Kapitel 2
»Bitte, Jake, jetzt geh deine Schuhe suchen, und zwar sofort!«
»Aber Mummy, ich habe meine Coco Pops noch nicht aufgegessen, und …«
»Das ist mir egal! Wir kommen noch zu spät. Los jetzt!«
Als Jake die Küche verließ, wischte Amy Montague der vierjährigen Sara den mit Cornflakes verschmierten Mund ab und zog ihr die Schuhe an. Sie waren abgestoßen und fast schon zu klein für die Füße ihrer Tochter. Sara lief die Nase, ihre Haare waren von der Nacht noch zerzaust, und die Hose, die sie von Jake geerbt hatte, endete auf halber Wadenhöhe.
»Du siehst völlig verwahrlost aus«, sagte Amy seufzend, fischte die Haarbürste aus der Unmenge an Dingen, die auf dem Sideboard lagen, und fuhr Sara damit durch die dichten blonden Locken.
»Aua, Mummy!«, schrie Sara durchaus nachvollziehbar.
»Es tut mir leid, mein Schatz, aber wenn ich dich so zur Schule gehen lasse, hält Miss Ewing mich noch für eine Rabenmutter.«
»Ich muss in die Schule?« Sara verzog das Gesicht. »Aber, Mummy, da gefällt es mir nicht.«
»Ach, mein Schatz, deine Lehrerin sagt, dass du dich richtig gut einlebst, und Josie holt dich danach ab und nimmt dich und Jake mit zu sich. Von dort holt Mummy dich dann ab, wenn sie mit der Arbeit fertig ist«, ergänzte sie.
»Aber ich mag die Schule nicht, und ich mag Josie nicht. Ich will bei dir bleiben, Mummy.« Das Gesicht des kleinen Mädchens verzog sich, es begann zu weinen.
»Sara, mein Schatz, natürlich magst du die Schule, und Josie magst du auch. Und zum Tee besorgt Mummy dir einen Schokoladenkuchen, wie wär’s damit?«
»Also gut.« Sara nickte, etwas versöhnt.
»Jake?! Wir fahren jetzt!«, rief Amy und schob Sara in den Flur. Sie zog ihrer Tochter den Anorak an, schlüpfte in ihren Mantel und wühlte in ihrer Tasche nach den Schlüsseln.
Jake stürmte lautstark die Treppe hinunter, die Schuhe in der Hand.
»Jake, zieh sie an.«
»Ich will aber, dass du das machst, Mummy. Schläft Daddy noch?«
»Ja.« Amy steckte Jakes Schuhe an seine Füße. »So, jetzt gehen wir.«
»Aber ich will ihm Tschüss sagen«, beschwerte Jake sich, als Amy Sara an der Hand nahm und die Haustür öffnete.
»Das geht nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil er müde ist. Jetzt los mit euch!«
Nachdem sie die Kinder vor der Schule abgesetzt hatte, fuhr Amy das Auto zur Werkstatt; es hatte vor Kurzem die technische Überprüfung nicht bestanden. Während sie flott nach Hause ging, überlegte sie sich, was sie in der Stunde, bevor sie zur Arbeit musste, alles erledigen wollte: in der Küche aufräumen, Wäsche waschen und eine Einkaufsliste schreiben. Wie sie ohne Auto zurechtkommen sollte, war ihr schleierhaft, es bedeutete, dass ihr ohnehin schwieriges Leben praktisch unmöglich würde. Abgesehen davon hatte sie keine Ahnung, wovon sie die Reparatur bezahlen sollten, aber irgendwie mussten sie das Geld auftreiben. So einfach war das.
