorf auch bekommen.

Du meine Güte, Posy! Was hast du denn erwartet? Ein selbst gemaltes Aquarell?!, tadelte ich mich, als ich die Karte aufschlug. Darin lag ein weiteres Kuvert, das ich auf den Schoß legte, während ich die Karte las.

Liebste Posy,

aus Anlass deines 18. Geburtstags.

Liebe Grüße,

Maman und Alessandro

Beim Anblick seines Namens verzog ich das Gesicht und bemühte mich, nicht noch mehr sinnlose Tränen zu vergießen. Ich stellte die Karte zu den anderen auf den Tisch und öffnete das Kuvert auf meinem Schoß. Darin befand sich ein Foto, das Maman und einen Mann zeigte, der kleiner und dicker war als sie. Maman trug ein schönes Hochzeitskleid mit einer langen Schleppe und einer funkelnden Tiara und blickte liebevoll in die Augen ihres frischgebackenen Ehemanns hinunter. Die beiden standen auf einer Treppe, im Hintergrund war ein riesiges Schloss zu sehen. Das war vermutlich der Palazzo, das neue Zuhause meiner Mutter.

»Da.« Ich reichte Oma das Foto und holte das zweite Geschenk aus dem Kuvert: ein Scheck, um den ein Zettel gewickelt war.

Liebste Posy, da wir nicht wussten, was wir dir schenken sollen, dachte Alessandro, dass dir das vielleicht mit den Unkosten in Cambridge helfen könnte. Komm uns doch bald besuchen – Alessandro kann es gar nicht erwarten, dich kennenzulernen. Alles Liebe, M und A

Ich unterdrückte ein Schaudern, dann sah ich auf die Summe, die auf dem Scheck stand, und holte tief Luft: Er war auf fünfhundert Pfund ausgestellt.

»Was ist, Posy?«

Ich zeigte Oma den Scheck, und sie nickte bedächtig. »Das wird dir in den nächsten Jahren gut zupasskommen, nicht wahr?«

»Ja, aber Oma, das ist doch ein Vermögen! Wir wissen beide, dass Maman nicht so viel Geld hat, was heißt, dass es von ihrem Mann kommt, der mich nicht kennt, mich nie gesehen hat und …«

»Hör auf, Posy! Nach allem, was deine Mutter gesagt hat, hat sie eindeutig einen sehr wohlhabenden Mann geheiratet. Gesetzlich betrachtet bist du jetzt – ob dir das gefällt oder nicht – seine Stieftochter, und wenn er dir ein solches Geschenk machen möchte, dann nimm es mit Anstand an.«

»Aber das heißt doch, dass ich ihm irgendwie … verpflichtet bin.«

»Es heißt, dass du zur Familie gehörst, Posy, und das erkennt er damit an. Du liebes bisschen, du hast jahrelang überhaupt nichts von deiner Mutter bekommen, und wie immer du es betrachtest und woher das Geld letztlich stammt – einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul, heißt es.«

»Ich rühre es nicht an«, sagte ich trotzig. »Ich habe das Gefühl, als wollten sie mich kaufen. Außerdem habe ich ein Stipendium bekommen, Oma, also brauche ich es gar nicht!«

»Vergiss nicht, ich als deine Treuhänderin habe einen Teil deines Erbes von deinem Vater darauf verwendet, deine Schulgebühren zu bezahlen, und wir haben uns darauf geeinigt, dasselbe für deinen Lebensunterhalt in Cambridge zu machen, aber ein Vermögen ist es nicht. Wie wäre es, wenn ich das Geld für dich anlege, und du nennst es deinen Notgroschen? Wenn du es nicht brauchst, musst du es nicht anrühren, aber falls doch, ist es jederzeit da.«

»Also gut, aber wohl ist mir dabei trotzdem nicht. Außerdem heißt das, ich muss einen Dankesbrief schreiben«, sagte ich verbittert.

»Das ist kleinlich von dir. Jetzt aber genug damit an deinem Geburtstag. Warum machst du nicht mein Geschenk auf? Obwohl es mit dem kaum mithalten kann«, sagte Oma lächelnd.

Ich riss das Papier von dem schmalen Päckchen. Zuerst hielt ich es für das in Leder gebundene Buch, das ich erwartet hatte, doch dann erkannte ich, dass es ein Kästchen war. Ich öffnete die Schließe, und darin lag auf indigoblauem Satin eine Kette mit cremefarbenen Perlen.

»Ach, Oma! Die ist ja wunderschön! Vielen Dank.«

»Sie hat ursprünglich meiner Mutter gehört, das heißt, sie ist ziemlich alt, aber es sind echte Perlen, Posy, nicht diese billigen Zuchtperlen, die heutzutage der letzte Schrei sind. Komm«, sagte sie und stand auf, »ich lege sie dir um.«

Ich blieb still sitzen, während sie in meinem Nacken den zierlichen Verschluss zumachte. Dann trat sie vor mich und betrachtete mich. »Sehr schön«, sagte sie lächelnd. »Jede junge Frau sollte eine Perlenkette haben.« Sie gab mir einen Kuss auf die Wange. »Jetzt bist du dafür gerüstet, in die Welt hinauszugehen.«

Anfang Oktober kam ich mit meinen zwei Koffern und der Mappe voll botanischer Zeichnungen in Cambridge an. Bill und ich brauchten eine ganze Weile, um uns im Labyrinth der gepflasterten Sträßchen im Zentrum der Stadt zurechtzufinden. Auf der Suche nach der Silver Street fuhren wir mindestens dreimal am Trinity und am King’s College vorbei. Als wir schließlich vor der Hermitage ankamen, wo die Studentinnen der New Hall wohnten, machte sich etwas Enttäuschung in mir breit. Die Hermitage war zwar ein prachtvoller großer Bau, aber kein Vergleich zu den wunderschönen uralten Männer-Colleges mit ihren vielen Türmchen.

Ich wurde an der Tür herzlich von Miss Murray empfangen, der für New Hall verantwortlichen Tutorin, die meine frühere Direktorin Miss Sumpter aus ihrer gemeinsamen Internatszeit kannte.

»Miss Anderson, Sie haben den weiten Weg von Cornwall zu uns hergefunden! Sicher sind Sie etwas erschöpft. Jetzt zeige ich Ihnen erst einmal Ihr Zimmer. Zugegeben, es ist klein und liegt ganz oben im Haus – die Mädchen des ersten Jahrgangs, die letztes Jahr hier eingezogen sind, haben die besten Zimmer belegt –, aber dafür haben Sie einen wunderschönen Blick über die ganze Stadt.«

Miss Murray hatte recht – das Zimmer war in der Tat klein. Es lag im Dachgeschoss und war früher vermutlich eine Dienstbotenkammer gewesen, aber es hatte einen hübschen Kamin und schräge Decken und dazu ein Fenster, das wirklich einen wunderschönen Blick über die Dächer und Türme bot. Die Toilette und das Bad befanden sich im darunterliegenden Stockwerk, aber Miss Murray erklärte, sie plane, die danebenliegende Besenkammer in eine Nasszelle umzubauen.

»Es war natürlich eine Herausforderung, unsere Zahlen durch die diesjährigen neuen Studentinnen zu verdoppeln, und in den unteren Stockwerken teilen sich viele Mädchen ein größeres Zimmer. Aber meine Ahnung sagte mir, dass Ihnen ein eigenes Zimmer lieber wäre, so klein es auch ist. So, und jetzt überlasse ich Sie dem Auspacken und Einrichten, und dann kommen Sie doch um sechs in den Speisesaal, dort lernen Sie die anderen Mädchen kennen.«

Die Tür schloss sich, und einen Moment blieb ich reglos stehen und nahm den Geruch von Staub und von Büchern wahr – obwohl ich mir den vielleicht nur einbildete. Dann trat ich ans Fenster und schaute auf Cambridge hinaus, das sich unter mir ausbreitete.

»Ich hab’s geschafft, Daddy«, wisperte ich. »Ich bin hier!«

Als ich eine Stunde später nach unten ging, pochte mir das Herz bei der Vorstellung, den anderen Mädchen zu begegnen. Ich war völlig erschlagen, nicht nur von der langen Fahrt, sondern auch von den schlaflosen Nächten, die ihr vorausgegangen waren. Mich hatten Gedanken gequält, dass die anderen Mädchen viel klüger und weltgewandter und zweifellos auch hübscher sein würden als ich und dass ich vermutlich nur wegen Miss Sumpters Freundschaft mit Miss Murray einen Studienplatz bekommen hatte.

Ich holte tief Luft, dann trat ich in den Speisesaal, in dem es bereits vor jungen Frauen wimmelte.

»Guten Abend, welcher Neuzugang bist du denn?«, fragte mich eine große junge Frau, die offenbar einen Herrenanzug trug. Auf dem Tablett, das sie in der Hand hielt, standen Gläser mit Sherry.

»Posy Anderson«, sagte ich und nahm ein Glas, um mir Mut anzutrinken.

»Ah ja. Du studierst Botanik, richtig?«

»Genau.«

»Andrea Granville. Ich mache Englisch. In meinem Kurs gibt es nur eine Handvoll Frauen, und in deinem Fachbereich werden es bestimmt noch weniger sein. Du solltest dich besser schnellstmöglich daran gewöhnen, dich mit Scharen dummer kleiner Jungen abzugeben, die auf deine Kosten geschmacklose Witze reißen.«

»Ich werde mein Bestes tun«, sagte ich und leerte mein Glas.

»Das Traurige ist, Posy, die Hälfte von ihnen ist nur hier, weil ihre Vorfahren auch hier waren«, bellte Andrea (sie hatte eine durchdringende Stimme). »Lauter Söhne und Enkelsöhne von Graf Rotz von der Popelburg, fürchte ich. Die meisten gehen mit einem Bestanden ab, allerhöchstens einem Genügend, dann kehren sie auf ihren Landsitz zurück, wo sie von ihren Treuhandfonds leben und ihre Bediensteten herumscheuchen.«

»Ach, Andrea, das gilt doch nicht für alle. Lass dich von ihr nicht ins Bockshorn jagen«, sagte ein Mädchen mit wunderschönen schwarzen Locken und großen veilchenblauen Augen. »Ich bin übrigens Celia Munro, ich studiere auch Englisch.«

»Posy Anderson«, sagte ich lächelnd. Sie gefiel mir auf Anhieb.

»Also, Posy, ich mache mal weiter die Runde mit dem Sherry, aber halt Ausschau nach Kröten in deinem Schreibtisch und Furzkissen auf deinem Stuhl. Ach, du solltest noch wissen, dass wir nach Ansicht der Jungs natürlich alle lesbisch sind«, sagte Andrea zum Abschied.

»Also ehrlich.« Celia schüttelte den Kopf. »Eigentlich sind wir dafür da, dir beim Einleben zu helfen, und nicht, um dich in Angst und Schrecken zu versetzen. Achte nicht auf Andrea. Sie ist ein feiner Mensch, hat es aber sehr mit Frauenrechten. Davon gibt es unter uns Studentinnen viele. Ich bin natürlich auch ihrer Meinung, aber ich verwende meine Energie lieber auf das Studium und darauf, die Zeit hier zu genießen.«

»Das möchte ich auch. Du bist also im zweiten Jahr?«

»Ja. Und trotz allem, was Andrea sagt, dass die Jungs ihre Scherze mit uns treiben, hat mir das erste Jahr richtig Spaß gemacht. Das mag allerdings auch damit zusammenhängen, dass ich in unserer Familie das einzige Mädchen unter drei Brüdern bin.«

»Ich muss zugeben, bevor ich herkam, habe ich weniger an Jungen gedacht als vielmehr an meine Abschlussprüfungen und daran, dass ich nach Cambridge gehe.« Ich sah mich um. »Ich kann’s immer noch nicht ganz glauben, dass ich wirklich hier bin.«

»Ja, es ist auch surreal, eine ganz eigene Welt, aber du wirst dich sicher bald einleben. Und jetzt, warum gehen wir nicht herum und sehen, wem aus deinem Jahrgang wir uns noch vorstellen können?«

Das taten wir auch, und nachdem ich einer Reihe junger Frauen die Hand gegeben hatte, erkannte ich, dass der Großteil von ihnen genauso nervös war wie ich. Insgesamt kamen sie mir sehr nett vor, und als ich mein zweites Glas Sherry geleert hatte, breitete sich eine wohlige Wärme in mir aus.

»Mädchen! Darf ich Sie um Ihre Aufmerksamkeit bitten?«

Miss Murray stand ganz vorne im Speisesaal, und ich scharte mich mit den anderen um sie.

»Zunächst möchte ich unsere Neuzugänge in der New Hall willkommen heißen. Wie der erste Jahrgang zweifelsohne bestätigen wird, können Sie sich glücklich schätzen, ein Jahr nach der Eröffnung des Colleges herzukommen.«

»Sie meint, dass es uns doch noch gelungen ist, die Flöhe aus den Matratzen loszuwerden«, scherzte Andrea, und einige ihrer Freundinnen lachten.

»Genau«, sagte Miss Murray. »Das und eine Reihe weiterer ärgerlicher Kleinigkeiten, die wir beheben mussten, nachdem wir unser neues Zuhause bezogen hatten. Doch behoben sind sie, und jetzt, nach den anfänglichen Kinderkrankheiten, können wir als College wirklich anfangen, uns als ernstzunehmende Größe zu etablieren, natürlich in akademischer Hinsicht, aber auch durch die Art Frauen, die Sie sind und in Zukunft sein möchten. Wie ich jeder von Ihnen bereits beim Vorstellungsgespräch erklärte, ist es auch für die selbstbewusstesten unter uns eine einschüchternde Erfahrung, als Frau in Cambridge zu studieren, wo auf jede junge Frau zehn Jungen kommen. Es wäre ein Leichtes, mit Schärfe auf die beständigen Sticheleien zu reagieren, die Ihre männlichen Kommilitonen so erheiternd finden. Zudem muss natürlich jede von Ihnen ihre eigene Art entwickeln, damit umzugehen. Doch lassen Sie mich eins sagen: Wir Frauen haben unsere eigenen Stärken. Als Akademikerin, die in den vergangenen zwanzig Jahren in einer Männerwelt gearbeitet hat, habe ich mich oft versucht gefühlt, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Aber ich möchte Sie alle bitten, Ihre Weiblichkeit nicht zu vergessen und die Ihnen eigenen Stärken zu Ihrem Vorteil einzusetzen. Vergessen Sie nicht, viele Männer verhalten sich so nur aus Angst. Ihre männlichen Bastionen werden langsam, aber sicher geschleift, und glauben Sie mir, das ist nur der Anfang unseres Marschs zur Gleichberechtigung.«

»Du lieber Himmel, sind die Jungs wirklich so schlimm?«, flüsterte eine der Neuen ängstlich.

»Nein, aber Gefahr erkannt, Gefahr gebannt ist hier das Motto«, sagte Miss Murray. »Ich möchte nicht hören müssen, dass eine unserer jungen Frauen in eine Schlägerei verwickelt war, wie es letztes Trimester in Girton der Fall war. Jetzt aber etwas Erfreulicheres: Ich habe beschlossen, den Garten zu nutzen, solange das Wetter noch so warm ist, und deswegen öffnen wir am kommenden Freitagabend unsere Pforten den neuen Studenten des St. John’s College – dem dieses Gelände gehört und das es uns freundlicherweise verpachtet – zu einem Stehempfang. Das gibt Ihnen die Gelegenheit, einige Ihrer Kommilitonen in einem entspannten geselligen Rahmen kennenzulernen.«

»Der Feind im eigenen Haus, wie?«, kommentierte Andrea.

Miss Murray ging auf die Bemerkung nicht ein, und mich beschlich der Verdacht, dass Andrea die wahrscheinlichste Kandidatin war, sollte jemand von uns in eine Schlägerei mit Jungen verwickelt werden.

»Und jetzt überlasse ich Sie unserer zweiten hier wohnenden Tutorin Dr. Hammond, die Ihnen die praktischen Grundlagen des akademischen Betriebs erläutern wird. Aber bevor ich das mache, möchte ich das Glas auf die New Hall und ihre neuen Bewohnerinnen erheben.«

»Auf die New Hall«, stimmten wir alle ein, und mich durchflutete die gleiche Wärme wie zuvor, denn ich wusste, dass ich Teil von etwas ganz Besonderem war.

Als ich im Lauf der folgenden Wochen meine Mitstudentinnen besser kennenlernte, bekam ich wirklich zunehmend das Gefühl, keine Außenseiterin mehr zu sein, sondern zum ersten Mal in meinem Leben dazuzugehören. Jede meiner Kommilitoninnen, mit der ich sprach, war unglaublich klug und – wichtiger noch – studierte hier, weil sie sich leidenschaftlich für ihr Thema interessierte. Als die Abende länger wurden, drehten sich die Gespräche vor dem Kamin im behaglichen Gemeinschaftsraum um alles von reiner Mathematik bis hin zu den Gedichten von Yeats und Brooke. Wir lebten für unsere erwählten Studienfächer, wir träumten von ihnen, und vielleicht, weil wir alle wussten, welches Glück wir hatten, hier zu sein, gab es kaum Klagen über das immense Arbeitspensum. Ich auf jeden Fall fühlte mich davon beflügelt und musste mich immer noch jedes Mal kneifen, wenn ich die Botanikschule betrat.

Das Gebäude, ein quadratischer Bau mit vielen Fenstern an der Downing Street, war unauffällig, aber von der New Hall nur eine kurze Radfahrt über den Fluss entfernt. Wenn ich morgens über die holprigen Pflastersteine fuhr und mein altes Fahrrad, das ich gebraucht gekauft hatte, bei jedem Tritt auf die Pedale quietschte, sah ich jeden Tag dieselben Gesichter.

Nichts hätte mich auf die Aufregung vorbereiten können, zum allerersten Mal das Labor zu betreten: die langen Werkbänke, die modernen Geräte, bei denen es mich in den Fingern juckte, sie zu berühren, und die Sammlungen von Samen und getrockneten Pflanzen, die mir im Herbarium zur Verfügung standen (natürlich nur mit einem Berechtigungsschein).