Amy bog auf den Pfad zu dem armseligen Häuschen ab, das ihnen seit sechs Wochen als Zuhause diente. Es lag an einer Straße am Ortsrand, nur durch das Moor vom Meer getrennt. Im Grunde war es eine geräumige Strandhütte und hinreißend, wenn die Sonne schien, aber letztlich nur für den Sommer gebaut. Amy wusste, dass die dünnen Holzwände und die großen Fenster im kommenden Winter wenig Schutz vor den Elementen bieten würden. Es gab keine richtige Heizung, abgesehen von einem launischen Holzofen im Wohnzimmer, der mehr Rauch als Wärme erzeugte, wie sie von ihrem Versuch am Vorabend wusste. Oben befanden sich zwei klamme Schlafzimmer, die so klein waren, dass der Großteil ihrer Habseligkeiten in Kisten verstaut hinten im Schuppen lagerte.
Es hatte Sam in seinem Stolz tief verletzt, als sie wegen Geldmangel aus ihrem vorherigen Haus ausziehen mussten, und sie wollte ihn nicht noch weiter kränken und sich über ihr gegenwärtiges Heim beklagen, doch es fiel Amy schwer, ihre übliche Zuversicht zu bewahren. Sicher, ihr Mann tat sein Bestes, und er hatte unglaublich viel Pech gehabt, ein Geschäftsplan nach dem anderen war gescheitert. Wie konnte sie ihm da sagen, dass Sara ein neues Paar Schuhe brauchte, dass Jakes Wintermantel zu klein wurde und dass sie selbst erschöpft war vom Versuch, mit ihrem geringen Lohn als Rezeptionistin den Haushalt zu führen und jeden Tag Essen auf den Tisch zu stellen?
Sam stand in Boxershorts in der Küche und stellte gerade gähnend den Wasserkocher an.
»Morgen, Süße. Tut mir leid, dass es bei mir gestern so spät geworden ist. Ken und ich mussten viel besprechen.«
»Ist es gut gelaufen?« Beklommen sah Amy zu ihm. Seine blauen Augen waren blutunterlaufen, sein Atem roch nach Alkohol. Sie war froh, dass sie schon geschlafen hatte, als er nach Hause gekommen war.
»Sehr gut.« Sam blickte zu ihr hinunter. »Ich glaube, ich werde schon bald die Geschicke des Hauses Montague zum Besseren wenden.«
Normalerweise ließ allein eine solche Bemerkung Amy wieder Hoffnung schöpfen, doch an diesem Morgen klangen Sams Worte hohl in ihren Ohren.
»Mit was genau?«
Er schob sie an den Oberarmen ein Stück von sich. »Mein Schatz, vor dir steht der offizielle Geschäftsführer von Montague Property Development Limited.«
»Wirklich?«
»Jawoll. Tasse Tee?«
»Nein, danke. Aber wie viel genau verdienst du pro Woche?«, fragte Amy hoffnungsvoll.
»Ach, erst einmal nicht allzu viel, denke ich, aber meine Unkosten werden natürlich bezahlt.«
»Aber wenn du der Geschäftsführer bist, musst du dir doch ein Gehalt bezahlen, oder nicht?«
Sam ließ einen Teebeutel in den Becher fallen. »Amy, jetzt geht es darum auszugeben, um einzunehmen. Ich kann schlecht ein Gehalt verlangen, bis ich mich bewährt und ein Projekt an Land gezogen habe. In dem Fall bekomme ich fünfzig Prozent des Profits, das wird sich zu einem hübschen Sümmchen addieren.«
Amy sank der Mut. »Aber Sam, wir brauchen jetzt Geld, nicht in ein paar Monaten. Ich verstehe ja, dass du mit dieser Arbeit vielleicht in der Zukunft sehr viel Geld verdienen kannst, aber dir muss doch klar sein, dass wir nicht über die Runden kommen nur mit dem, was ich im Hotel verdiene, oder?«
Sam goss heißes Wasser in seinen Becher und stellte den Wasserkocher lautstark auf der Arbeitsfläche ab. »Und was schlägst du vor? Soll ich mir vielleicht einen miesen Job in einem Geschäft oder in einer Fabrik suchen, um ein paar zusätzliche Kröten nach Hause zu bringen?«