Wie Andrea mich gewarnt hatte, war ich eine von gerade einmal drei Frauen im Kurs. Enid und Romy – die beiden anderen – saßen während des Unterrichts bewusst nicht nebeneinander; jede wollte sich ihr eigenes Territorium unter den Männern erobern. In der Mittagspause trafen wir uns oft bei unserer Lieblingsbank im Botanischen Garten, unterhielten uns über die Vorlesungen und wunderten uns gemeinsam angesichts der Dummheiten der Jungs. Und wann immer wir drei uns im Eagle an einen Tisch setzten, diskutierten wir leidenschaftlich über die Zukunft der Botanik. In dem Pub war es stets voll, zum Teil, weil jeder Naturwissenschaftler an der Uni darauf hoffte, einen Blick auf Watson und Crick zu werfen, die gerade einmal zwei Jahre zuvor die DNS-Struktur entdeckt hatten. Als ich eines Abends an der Theke Francis Cricks Hinterkopf erblickte, erstarrte ich förmlich, so erfüllt war ich von Ehrfurcht, einem Genie so nahe zu sein. Enid mit ihrem robusten Selbstbewusstsein hingegen ging prompt zu ihm und redete ihn in Grund und Boden, bis er rasch, aber höflich das Weite suchte.

»Die Hauptarbeit hat natürlich Rosalind Franklin gemacht«, sagte sie empört, als sie zu uns zurückkam. »Aber da sie eine Frau ist, wird sie nie die Lorbeeren dafür bekommen.«

Ich hatte weder die Zeit noch die Lust, mich einem der vielen Studenten-Clubs in Cambridge anzuschließen, weil ich mich ganz dem Studium widmen wollte. Celia und Andrea hingegen, die in der New Hall meine besten Freundinnen geworden waren, flitzten an den Wochenenden von einer Veranstaltung zur nächsten, Celia mit dem Schachclub und Andrea mit dem Footlights, dem namhaften Theaterclub. Ich verbrachte jede freie Minute in den Gärten und Gewächshäusern, und Dr. Walters, einer meiner Professoren, hatte mich im Tropenhaus unter seine Fittiche genommen. Das war ein wunderschöner Glasbau, in dem schwer die feuchte Luft hing. An manchen Abenden kam ich erst kurz vor der Sperrstunde zurück, schlich in mein klammes Zimmer und legte mich erschöpft, aber glücklich ins Bett.

»Du bist der reinste Blaustrumpf«, sagte Andrea eines Morgens beim Frühstück zu mir. »Wenn es nicht um Samen oder Erde geht, bist du nicht aus dem Haus zu locken. Aber heute Abend ist ein Fest vom Footlights, da kommst du mit, und wenn ich dich schreiend an den Haaren hinzerren muss.«

Da ich Andrea recht geben musste und sie zudem kein Nein akzeptieren würde, ließ ich mir von ihr zu dem roten Kleid, das ich an meinem achtzehnten Geburtstag getragen hatte, einen ihrer bunten Schals um den Hals drapieren. Innerhalb weniger Sekunden nach unserer Ankunft war mir klar, dass die Party genauso entsetzlich sein würde, wie ich befürchtet hatte. Beim lauten Stimmengewirr gepaart mit der Musik, die die Räume des Vorstands vom Footlights erfüllte, wurde mir klar, dass ich fehl am Platz war. Zur Nervenstärkung nahm ich mir einen Drink vom Tisch und mischte mich unter die Feiernden. Andrea drängte sich auf der Suche nach dem Gastgeber durch die Menge.

»Das da drüben ist Freddie. Ist er nicht ein Traum?«, sagte sie und lächelte auf eine für sie höchst untypische Art.

Ich blickte in die Richtung, in die sie deutete, und sah einen jungen Mann im Kreis seiner Anhänger, die ihm gebannt lauschten, während er Hof hielt. Als ich ihn ansah, hatte ich das seltsame Gefühl, als würde die Zeit stillstehen. Seine vollen Lippen öffneten und schlossen sich in Zeitlupe, im selben Tempo gestikulierte er mit den Händen. Sein dunkles, dichtes und welliges Haar fiel ihm bis auf die Schultern, wie ich es von Porträts romantischer Dichter kannte. Er hatte große, ausdrucksvolle Augen in der Farbe eines neu geborenen Kitzes, seine hohen Wangenknochen und die markante Kinnpartie verliehen ihm das Aussehen einer Statue. Er wäre eine sehr schöne Frau, dachte ich mir, aber da zog Andrea mich schon mitten in den Kreis, und ich riss mich aus meiner Träumerei.

»Freddie, mein Lieber, darf ich dir meine gute Freundin Posy Anderson vorstellen?«

Als er meine Hand nahm und küsste, während sein Blick auf mir ruhte, als wäre ich die Einzige im Raum, hatte ich das Gefühl, von tausend Blitzen durchzuckt zu werden.

»Enchanté«, sagte er mit einer tiefen, melodischen Stimme. »Und womit vertreibst du dir hier in Cambridge die Zeit?«

»Botanik«, brachte ich hervor und spürte, wie die vermaledeite Röte mir ins Gesicht stieg. In meinem roten Kleid musste ich aussehen wie eine überreife Tomate.

»Sieh einer an, da haben wir doch tatsächlich eine veritable Naturwissenschaftlerin in unserem ästhetischen Zirkel!«, sagte er in die Runde, und ich hatte das Gefühl, als würde er sich über mich lustig machen, obwohl sein Blick – der immer noch auf mir lag – freundlich war.

»Und woher kommst du, Posy?«

»Ursprünglich aus Suffolk, aber ich bin in Cornwall aufgewachsen.«

»Aus Suffolk?« Freddie lächelte. »Da haben wir ja eine Gemeinsamkeit. Dort wurde ich auch geboren. Posy, unterhalten wir uns doch später. Ich möchte zu gerne wissen, weshalb eine so hübsche Frau wie du« – seine Augen wanderten an mir hinab – »in einen weißen Kittel schlüpft und durchs Mikroskop starrt.«

Ich nickte grinsend wie eine Idiotin – ich brachte einfach kein Wort hervor und war nur froh, als jemand anderes Freddies Aufmerksamkeit einforderte und er schließlich den Blick von mir nahm.

Natürlich kam es nicht dazu, dass wir uns »später unterhielten«. Freddie verbrachte den Abend umgeben von niveauvollen Frauen, mit denen ich in meinem schlichten roten Kleid und den ungebärdigen Locken nicht mithalten konnte. Andrea verlor sich bald in der Menge und vergaß mich, und so ging ich eine Stunde später allein nach Hause und träumte von Freddie und dem Umstand, dass er mich »hübsch« genannt hatte.

Der Winter in Cambridge erwies sich überraschenderweise als sehr schön. Die uralten Steingebäude waren mit funkelndem weißem Reif überzogen, und wenn ich mich in die Gewächshäuser im Botanischen Garten vorwagte, kam ich mir vor wie in einem riesigen Iglu. Das Herbsttrimester ging dem Ende entgegen, und beim Dinner in der New Hall drehte sich das Gespräch nur um ein Thema – den Weihnachtsball im St. John’s College.

»Ich trage Hosen«, erklärte Andrea. »Wie Marlene Dietrich. Jeder Mann, der es wagt, sich mir zu nähern, muss beweisen, was in ihm steckt.«

Einen Samstagvormittag verbrachten Celia und ich damit, das perfekte Kleid für den Anlass zu kaufen, und ich gab einen Teil meines Stipendiums für ein tailliertes blaues Samtkleid aus, das vorne eine Schleife hatte. Sehnsüchtig dachte ich an Mamans wunderschöne Abendkleider in Admiral House und fragte mich, ob sie wohl in ihrem Palazzo ein neues Zuhause gefunden hatten.

Celia überredete mich zu einem Paar passender Stöckelschuhe, da ich keine besaß. »Aber untersteh dich, damit nach Pflanzen zu graben«, warnte sie mich grinsend.

»Ich habe viel größere Sorge, dass ich hinfalle und mich lächerlich mache«, sagte ich seufzend, als ich in meinem kleinen Zimmer übte, auf den hohen Absätzen zu gehen.

Am letzten Tag des Trimesters lief ich aus der Botanikschule, schlitterte über die vereisten Stufen und mühte mich hektisch mit dem Fahrradschloss ab. Ich war schon spät dran für mein Treffen mit Celia, die mir helfen wollte, meinen Haaren für den Ball am Abend eine halbwegs modische Frisur zu verpassen. Es war schon sechs Uhr, als ich auf mein Rad sprang und Richtung Silver Street fuhr, ohne auf das Hupen entnervter Autofahrer zu achten, wenn ich Schlaglöchern auswich.

Plötzlich stellte sich die Welt auf den Kopf, ich lag im grauen Schneematsch auf den Pflastersteinen, das Fahrrad wenige Zentimeter von mir entfernt. Die Räder drehten sich noch.

»Verzeihung – fehlt Ihnen etwas?«, hörte ich eine Stimme über mir sagen.

Benommen stand ich auf. »Ich … ich glaube nicht.«

»Jetzt setzen Sie sich doch erst einmal und kommen Sie wieder zu sich. Das war ein ziemlich heftiger Sturz«, sagte der junge Mann. Stützend legte er mir den Arm um die Schultern und führte mich an den Straßenrand. Dort setzte er mich auf die Bank einer Bushaltestelle und holte mein Fahrrad. Der junge Mann hatte freundliche blaue Augen und lächelte vertrauenerweckend unter seinem knappen Schnurrbart. Aus seiner Hutkrempe ragten feine blonde Haarsträhnen hervor.

»Danke«, sagte ich und zog an meinem Rock für den Fall, dass er sich hochgeschoben hatte. »So dumm bin ich noch nie gestürzt. Normalerweise fahre ich sehr vorsichtig …«

»Wenn die Straßen so eisig sind, ist das nicht zu vermeiden«, meinte er. »Die Stadt hat es einfach nicht geschafft, rechtzeitig zu streuen. Typisch. Übrigens, ich bin Jonny Montague.«

»Posy Anderson«, erwiderte ich und gab ihm die Hand. Dann stand ich auf. »Es tut mir leid, aber ich muss weiter, meine Freundin wartet schon auf mich …«

»Nach einem solchen Sturz kann ich Sie nicht einfach wieder aufs Fahrrad steigen lassen«, sagte er. »Wohin gehen Sie denn? Ich begleite Sie.«

»Das ist nicht nötig, mir fehlt wirklich nichts.«

»Aber ich bestehe darauf.« Er griff nach dem Lenker meines Fahrrads, der zugegebenermaßen ziemlich verbogen aussah. »Ich folge Ihnen, Mylady.«

Auf dem Weg zur New Hall erfuhr ich, dass Jonny am St. John’s College Geografie studierte.

»… Aber nach der Uni gehe ich zum Militär, wie mein alter Herr«, sagte er. »Und Sie?«

»Ich studiere Botanik – Pflanzenwissenschaften«, antwortete ich. Das Wort »Wissenschaft« hatte die erwartete Wirkung.

»Eine Wissenschaftlerin?« Überrascht sah er zu mir. »Was macht man denn in der Wissenschaft der Pflanzen?«

Bevor ich ihm von Veredelung und Taxonomie und Ökosystemen erzählen konnte, hatten wir das College erreicht.

»Sie müssen das Fahrrad überprüfen lassen, bevor Sie sich wieder draufsetzen. Es hat mich sehr gefreut, Sie kennenzulernen, Miss Anderson, trotz der dramatischen Umstände.«

»Ja«, sagte ich. »Danke auch noch mal, das war sehr nett von Ihnen.«

»Das war das Mindeste, das ich tun konnte.« Jonny lüftete seinen Hut und verschwand in der Nacht.

Noch immer etwas benommen ging ich in mein Zimmer hinauf, wo Celia mich ungeduldig erwartete. In der Hand hatte sie ein furchteinflößendes Onduliereisen.

»Mein Haar ist doch schon lockig genug«, wehrte ich mich.

»Aber es sind nicht die richtigen Locken«, sagte sie. »Jetzt setz dich. Ach, Posy, was hast du denn gemacht? Deine Haare sehen ja entsetzlich aus!«

Eineinhalb Stunden später bemühte ich mich auf meinen Absätzen, mit den anderen Mädchen Schritt zu halten, als wir von der New Hall zum St. John’s College gingen. Die Dunkelheit wurde erhellt von Kerzen und Fackeln, die in dem bereiften Rasen steckten und die alten Türme und die neogotische Fassade erleuchteten. Aus dem großen Saal trieben die Klänge einer Swing-Band herüber, dazu das Gewirr von Stimmen, die bereits vom Alkohol beschwingt waren. Mit einer geschmeidigen Bewegung nahm ein Bediensteter mir den Mantel ab, ein Glas Champagner wurde mir in die Hand gedrückt.

»Jetzt komm, Posy.« Celia führte mich in den großen Saal. Es war ihr gelungen, meine Haare zu weichen Wellen zu glätten, die sie mir mit Strassklemmen aus dem Gesicht gesteckt hatte. Außerdem hatte sie mich geschminkt, und ich wagte fast nicht, den Mund zu bewegen aus Angst, den knallroten Lippenstift zu verschmieren.

Der Saal war voll Männer im Smoking, deren Stimmen bis zur Decke hoch über uns schallten.

»Prost, Mädels.« Andrea hob ihr Glas. »Auf frohe Weihnachten.«

»Guten Abend, mein Schatz. Ich freue mich, dass ich dich in diesem Gedränge gefunden habe. Möchtest du tanzen?«

Matthew, Celias Galan, war neben uns erschienen. Die beiden gingen seit Oktober miteinander.

»Gerne.«

Sie schwebten davon, und ich blieb mit Andrea allein zurück.

»In zwei Jahren ist sie verheiratet und schwanger«, prophezeite Andrea düster. »Und ihr Studium war umsonst. Mein Gott, solche Bälle sind absolut nicht mein Ding. Komm, lass uns schauen, wo es was zu essen gibt. Ich habe einen Bärenhunger.«

Wir drängten uns durch die Menschenmassen zu den langen Tischen, die unter dem Gewicht der vielen Speisen förmlich zusammenbrachen. Ich hatte vor lauter Nervosität keinen Hunger, aber Andrea häufte sich ihren Teller voll.

»Der einzige Grund, weshalb ich gekommen bin«, sagte sie grinsend und begann zu essen.

»Guten Abend«, sagte eine Stimme hinter mir.

Ich drehte mich um und sah Jonny, meinen Retter in der Not, neben mir stehen.

»Guten Abend.«

»Sie sehen sehr anders aus«, sagte er bewundernd.

»Danke.«

»Haben Sie sich von Ihrem Sturz erholt?«

»Ja.«

»So weit, um sich mit mir auf die Tanzfläche zu wagen?«

»Ich … doch«, antwortete ich, und die gewohnte Röte stieg mir den Hals hinauf.

Er reichte mir die Hand.

»Die Nächste, die dran glauben wird«, hörte ich Andrea leise sagen, als wir uns entfernten.

Später gingen wir nach draußen, um frische Luft zu schnappen und zu rauchen. (Das hatte ich mir angewöhnt, weil damals alle rauchten und ich nicht spießig wirken wollte.) Einvernehmlich setzten wir uns im Hof auf eine Bank.

»Wohin fährst du zu Weihnachten?«, fragte er.

»Nach Cornwall. Ich lebe bei meiner Großmutter.«

»Wirklich? Und was ist mit deinen Eltern?«

»Mein Vater ist im Krieg gefallen. Er war Pilot. Meine Mutter lebt in Italien«, sagte ich. Es kam selten vor, dass ich in Cambridge jemandem etwas von meinem Privatleben erzählte, aber er hatte etwas, das zu Vertraulichkeiten aufforderte.

»Es tut mir leid wegen deines Vaters«, sagte er verständnisvoll. »Ich habe großes Glück, dass ich meinen nach dem schrecklichen Krieg noch habe. Dein Vater muss ein Held gewesen sein.«

»Das war er auch.« Er hatte sich näher zu mir gesetzt, der Ärmel seines Smokings streifte meinen Arm. Ich spürte seine Wärme und rückte nicht fort.

»Und was ist mit dir?«

»Meine Eltern leben in Surrey. Ich habe zwei Schwestern, eine Katze und einen alternden Labrador, der Molly heißt. Ziemlicher Durchschnitt, würde ich sagen.«

»Dein Vater war also beim Militär?«

»Ja. Er wurde ganz am Anfang in Dünkirchen verwundet – er hat ein Bein verloren, also hat er den Rest des Kriegs am Schreibtisch verbracht. Er sagt immer, dass es ein Segen war, das Bein zu verlieren. So ist er wenigstens am Leben geblieben. Es tut mir wirklich leid, dass dein Vater nicht überlebt hat.«

»Danke.« Ich trat meine Zigarette aus und schauderte. »Sollen wir wieder reingehen? Hier draußen ist es schrecklich kalt.«

»Dann komm, wärmen wir uns beim Tanzen wieder auf.«

Damit nahm er meinen Arm und führte mich in den Saal zurück.

Über Weihnachten in Cornwall dachte ich unablässig an Jonny. Nach dem Ball hatte er mich nach Hause gebracht und mir meinen allerersten Kuss gegeben. Er hatte versprochen, mir zu schreiben, und jeden Tag eilte ich dem Postboten William entgegen und war immer beglückt, wenn er einen in Jonnys adretter Schrift adressierten Umschlag für mich dabeihatte.

Oma hob lächelnd die Augenbrauen, stellte aber keine Fragen, wofür ich dankbar war. Bald, nachdem ich zum Frühjahrstrimester nach Cambridge zurückgekehrt war, gingen Jonny und ich offiziell miteinander. Es kam wie von selbst, bevor ich so recht merkte, was eigentlich passierte. Ich war nicht mehr bloß »Posy«, ich war eine Hälfte von »Jonny und Posy«. Wir sahen uns zweimal die Woche: am Mittwoch zwischen zwei Seminaren zum Lunch in einem Café und am Sonntag im Eagle. Ich stellte fest, dass mir das Küssen gefiel, auch wenn sein Schnurrbart mich kitzelte, aber mit dem, worüber sich die anderen Mädchen der New Hall abends im Gemeinschaftsraum oft im Flüsterton unterhielten, hatte ich noch keine Erfahrung.