Genau das wünschte Amy sich im Grunde. Sie holte tief Luft. »Was ist denn das Schlimme an einer normalen Arbeitsstelle, Sam? Du hast eine gute Ausbildung, jede Menge Erfahrung in den unterschiedlichsten Bereichen, und ich sehe keinen Grund, weshalb du nicht eine sehr gut bezahlte Stelle in einem Büro finden könntest …«
»Was unsere Familie auf Dauer überhaupt nicht weiterbringt, Amy. Ich muss an die Zukunft denken und einen Weg finden, uns den Lebensstil zu ermöglichen, den wir wollen und verdienen. Wir wissen doch beide, dass das nicht geht, wenn ich für jemand anderen in einem blöden Büro arbeite.«
»Sam, im Moment zählt für mich nur, jeden Tag dafür zu sorgen, dass wir ein Essen auf dem Tisch haben. Ein Teil des Problems ist meiner Ansicht nach, dass wir zu oft an die Zukunft gedacht und zu viel spekuliert haben.« Erregt strich sie sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht. »Es ist nicht mehr wie früher, als wir uns kennengelernt haben. Wir tragen jetzt Verantwortung, wir müssen Kindern ein Zuhause bieten und sie versorgen, und von Luft und Liebe allein geht das nicht.«
Sam trank einen Schluck Tee und starrte sie dabei unentwegt an. »Willst du mir damit sagen, dass du den Glauben an meine Fähigkeit verloren hast, etwas Großes auf die Beine zu stellen?«
»Nein …« Der Ausdruck in seinen Augen verhieß nichts Gutes. »Natürlich glaube ich an dich und deine Fähigkeiten als Geschäftsmann, aber wäre es nicht möglich, dieses Projekt in deiner Freizeit voranzutreiben und nebenbei zu arbeiten, damit gleich etwas Geld ins Haus kommt?«
»Amy, verdammt noch mal! Du hast eindeutig nicht die geringste Ahnung, wie es in der Geschäftswelt zugeht. Wenn ich die Sache mit dieser Immobilienfirma durchziehen will, muss ich rund um die Uhr arbeiten.« Sams Gesicht war rot vor Wut geworden. Als sie zum Spülbecken ging, hielt er sie am Arm fest. »Ich mache das, mein Schatz, weil sonst du und ich und die Kinder bis an unser Lebensende in diesem beschissenen kleinen Haus festsitzen. Also, anstatt mich dafür zu kritisieren, dass ich mein Bestes tue, uns aus diesem Loch rauszuholen, wäre ich dir dankbar, wenn du mich dabei unterstützen würdest!«
»Ich …«, sagte sie. Sein Griff um ihren Arm wurde fester. »In Ordnung.«
»Gut.« Sam ließ sie los, nahm seinen Becher Tee und ging zur Küchentür. »Ich ziehe mich jetzt an, dann bin ich weg.«
Amy setzte sich und rieb sich den schmerzenden Arm. Reglos blieb sie sitzen, bis sie Sam die Treppe hinaufgehen und fünf Minuten später wieder herunterkommen hörte. Das ganze Haus zitterte, als er die Tür hinter sich ins Schloss warf.
Sie seufzte erleichtert und bemühte sich, die Tränen hinunterzuschlucken, in die sie jeden Moment auszubrechen drohte. Bedrückt ging sie nach oben in die Kammer, in der Sam und sie schliefen, weil nur im größeren Zimmer zwei Betten für die Kinder Platz fanden.
Sie ließ sich auf das ungemachte Bett fallen und starrte auf die feuchte Wand vor sich.
Was war in den letzten Jahren passiert? Wo hatte es angefangen schiefzulaufen?
Sie hatte Sam in der Bar des Swan in Southwold kennengelernt. Sie hatte in ihrem letzten Jahr an der Kunstakademie studiert und war zur Hochzeit einer Freundin aus London hergekommen, er hatte sich an dem Samstagabend auf einen Drink mit einem Freund im Pub des Hotels getroffen. Der hatte sich verspätet, und sie hatte eine kurze Auszeit von der klaustrophobischen Atmosphäre der Hochzeitsfeier gebraucht. Sie waren ins Reden gekommen, eins hatte zum anderen geführt, dann hatte er sie in London angerufen und zu einem Wochenende ins Haus seiner Familie außerhalb von Southwold eingeladen.