Andrea war weniger zurückhaltend. Sie bestand darauf, Jonny kennenzulernen und ihn in die Mangel zu nehmen, um ihm ihre Zustimmung zu erteilen.

»Er ist ja ganz nett, Posy, aber um ehrlich zu sein, ist er nicht ziemlich langweilig? Er redet endlos von dem schrecklichen Kaff, aus dem er kommt – bist du dir sicher, dass du niemand Spannenderen möchtest?«

Ich achtete nicht auf sie, mir war klar, dass sie gern gegen die Konventionen verstieß, um zu provozieren. Angesichts meiner ungewöhnlichen Kindheit gefiel mir das Bild seiner Familie, das er mir schilderte, und ich hoffte, er werde mich eines Tages zu sich nach Hause einladen, damit ich sie kennenlernte.

Estelle, meine alte Freundin aus Internatszeiten, die mittlerweile beim Royal Ballet in London zum Corps de ballet gehörte, besuchte mich eines Wochenendes, und wir tauschten bis spät in die Nacht bei einer billigen Flasche Champagner Vertraulichkeiten aus.

»Hast du es mit Jonny, na, du weißt schon, schon gemacht?«

»Guter Gott, nein«, sagte ich und errötete. »Wir kennen uns erst seit ein paar Monaten.«

»Liebste Posy, du hast dich seit dem Internat um keinen Deut verändert!« Sie lachte. »Ich habe in London mit mindestens fünf Männern geschlafen – ohne mir etwas dabei zu denken!«

Die Osterferien kamen, und ich verbrachte die ganze Zeit zu Hause in Cornwall und lernte eifrig für die Prüfungen. Als ich wieder in Cambridge war, beschwerte Jonny sich, er würde mich kaum sehen.

»Wenn die Prüfungen vorbei sind, kannst du mich sehen, so viel du magst«, tröstete ich ihn, fragte mich aber insgeheim, warum er sich nicht ebenso intensiv vorbereitete.

Schließlich waren alle Prüfungen geschrieben, ich hatte das Gefühl, dass ich mich ganz gut geschlagen hatte, und konnte endlich entspannen. Die Saison der Mai-Bälle hatte begonnen, und Jonny und ich überlegten, auf welchen wir gehen sollten. Es gelang ihm, vier Karten für den Mai-Ball des Trinity College zu ergattern, dem beliebtesten in Cambridge.

»Ich lade Edward ein« (das war Jonnys bester Freund), »und warum lädst du nicht Estelle ein? In sie ist er verknallt, seit er sie im Februar kennengelernt hat«, schlug Jonny vor.

Estelle kam also wieder nach Cambridge, und wir richteten uns den ganzen Tag lang her.

»Erinnere mich doch bitte, wie dieser Edward aussieht, Süße«, sagte Estelle, während sie ihre flachsblonden Haare geschickt zu einem Knoten verdrehte. »Lohnt es sich überhaupt, sich für ihn schick herzurichten?«

»Du musst dich an ihn erinnern, Estelle. Wir haben den Abend bei ihm auf dem Zimmer verbracht, Gin getrunken und über dem Feuer Brot geröstet.«

»Ach, Posy, das ist doch schon Ewigkeiten her. Übrigens, gefällt dir mein Kleid?«, fragte sie und wirbelte in einer schimmernden Kreation aus weißem Satin und Tüll vor mir herum. »Ich hab’s aus der Garderobe stibitzt.«

»Es ist sehr … luftig, genau das Richtige für dich«, sagte ich. Neben meiner zierlichen Freundin kam ich mir vor wie ein schwerfälliger Elefant, und so bat ich sie schnell, mir mein Kleid im Rücken zuzuknöpfen. Oma war mir zur Rettung gekommen und hatte ihre Schneiderin (die, wie sie sagte, nur einen Bruchteil dessen verlangte, was eine in der Stadt kostete) beauftragt, mir ein wunderschönes lavendelblaues Abendkleid mit einem weiten, bodenlangen rauschenden Rock zu nähen.

Als wir beide mit unserem Aussehen zufrieden waren, gingen wir zu Jonny und Edward in den warmen Juniabend hinaus.

»Du siehst bildschön aus, mein Schatz«, sagte Jonny lächelnd, nahm meine behandschuhte Hand und küsste sie.

Wir schlossen uns den anderen Nachtschwärmern an, die zum Ball gingen, und Estelle und ich blieben ein paar Schritte hinter den Männern zurück.

»Kein Wunder, dass ich mich nicht an ihn erinnern konnte, aber für heute Abend tut er’s schon«, flüsterte sie.

»Estelle, du bist ein Scheusal«, wisperte ich zurück.

Während des Sektempfangs, der im großen Hof von Trinity College stattfand, machte Estelle mich auf Kleider aufmerksam, die sie aus der Vogue erkannte. Dann setzten wir uns zu einem köstlichen fünfgängigen Menü an eine Tafel, bevor das Tanzen begann.

Ich war glücklich, in Jonnys Armen zu schweben, und Estelle wirbelte um Edward herum und stellte sich unter allgemeiner Bewunderung zur Schau. Nach dem Feuerwerk und dem »Frühstück der Überlebenden« setzten wir vier uns in der ersten Morgendämmerung ans Ufer der Cam. Über dem Fluss lag leichter Nebel, die ersten Vögel verkündeten den Anbruch eines neuen warmen Tages.

»Ich könnte ewig in Cambridge bleiben«, sinnierte Edward und blickte in die aufgehende Sonne.

»Ich nicht«, sagte Jonny. »Ich freue mich darauf, nach der Uni die Offiziersausbildung an der Mons zu beginnen. Ich bin nur hier, weil mein Vater darauf besteht, dass ich einen Abschluss mache, falls ich vorzeitig beim Militär aufhören möchte. Ich kann es kaum erwarten, zu reisen und die Welt zu sehen.« Er drückte meine Hand und drehte sich zu mir. »Dir wird das auch gefallen, Posy, oder?«

»Ich … äh … ja«, sagte ich überrascht. Bis zu dem Moment hatte ich mir noch keine Gedanken über die Zukunft gemacht, zumindest keine mit Jonny …

»Also.« Estelle kam mir zu Hilfe und schlüpfte aus den Schuhen. »Schauen wir doch mal, ob wir nicht diesen berühmten Rekord vom Trinity-Court-Rennen brechen können. Wer ist die Erste?« Elfengleich lief sie mit großen Sprüngen davon, und bevor Jonny mich zurückhalten konnte, rannte ich ihr nach.

In dem Sommer sollte ich schließlich Jonnys Familie kennenlernen. Mit mehrmaligem Umsteigen gelangte ich von Cornwall nach Surrey, im Gepäck Marmeladen und Pickles, die Daisy mir als Geschenk für meine Gastgeber mitgegeben hatte. Jonny holte mich in einem schicken, leuchtend grünen Ford Saloon am Bahnhof in Cobham ab.

»Liebste! Wie schön, dich zu sehen.« Er begrüßte mich mit einem Kuss, und ich glitt auf den Ledersitz und sah fasziniert hinaus, als er den Wagen über baumbestandene Sträßchen steuerte, vorbei an hübschen Häusern mit gepflegten Rasen. Schließlich fuhren wir vor ein Haus mit symmetrischen Hornbuchenhecken, die aussahen, als seien sie mithilfe einer Wasserwaage beschnitten worden. Jonny sprang aus dem Wagen und öffnete mir die Beifahrertür. Mit flatternden Nerven stieg ich aus.

Die Haustür ging auf, und als Erstes erschien ein alter Labrador, gefolgt von einer hübschen Frau Anfang vierzig mit einem glatten blonden Pagenkopf und einem warmherzigen Lächeln. Hinter ihr stand ein großer, schlanker Mann mit einem Gehstock und einem Schnurrbart wie Jonnys.

Jonny zog mich an der Hand. »Posy, das sind meine Eltern.«

Mr. Montague begrüßte mich als Erster, sein Händedruck war trocken und fest. »Wir freuen uns, Sie kennenzulernen, Posy. Jonny hat uns so viel von Ihnen erzählt.«

»Ich freue mich auch«, fügte Mrs. Montague hinzu. »Willkommen in unserem Haus.«

Ich folgte ihnen hinein, der Labrador hechelte neben mir. Mir fiel auf, dass Jonnys Vater trotz seines Holzbeins einen sehr geschmeidigen Gang hatte.

»Jonny, mein Schatz, bitte bring Posys Koffer ins Gästezimmer.«

»Natürlich, Ma.«

Gehorsam trug Jonny mein Gepäck die Treppe hinauf, während seine Mutter mich den Gang entlang in eine saubere weiße Küche führte. Auf der Anrichte stand ein köstlich aussehender Sandkuchen. »Es ist so schön draußen, ich dachte, wir könnten Tee im Garten trinken. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen.«

»Ganz im Gegenteil«, sagte ich und folgte ihr zur Küchentür hinaus auf eine Terrasse, die von einer Rabatte süß duftender Gardenien eingerahmt war. Zwei junge Frauen deckten gerade den Tisch und sahen lächelnd zu mir auf.