Amy wusste noch genau, wie sie Admiral House zum ersten Mal gesehen hatte. Es hatte die perfekten Proportionen und erinnerte an ein Puppenhaus, so hübsch war es; am liebsten hätte sie sofort angefangen, es zu malen. Sams Mutter Posy war so herzlich gewesen, ihr Besuch so entspannt, dass sie, als sie nach London in ihre kleine Wohnung zurückfuhr, davon träumte, in die Weite und den Frieden Suffolks zurückzukehren.
Sam hatte gerade sein Computerunternehmen gegründet und sie mit Nachdruck und Fantasie umworben. Sie hatte seine Lebensfreude ansteckend gefunden, seine Familie hinreißend und sein Bett warm und einladend.
Als er ihr am Ende ihres letzten Trimesters einen Heiratsantrag gemacht und ein Leben in Suffolk vorgeschlagen hatte, war ihr die Entscheidung nicht schwergefallen. Sie hatten ein kleines Stadthaus in einem der hübschen alten Sträßchen von Southwold gemietet und sich dort behaglich eingerichtet. Amy war mit ihrer Staffelei an den Strand gegangen, hatte Bilder vom Meer gemalt und für Touristen an eine Galerie im Ort verkauft, aber die Arbeit war saisonal. Als Sams Computerunternehmen bankrottgegangen war, hatte sie den ersten Job annehmen müssen, der ihr angeboten wurde – als Rezeptionistin im Feathers, einem behaglichen, wenn auch etwas altmodischen Hotel mitten im Ort.
Die vergangenen zehn Jahre waren ein einziges Auf und Ab gewesen, je nachdem, wie es gerade um Sams jeweiliges Unternehmen stand. Wenn alles gut lief, überschüttete er sie mit Blumen und Geschenken und führte sie zum Essen aus, und dann erinnerte sich Amy an den begeisterungsfähigen Mann, den sie einmal geheiratet hatte. Wenn es schlecht lief, sah das Leben allerdings sehr anders aus …
Und wenn Amy ganz ehrlich war, lief es schon ziemlich lange schlecht. Als er seine Filmproduktion auflösen musste, war Sam in Verzweiflung verfallen und hatte kaum das Haus verlassen.
Sie hatte ihr Bestes getan, es nicht noch schlimmer für ihn zu machen. Obwohl er tagsüber zu Hause war, hatte sie ihn nur selten gebeten, die Kinder von der Schule abzuholen oder die Einkäufe zu erledigen, während sie arbeitete. Um seinen Stolz zu bewahren, musste Sam sich weiterhin als Geschäftsmann betrachten, das wusste sie, und die Erfahrung hatte sie gelehrt, ihn in schlechten Phasen nicht zu behelligen.
»Aber was ist mit mir?«
Die Worte kamen ihr ungebeten über die Lippen. Jetzt war sie fast dreißig, und was hatte sie in ihrem Leben bislang erreicht? Sie hatte einen Mann, der fast ständig arbeitslos war, sie hatte kein Geld und musste in einer Bruchbude leben. Ja, sie hatte zwei wunderbare Kinder und eine feste Stelle, aber das war kaum die große Karriere als Künstlerin, von der sie vor ihrer Hochzeit geträumt hatte.
Und was seine Wutausbrüche betraf … Seine Aggression ihr gegenüber, vor allem nach ein paar Drinks, nahm ständig zu. Sie wünschte nur, sie könnte mit jemandem darüber reden, aber wem konnte sie solche Dinge schon gestehen?