»Das sind Dorothy und Frances«, stellte Mrs. Montague vor, und die beiden Mädchen kamen mich begrüßen.

»Bitte nenn mich Dotty«, sagte eine von ihnen und gab mir ebenso fest die Hand wie ihr Vater.

Beide hatten das gleiche glatte blonde Haar wie Jonny und genauso hellblaue Augen wie er, und sie waren so groß wie ich. Ich freute mich, andere Frauen ausnahmsweise einmal nicht zu überragen.

»Jonny hat noch nie ein Mädchen nach Hause eingeladen«, sagte Frances kichernd. Ich vermutete, dass sie die jüngere der beiden Schwestern war, etwa sechzehn. »Hat er dir schon einen Heiratsantrag gemacht?«

»Frances!« Jonny war hinter mich getreten. »Du bist wirklich unmöglich!«

Beim Tee beobachtete ich Jonnys Umgang mit seiner Familie und empfand eine warme Zuneigung zu ihm. Den neckenden Ton zwischen ihm und seinen Schwestern kannte ich nicht, ebenso wenig wie die sachten, aber amüsierten Ermahnungen seiner Mutter, doch als ich Schwärme gelber Schmetterlinge über den lilafarbenen Verbenen im makellosen Garten flattern sah, fühlte ich mich sehr wohl und entspannt.

»Jonny hat uns erzählt, dass Sie bei Ihrer Großmutter in Cornwall leben. Es muss ein ruhiges Leben dort sein«, sagte Mrs. Montague, als Frances und Dorothy auf der anderen Seite des Tischs heftig über etwas debattierten.

»Ja, es geht dort beschaulich zu«, sagte ich und trank einen Schluck Tee. »Aber es ist auch sehr rau, vor allem im Winter.«

»Jonny hat auch erzählt, dass Sie Botanik studieren. Vielleicht könnten Sie und ich morgen einen Rundgang durch den Garten machen, und Sie könnten mir einige Ratschläge geben.«

Ich blickte in ihre freundlichen blauen Augen und empfand zwei verwirrend gegensätzliche Gefühle: Freude, so herzlich von Jonnys Familie aufgenommen zu werden, und Neid, dass er mit so viel Liebe von seinen Eltern aufgewachsen war und eine Mutter hatte, die sich für sein Leben interessierte.

»Das würde mich sehr freuen«, antwortete ich und schluckte, damit der Kloß in meinem Hals verschwand.

In den folgenden Tagen half ich Mrs. Montague, die ich auf ihren Wunsch hin Sally nannte, in der Küche und gab ihr Ratschläge, was sie gegen Nacktschnecken im Garten unternehmen konnte. Ich unterhielt mich mit Mr. Montague über seine Tage beim Militär und ging mit Frances und Dotty im hübschen Cobham einkaufen. Und jeden Abend, wenn ich in mein Bett fiel, fragte ich mich, ob ein solches Leben wohl das war, was man normal nannte, und ob ich der letzte Mensch auf der Welt war, der die Regieanweisung dafür bekam.

An dem Abend, bevor ich für den Rest des Sommers nach Cornwall zurückfahren sollte, borgte Jonny sich noch einmal den Wagen seines Vaters und fuhr mit mir in ein Restaurant in Cobham. Er wirkte unverkennbar nervös und stocherte nur in seinem Rinderschmorbraten, während ich meinem herzhaft zusprach.

Beim Nachtisch – einem mittelmäßigen Apfelauflauf mit erkalteter Vanillesauce – nahm Jonny meine Hand und lächelte zaghaft.

»Posy, ich möchte dir danken, dass du so großartig mit meiner Familie warst.«

»Es war mir ein Vergnügen, Jonny, wirklich. Sie sind alle entzückend.«

»Die Sache ist, Posy … wir sind jetzt seit sieben Monaten zusammen, und ich … na ja, ich möchte dir sagen, dass meine Absichten völlig ehrenhaft sind. Ich hoffe … Ich meine, ich hoffe, dass ich dich eines Tages förmlich fragen kann, ob du für immer die Meine sein möchtest, aber das ist erst möglich, wenn ich von Cambridge abgegangen bin und meinen Lebensunterhalt als Offizier verdiene. Also«, fuhr er fort, »habe ich mir überlegt, dass wir uns einander vielleicht inoffiziell versprechen könnten, uns zu verloben. Eine Vorverlobung sozusagen. Was hältst du davon?«

Ich trank einen Schluck Wein und lächelte ihn an, erfüllt von der Wärme der Tage, die ich mit seiner Familie verbracht hatte.

»Ja«, sagte ich.

Als wir ins Haus zurückkehrten, brannte kein Licht mehr, die Familie war bereits zu Bett gegangen. Jonny nahm mich an der Hand, und wir schlichen auf Zehenspitzen nach oben, um sie nicht zu wecken. Vor meinem Zimmer umfing Jonny mein Gesicht und gab mir einen Kuss.

»Posy«, flüsterte er an meinem Hals. »Würdest du … kommst du mit in mein Zimmer?«

Wenn wir nun vorverlobt sind, muss es früher oder später wohl sein, dachte ich, als ich mich von ihm den Gang entlang zu seinem Zimmer führen ließ, das praktischerweise auf der entgegengesetzten Seite des Hauses von dem seiner Eltern lag.

In seinem Zimmer führte er mich sacht zu seinem Bett, und wir küssten uns wieder, dann öffnete er den Reißverschluss meines Kleides und streichelte mich zärtlich. Wir legten uns nebeneinander auf sein schmales Bett, und ich spürte sein Gewicht auf mir, zum ersten Mal Haut an Haut. Als er sich plötzlich aufsetzte, aus seiner Nachttischschublade ein kleines, quadratisches Kuvert holte und sagte, er müsse mich schützen, schloss ich fest die Augen. Ein paar Sekunden später, als er sich in mich schob, unterdrückte ich einen Schmerzensschrei.

Alles war sehr viel schneller vorbei, als ich erwartet hatte. Jonny wälzte sich von mir, legte die Arme um meine nackten Schultern und zog mich an sich.

»Ich liebe dich, Posy«, sagte er schläfrig, und wenig später hörte ich ihn leise schnarchen.

Ich schlüpfte wieder in meine Unterwäsche, suchte mein Kleid und meine Schuhe zusammen und schlich ins Gästezimmer zurück. Dort lag ich wach, bis im Fenster der erste Morgen dämmerte, und fragte mich, weswegen alle nur so viel Theater darum machten.

Im Herbst kehrten wir nach Cambridge zurück und schlüpften wieder in die alte Routine – mit einer großen Veränderung: Ungefähr einmal im Monat verbrachten wir die Nacht zusammen in einer Pension am Rand von Cambridge. Da Untergraduierte, die mit jemandem des anderen Geschlechts in ihren Collegeräumen erwischt wurden, sofort der Uni verwiesen wurden, machte die Pension ein Bombengeschäft, und oft sah ich bekannte Gesichter dort ein und aus gehen.

»Himmel, du bist so unglaublich spießig, Posy«, sagte Andrea abschätzig, als ich einmal von einer Übernachtung außer Haus zurückkehrte. »Erst gestern Abend habe ich Arabella Baskin bei George Rustwell im King’s aus dem Fenster klettern sehen.«

»Sie hat einfach Glück, dass ihr Freund seine Räume im Erdgeschoss hat. Abgesehen davon möchte ich es nicht riskieren, meinen Abschluss hier zu verpatzen, oder?«, gab ich zurück.

Von unserer Vorverlobung erzählte ich niemandem und stürzte mich in die Arbeit mit Dr. Walters. Ich war Teil seines renommierten Forschungsprojekts über die Zellgenetik von Pflanzen in der Familie der Asterngewächse geworden und eine der wenigen Untergraduierten – und natürlich die einzige Frau –, die an dem Projekt mitarbeitete. Unter seiner Leitung wuchs mein Selbstvertrauen, ich scheute mich nicht mehr, in Seminaren meine Meinung zu äußern. Außerdem hatte ich an der Botanikschule einen Ruf dafür erworben, Pflanzen vorm Eingehen zu retten, und so roch es in meinem kleinen Zimmer in der New Hall jetzt nach Erde, denn mir wurden kränkelnde Graslilien und Kakteen und einmal sogar ein Ginkgo-Bonsai anvertraut.

»Angeblich ist er fünfzig Jahre alt«, sagte Henry, einer der Labortechniker, als er mir den kleinen Baum überreichte, dessen Blätter kläglich herabhingen. »Er hat meinem Großvater gehört, und ich möchte nach den vielen Jahren nicht für den Tod des Baums verantwortlich sein, Posy. Das würde meine Familie mir nie verzeihen.«

Morgens, noch vor dem Frühstück, versorgte ich die versammelten Pflanzen in meinem Zimmer, danach fuhr ich mit dem Fahrrad zur Botanikschule. Im Gegensatz zu meinen Freundinnen zählte ich die Wochen, Monate und Jahreszeiten in Cambridge nicht nach Trimestern oder Abgabeterminen, sondern nach dem natürlichen Rhythmus der Flora, die um mich her wuchs. Ich fertigte detaillierte botanische Zeichnungen der vielen ausgefallenen und exotischen Pflanzen, die es im Herbarium gab, aber am glücklichsten war ich, wenn ich die Hände in die feuchte, weiche Erde steckte und Keimlinge umsetzte, die aus ihrem ersten Töpfchen herausgewachsen waren.