Amy verwünschte ihr Selbstmitleid, schlüpfte in ihr dunkelblaues Arbeitskostüm und verteilte etwas Make-up auf ihrem blassen Gesicht. Sie war nur müde, das war alles, und Sam tat ja wirklich sein Bestes. Als sie das Haus verließ, nahm sie sich vor, zum Abendessen etwas Schönes zu besorgen. Es machte alles nur noch schlimmer, wenn sie sich zusätzlich zu den ganzen anderen Problemen auch noch stritten, und obwohl Amys Gefühl ihr sagte, dass dieses Unternehmen ebenso scheitern würde wie die vorherigen, wusste sie, dass ihr nichts anderes übrig blieb, als ihrem Mann zu vertrauen.
Es war Freitag und obendrein der Beginn des Southwold-Literaturfestivals. Entsprechend chaotisch ging es im Feathers Hotel zu. Die zweite Rezeptionistin hatte sich krankgemeldet, was bedeutete, dass Amy keine Mittagspause gemacht und somit den Wochenendeinkauf nicht erledigt hatte. Sie hatte sich mit einer Doppelbuchung, einer verstopften Toilette und einer Armbanduhr herumgeschlagen, die angeblich gestohlen war, bis sie eine halbe Stunde später wundersamerweise wieder auftauchte. Mit einem Blick auf die Uhr stellte Amy fest, dass sie in zehn Minuten gehen musste, um die Kinder von Josie, der Tagesmutter, abzuholen, und von Karen, der Rezeptionistin am Abend, war noch immer keine Spur zu sehen.
Mr. Todd, der Manager, war nirgends aufzutreiben, und als sie Sam auf dem Handy anrufen wollte, um ihn zu bitten, die Kinder abzuholen, hob er nicht ab. Sie wühlte in ihrer Tasche nach ihrem Adressbuch, nur um festzustellen, dass sie es zu Hause auf dem Küchentisch hatte liegen lassen. Den Tränen nahe rief sie die Auskunft an, musste aber erfahren, dass Josies Nummer nicht im Telefonbuch stand.
»Ist es in diesem Hotel wirklich unmöglich, einen Schaden beheben zu lassen?!«
Der Empfangstresen zitterte von der Wucht, mit der die Faust auf die Platte geschlagen wurde.
»Jetzt habe ich schon dreimal bei der Rezeption angerufen, damit aus dem verdammten Hahn endlich ein Tropfen warmes Wasser läuft!«
»Sir, es tut mir wirklich sehr leid, ich habe unserem Installateur Bescheid gesagt, und er hat versprochen, sich so bald wie möglich darum zu kümmern.« Amy wusste, dass ihre Stimme wegen des Kloßes in ihrem Hals unsicher klang.
»Verdammt noch mal, jetzt warte ich schon geschlagene zwei Stunden! Das ist eindeutig zu lang, und wenn Sie die Sache nicht innerhalb der nächsten zehn Minuten beheben, checke ich aus.«
»Ja, Sir, ich rufe gleich noch mal beim Installateur an.«
Ihre Hand zitterte, als sie nach dem Hörer griff, und Tränen stiegen ihr in die Augen, sosehr sie auch versuchte, sie hinunterzuschlucken. Bevor sie abheben konnte, sah sie Karen durch den Eingang kommen.
»Entschuldige, dass ich so spät dran bin, Amy. Auf dem Weg in die Stadt ist ein Laster liegen geblieben.« Karen stellte sich hinter den Tresen und zog sich den Mantel aus. »Alles in Ordnung?«
Achselzuckend fuhr Amy sich über die Augen.
»Geh schon, ich kümmre mich darum. Also, Mr. Girault.« Karen lächelte strahlend über die Rezeption hinweg. »Wie kann ich Ihnen helfen?«
Amy flüchtete in das rückwärtige Büro, kramte ein gebrauchtes Taschentuch aus ihrer Tasche und putzte sich kräftig die Nase. Dann zog sie hastig den Mantel über und ging mit gesenktem Kopf zur Eingangstür. Als sie dankbar in die kühle Abendluft hinaustrat, legte ihr unvermittelt jemand eine Hand auf die Schulter.