Als die Prüfungen zum Ende des zweiten Jahres vorüber waren, erhielt ich die Nachricht, ich solle mich zu einer Besprechung mit Dr. Walters in seinen Räumen einfinden. In der Nacht zuvor konnte ich nicht schlafen. Besorgt fragte ich mich, weshalb er mich wohl sprechen wolle, und düstere Vorstellungen, ich würde wegen eines mir unbekannten Vergehens in Schimpf und Schande der Uni verwiesen werden, gingen mir durch den Kopf.

»Kommen Sie doch herein, Miss Anderson«, bat er mich lächelnd, als ich den eleganten eichengetäfelten Raum betrat. »Einen Sherry?«

»Ähh … ja, gerne. Danke.«

Er reichte mir ein Glas und bedeutete mir, mich auf den rissigen, verblichenen Lederstuhl auf der anderen Seite seines Schreibtischs zu setzen. An den Wänden hingen viele seiner akribischen botanischen Zeichnungen, und ich wünschte, ich könnte sie eingehender studieren.

»Miss Anderson, ich brauche Ihnen wohl nicht eigens zu sagen, dass Sie einen bedeutenden Beitrag zu unserem Projekt geleistet haben«, begann er, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Hände über dem Bauch. Dann betrachtete er mich über den Rand seiner Brille hinweg. »Haben Sie sich schon einmal Gedanken darüber gemacht, was Sie tun möchten, wenn Sie Cambridge verlassen?«

»Nun ja«, sagte ich. Mein Mund war trocken geworden. »Ich arbeite gerne mit Pflanzen, es gefällt mir, sie zu pflegen, wenn es also die Möglichkeit gäbe, für Sie als Postgraduierte zu forschen …«

»Ich fühle mich geschmeichelt, Miss Anderson, aber ich habe etwas anderes für Sie im Sinn.« Er trank einen Schluck von seinem Sherry. »Sie werden bemerkt haben, dass sich unsere Forschung zunehmend dem Detaillierten zuwendet – der genetischen Ebene –, und Sie haben eine Art, mit Pflanzen umzugehen, die nicht im Labor vergeudet werden sollte. Haben Sie je die Kew Gardens in London besucht?«

Bei der Erwähnung von Kew lief mir ein Schauer den Rücken hinunter. »Nein, aber ich habe wunderbare Sachen davon gehört«, sagte ich ergriffen.

»Mein guter Freund Mr. Turrill ist Kustos des Herbariums, aber auch einiger anderer Gewächshäuser«, sagte er. »Ich glaube, Sie wären bestens geeignet, dort zu arbeiten.«

Ich war sprachlos. »Ich …«

»Natürlich würde ein Abschluss mit einer Eins helfen«, fuhr er fort, »aber nach allem, was ich von Ihren Noten gesehen habe, dürfte das kein Problem für Sie sein. Also – soll ich bei Mr. Turrill ein gutes Wort für Sie einlegen?«

»Himmel«, sagte ich, völlig überwältigt. »Das wäre fantastisch!«

Ich kam mir verloren vor, als Andrea und Celia, die beide ein Jahr vor mir begonnen hatten, Cambridge verließen. Bei ihrer Abschlussfeier sahen sie beide großartig aus in ihren schwarzen Roben, deren pelzgefütterte Kapuze ihnen ordentlich über den Rücken hing. Celia hatte sich einige Monate zuvor mit Matthew verlobt und freute sich auf ihre Hochzeit in Gloucestershire im August.

»Glaubst du, dass du je arbeiten wirst?«, fragte ich sie, als ich ihr beim Verstauen ihrer Habseligkeiten zusah.

»Ich habe mich bei zwei Lehrerstellen beworben, und bis die Kinder kommen, werde ich sicher arbeiten. Wir werden das Geld brauchen – Matthews Jurastudium dauert noch eine Weile.« Schulterzuckend umarmte sie mich. »Meld dich, Posy-Schätzchen, ja?«

Anschließend ging ich nach unten, um mich von Andrea zu verabschieden.

»Du lieber Himmel, ich bin doch bloß in der British Library in London, Posy«, sagte sie, als sie die Tränen in meinen Augen bemerkte. »Und nächstes Jahr bist du in Kew, da werden wir uns ständig treffen.« Dann sah sie mir ernst ins Gesicht. »Versprichst du mir, dass du deinen Militär-Jonny nicht zu bald heiratest? Leb zuerst eine Weile dein eigenes Leben, ja?«

»Doch, das wünsche ich mir auch. Wir sehen uns in London.« Lächelnd verließ ich sie und ging meinen Koffer für den Sommer in Cornwall packen.

In meinem letzten Jahr in Cambridge kam ich mir vor, als sauste ich durch einen Tunnel mit nur einem Ziel vor Augen: in Kew zu arbeiten. Eines Tages im April, kurz vor meinen Abschlussexamen, kam Dr. Walters im Herbarium auf mich zu.

»Mr. Turrill in Kew hat sich bei mir gemeldet, Miss Anderson. Ein Vorstellungsgespräch ist für Sie vereinbart, am kommenden Montag um zehn Uhr dreißig. Geht das für Sie?«

»Aber natürlich!«, sagte ich eifrig.

»Dann teile ich das Mr. Turrill mit. Viel Glück, Miss Anderson.«

Am Morgen des Vorstellungsgesprächs kleidete ich mich sorgsam an, wählte meinen besten Rock, dazu eine Bluse, und steckte mein Haar zu einem Chignon hoch, um mir zumindest einen gewissen professionellen Anstrich zu geben. Dann legte ich meine botanischen Zeichnungen in die Ledermappe, die Jonny mir zu Weihnachten geschenkt hatte. Ich hatte ihm nichts von dem Vorstellungsgespräch erzählt, sondern wollte erst erfahren, ob ich die Stelle bekommen hatte, bevor ich über die Zukunft sprechen wollte. Bis zu dem Zeitpunkt hatten wir zwar sehr viel über seine Karriere geredet, aber nicht über meine.

Ich kam genau zur Stoßzeit am Bahnhof King’s Cross an, drängte mich in die U-Bahn Circle Line und stieg dann in die District Line nach Kew Gardens um. Es war ein sonniger, frischer Morgen, die Kirschbäume entlang der Straßen standen in voller Blüte. Vor mir tauchte ein beeindruckendes gusseisernes Tor auf, neben dem rechts und links verzierte Säulen standen. Ich trat durch ein kleines Seitenportal und fand mich in einem großen Park wieder, dessen Mittelpunkt ein See bildete, der den blauen Himmel reflektierte. Mäandernde Wege führten zu verschiedenen viktorianischen Gebäuden und Gewächshäusern. Ich hielt mich an die Wegbeschreibung, die Dr. Walters mir gegeben hatte, und machte mich auf zum Hauptempfang.

Dort ging ich zu einer jungen Frau mit einer modischen Katzenaugenbrille, die hinter einem Schreibtisch saß.

»Guten Tag«, sagte ich und wünschte, mein Mund wäre nicht so trocken. »Ich bin Posy Anderson, und ich habe um zehn Uhr dreißig ein Vorstellungsgespräch bei Mr. Turrill.«

»Bitte nehmen Sie mit den anderen Platz, Sie werden bald aufgerufen«, sagte sie mit einer gelangweilten Stimme.

Ich drehte mich um und sah drei junge Männer in dunklen Anzügen in einem kleinen Wartebereich sitzen; sie alle hatten ähnliche Ledermappen wie ich dabei. Als ich mich zwischen ihnen niederließ, wurde mir noch deutlicher bewusst, dass ich eine Frau war.

Eine Stunde verging, die Männer wurden einer nach dem anderen in ein kleines Büro gebeten, dann kehrten sie zurück und verließen das Gebäude, ohne zum Abschied auch nur zu nicken. Nachdem der letzte junge Mann gegangen war, saß ich da, hielt meine Mappe mit schwitzigen Händen umklammert und fragte mich, ob sie mich vielleicht vergessen hatten.

»Miss Anderson?«, rief eine tiefe Stimme.

Ein großer Mann in einem Tweedanzug trat aus dem Büro, zwei freundliche blaue Augen funkelten hinter einer dicken runden Brille.

»Ja.« Hastig stand ich auf.

»Von dem vielen Reden bin ich durstig geworden. Würden Sie mich auf eine Tasse Tee begleiten?«, fragte er.

»Ich … ja, gerne.«

Er führte mich zum Gebäude hinaus, und wir spazierten durch den Park. Die Sonne schien mir warm ins Gesicht.

»Also, Miss Anderson«, sagte er und steckte seine Hände in die Taschen. »Dr. Walters hat mir eine Menge von Ihnen erzählt.«

Ich nickte, zu nervös, um zu sprechen.