»Hören Sie, das tut mir wirklich sehr leid. Ich wollte Sie nicht kränken. Mir ist klar, dass Sie nichts dafür können.«
Amy drehte sich um und sah den Mann von der Rezeption. In ihrer Anspannung hatte sie sein Erscheinungsbild gar nicht richtig wahrgenommen, aber jetzt wurde ihr bewusst, dass er sehr groß war und breite Schultern hatte sowie welliges kastanienbraunes Haar und tief liegende grüne Augen, aus denen er sie jetzt mit einem besorgten Blick betrachtete.
»Nein, bitte entschuldigen Sie sich nicht. Es hatte nichts mit Ihnen zu tun. Und jetzt, wenn Sie verzeihen, ich bin schon spät dran, um meine Kinder abzuholen.«
»Natürlich.« Er nickte. »Es tut mir wirklich leid.«
»Danke.« Amy eilte die Straße weiter.
Als sie mit zwei übellaunigen, erschöpften Kindern und beladen mit Einkaufstüten vom Supermarkt nach Hause kam, stiegen ihr beim Anblick ihrer Schwiegermutter neben der Gartenpforte fast wieder Tränen in die Augen.
»Guten Abend, Posy.« Sie zwang sich zu einem Lächeln und schloss die Haustür auf.
»Liebes Kind, du siehst ja völlig erschlagen aus. Komm, lass dir helfen.« Posy klemmte die Dose, die sie in der Hand hielt, unter einen Arm und nahm ihr einige Einkaufstüten ab. Innen setzte sie Sara und Jake an den Küchentisch und bat Amy, den Wasserkocher einzuschalten, während sie für die Kinder Toast mit Marmite bestrich und eine Dose Nudeln aufwärmte.
»Hier ist es ja eiskalt«, bemerkte sie.
»Ich fürchte, es gibt keine Heizung«, erklärte Amy. »Eigentlich ist es ein Sommerhaus.«
Posy sah sich in der winzigen, trübseligen Küche um, blickte auf die Glühbirne, die ohne Schirm von der Decke hing und jeden Spritzer an der Wand erleuchtete.
»Ein Palast ist es nicht gerade, oder?«
»Nein«, antwortete Amy, »aber mit etwas Glück bleiben wir nicht lange hier, nur bis wir finanziell wieder auf die Beine kommen.«
»Du weißt, ich habe Sam gesagt, dass ihr in Admiral House alle herzlich willkommen seid, solange ihr wollt. Es kommt mir lächerlich vor, das ganze Haus für mich zu haben, während ihr hier so beengt wohnt.«
»Du weißt, dass Sams Stolz das nie zulassen würde.«
»Nun ja, meine Liebe«, sagte Posy, öffnete die Dose und hob einen perfekten Schokoladenkuchen heraus, »bisweilen kommt Hochmut vor dem Fall, und eigentlich ertrage ich den Gedanken nicht, dass ihr hier lebt.« Sie schnitt den Kuchen in Scheiben. »Hier, Omas schönster Kuchen, sobald ihr euren Toast und die Nudeln aufgegessen habt. Möchtest du auch ein Stück, Amy?«
»Nein, danke.« Amy fürchtete, dass er ihr im Hals stecken bleiben würde.
Posy betrachtete ihre Schwiegertochter. Sie war zwar immer noch schön, aber ihr Rock hing ihr lose um die Hüften, ihre blauen Augen wirkten in dem blassen Gesicht riesig. Ihr sonst wunderschönes langes blondes Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden, aus dem sich Strähnen lösten, und musste dringend gewaschen werden.