»Ich bin seit kurz nach dem Krieg Kustos des Herbariums«, fuhr er fort, »und seitdem hat sich hier vieles verändert.«

»Ja«, sagte ich. »Ich habe all Ihre Werke gelesen, Sir. Ihr Klassifikationssystem nach Blattform ist brillant.«

»Finden Sie? Das freut mich. Dieses Jahr gehe ich in den Ruhestand. Es wird mir sehr leidtun, Kew zu verlassen. Wissen Sie, wir sind hier eine richtige Familie, und ein neues Mitglied für den Clan zu wählen ist eine Herausforderung. Dr. Walters hat gesagt, dass Ihre botanischen Illustrationen sehr genau sind.«

»Ja, obwohl ich keine Kunstakademie besucht habe. Aber ich habe schon als kleines Mädchen Pflanzen gezeichnet.«

»Das ist die beste Art zu lernen«, sagte er. »Wir brauchen jemanden, der ebenso Künstler wie Naturwissenschaftler ist. Sowohl das Herbarium als auch das Jodrell-Labor werden in den nächsten Jahren erheblich erweitert werden, und wir brauchen einen Mitarbeiter, der als Vermittlungsstelle zwischen den beiden agiert. Ah, hier sind wir ja.«

Wir waren bei einer chinesischen Pagode inmitten eines gepflegten Gartens angelangt. Davor standen in der Sonne mehrere kleine Tische mit Stühlen, und Mr. Turrill bedeutete mir, Platz zu nehmen. Eine junge Frau mit einer Schürze trat an den Tisch.

»Das Übliche, Mr. Turrill?«, fragte sie.

»Ja, meine Liebe, und vielleicht etwas Kuchen für Miss Anderson und mich«, sagte er nickend. Dann wandte er sich wieder mir zu. »So, und jetzt lassen Sie doch mal Ihre Illustrationen sehen.«

Ich fummelte am Verschluss meiner Mappe, dann breitete ich die Bögen auf dem Tisch aus. Mr. Turrill nahm seine Brille ab und studierte die Zeichnungen eingehend.

»Sie haben ein sehr gutes Auge, Miss Anderson. Die Zeichnungen erinnern mich etwas an das Werk von Miss Marianne North.«

»Die bewundere ich sehr«, sagte ich geschmeichelt. Marianne North war eine Frau, für die ich in der Tat große Hochachtung empfand. Sie war in viktorianischer Zeit eine Pionierin gewesen, die den Mut gehabt hatte, auf der Suche nach Pflanzen ganz allein durch die Welt zu reisen.

»Die Arbeit hier in Kew wäre vielfältig. Sie wären vorwiegend im Herbarium tätig, um neue Pflanzen zu zeichnen und zu katalogisieren, und bisweilen würden Sie im Jodrell-Labor bei der Forschung zur Zellgenetik helfen. In den Gewächshäusern packen wir alle mit an. Dr. Walters hat gesagt, Sie hätten ein Händchen dafür, allen Pflanzen in Ihrer Obhut zu einem zweiten Leben zu verhelfen.«

Ich errötete. »Ich versuche einfach, auf ihre Bedürfnisse einzugehen.«

»Großartig! Wir bekommen hier in Kew viele exotische Pflanzen aus aller Herren Länder, bei denen wir oft keine Ahnung haben, unter welchen Bedingungen sie am besten gedeihen, das heißt, das erfordert viel Experimentieren … und eine große Portion Glück!« Er lachte leise und betrachtete mich eingehender.

In dem Moment näherte sich eine Frau mit gebräuntem Gesicht und kurzen braunen Haaren dem Tisch. Sie trug einen praktischen Hosenanzug und hatte eine Botanisiertrommel – ein stabiles Ledergefäß für Pflanzen – über die Schulter geschlungen.

»Und wem machst du heute den Hof, William?«, fragte sie lachend.

»Ah, Miss Anderson, das ist Jean Kingdon-Ward, eine unserer berühmten Pflanzenjägerinnen«, sagte Mr. Turrill und stand auf, um sie zu begrüßen. »Sie ist gerade aus Birma zurückgekehrt.«

»Und von Insektenstichen übersät«, ergänzte sie lachend und gab mir die Hand. »Es freut mich, Sie kennenzulernen, Miss Anderson.«

»Miss Anderson macht demnächst ihren Abschluss in Cambridge, und wir ziehen sie in Erwägung für eine Position in Kew.«

»Kew ist der schönste Ort der Welt, um zu arbeiten, Miss Anderson«, sagte Jean. »William, soll ich die Pflanze direkt ins Herbarium bringen?«

»Ja, aber diesmal untersuch sie bitte gründlich nach unseren Insektenfreunden, bevor du sie ablegst«, sagte er und verzog das Gesicht. »Muss ich dich an den Raupenbefall erinnern, den wir letztes Jahr hatten?«

»Der ewige Pedant«, sagte Jean und warf mir ein Lächeln zu, ehe sie Richtung Herbarium weiterging.

»Reisen Sie gern, Miss Anderson?«, fragte Mr. Turrill, als unser Tee und Kuchen serviert wurden.

»Durchaus«, sagte ich, trank einen Schluck Tee und dachte mir, dass ich, um in Kew zu arbeiten, alles machen würde, was sie verlangten.

»Jonny, mein Schatz, ich muss dir etwas erzählen.«

Wir lagen in unserer Pension im Bett, hatten gerade miteinander geschlafen und rauchten eine Zigarette.

»Was, mein Liebling? Du siehst schrecklich ernst aus.«

»Mir ist eine Stelle in Kew Gardens in London angeboten worden. Ich werde im Herbarium arbeiten und Pflanzen zeichnen und katalogisieren.«

»Aber das ist ja großartig!«, antwortete Jonny und drehte sich mit einem strahlenden Lächeln zu mir. Aus irgendeinem Grund hatte ich gedacht, dass er ärgerlich sein würde, also empfand ich große Erleichterung, als er mich beglückwünschte.

»Ich werde an der Mons in Aldershot sein, von dort ist es mit dem Zug nur eineinhalb Stunden nach London. Das heißt, wir können uns regelmäßig sehen, wenn ich nach der Grundausbildung erst einmal das Gelände verlassen darf. Wo wirst du wohnen?«

»Ach, Estelle hat mir vorgeschlagen, bei ihr einzuziehen. Ihre Mitbewohnerin geht in einem Monat zu einem Ballett in Italien, ich kann ihr Zimmer übernehmen.«

»Das klingt perfekt, Posy, obwohl Estelle manchmal über die Stränge schlägt. Du wirst dich von ihr doch nicht auch dazu verleiten lassen, oder?«

»Natürlich nicht, mein Schatz. Wir werden uns sowieso kaum sehen, ich werde den ganzen Tag arbeiten und sie die ganze Nacht tanzen.«

»Zumindest hast du etwas Sinnvolles zu tun, bis ich meine Ausbildung abgeschlossen habe, und dann«, er drückte mich an sich, »dann reisen wir um die Welt.«

Ich beschloss, das Gespräch nicht weiter zu vertiefen; dass Jonny davon ausging, ich würde meine heiß ersehnte Stelle auf ein Wort von ihm hin aufgeben, war ein Thema für ein anderes Mal.

Mein letzter Mai-Ball war bittersüß. Jonny und ich und eine Gruppe Untergraduierter von St. John’s und der New Hall, die alle Cambridge verließen, tanzten bis zum Morgengrauen und tranken Champagner, bis ich am Ufer der Cam an Jonnys Schulter sank. Rührselig vom vielen Alkohol sah ich die Sonne ein allerletztes Mal über dem Fluss aufgehen.

»Posy, ich liebe dich«, murmelte Jonny.

»Hmm, ich liebe dich auch«, sagte ich müde, schloss die Augen und wäre am liebsten eingeschlafen, aber Jonny setzte sich auf, also legte ich den Kopf in das weiche, süß duftende Gras.

»Posy?«

Ich zwang mich, die Augen zu öffnen, und sah Jonny auf einem Knie vor mir. In der Hand hielt er ein kleines Schmuckkästchen.

»Ich weiß, wir haben uns schon vor Längerem vorverlobt, und deswegen dachte ich, dass ich das, bevor sich unsere Wege vorläufig trennen, offiziell machen möchte. Als ich Ostern zu Hause war, hat meine Mutter mir den Ring ihrer Großmutter gegeben, und seitdem trage ich ihn mit mir herum und warte auf den richtigen Moment. Es war ein wundervoller Abend, wir beide verlassen Cambridge, und … also«, er holte tief Luft, »Posy Anderson, willst du mich heiraten?«

Er öffnete das Kästchen, in dem ein Ring mit drei Saphiren lag, umgeben von winzigen Diamanten, und den steckte er mir an den Finger.

»Ich … ja«, antwortete ich und sah, wie der Ring in den ersten Sonnenstrahlen funkelte. Aber obwohl ich, als er mich an sich zog und küsste, nicht die Aufregung empfand, die ich als Frischverlobte vielleicht empfinden sollte, erwiderte ich seinen Kuss.