»Liebes, du bist viel zu dünn. Isst du auch genug?«
»Ja, Posy. Wirklich, mir geht’s gut.« Amy wischte Sara das Gesicht ab. »Und wenn du mich jetzt entschuldigst, ich muss die Kinder baden und ins Bett bringen.«
»Natürlich. Darf ich dir helfen?«
Amy dachte an Posys Reaktion, wenn sie das schäbige kleine Bad sah, und zuckte dann mit den Schultern. Was machte das schon? »Wenn du möchtest.«
Kommentarlos half Posy Amy beim Baden der beiden Kinder. Als sie dann abgetrocknet waren und in ihren Schlafanzügen steckten, sagte sie, sie werde im Ofen einheizen, während Amy ihnen eine Gutenachtgeschichte vorlas.
Nachdem die Kinder endlich eingeschlafen waren, kam Amy wieder nach unten und ließ sich dankbar in den zerschlissenen Sessel fallen. Posy kam mit zwei Gläsern Wein aus der Küche.
»Ich hoffe, du hast nichts dagegen, dass ich die Flasche aufgemacht habe, aber ehrlich gesagt siehst du aus, als könnte dir ein Glas guttun.«
Der Wein war zwar für später gedacht, für sie und Sam, aber Amy nahm das Glas trotzdem dankbar entgegen.
»Wo ist denn Sam?«, fragte Posy, als sie sich auf dem alten Ledersofa niederließ.
Amy zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht, aber mit der Arbeit tut sich etwas. Vielleicht ist er in einer Besprechung.«
»An einem Freitagabend um halb acht?« Posy hob fragend die Augenbrauen. »Irgendwie bezweifle ich das.«
»Wie auch immer, er wird sicher bald kommen.«
»Hilft er dir mit den Kindern?«
»Unter der Woche nicht, aber am Wochenende macht er viel mit ihnen«, sagte Amy loyal.
»Meine liebe Amy, Sam ist mein Sohn, und ich liebe ihn zwar sehr, aber ich kenne ihn auch. Wenn man ihm den kleinen Finger gibt, nimmt er die ganze Hand.«
»Er tut sein Bestes, Posy, wirklich.«
»Du meinst, wie heute Abend? Wenn Sam im Moment keine Arbeit hat, dann sollte er dir doch mit dem Haushalt und den Kindern helfen, oder nicht? Er hätte wenigstens die Kinder um fünf abholen oder einkaufen gehen können, mein Schatz. Du siehst völlig erledigt aus.«
»Ich muss mich nur einmal richtig ausschlafen, das ist alles. Wirklich, mir fehlt nichts.« Das Letzte, was Amy jetzt ertragen konnte, war ein Vortrag über die Schwächen ihres fehlbaren Mannes, mochte alles noch so zutreffend sein. »Wie sieht’s denn bei dir aus?«
»Ich habe eine wunderbare Nachricht bekommen!« Posy klatschte in die Hände. »Nick hat mich vor ein paar Tagen angerufen und gesagt, dass er nach Hause kommt!«
»Nach all den Jahren«, sagte Amy. »Das muss dich sehr freuen.«
»So ist es auch. Komischerweise habe ich an demselben Tag auch Evie Newman gesehen. Sie ist mit ihrer kleinen Tochter nach Southwold zurückgekommen.«
»Das ist doch die junge Frau, die bei Nick im Antiquitätengeschäft gearbeitet hat, oder?«
»Ja.« Posy trank einen Schluck Wein. »Ich kann mich gar nicht erinnern – hast du sie je kennengelernt?«
»Doch, aber bis Sam und ich geheiratet hatten und hergezogen sind, war sie schon nicht mehr hier.«
»Ein ziemlicher Zufall, dass Nick und Evie innerhalb weniger Wochen beide wieder herkommen«, sinnierte Posy.
»Das stimmt. Weißt du, wie lange Nick bleibt?«
»Nein, und um ehrlich zu sein, habe ich Angst, ihn zu fragen. Ich freue mich über jede Minute, die er für mich erübrigen kann. Außerdem wird es mir helfen, wenn er sich Admiral House einmal mit seinem Kennerblick ansieht. Ich habe mir gerade erst diese Woche überlegt, dass es vielleicht Zeit wäre, den Inhalt schätzen zu lassen.«
»Wirklich? Überlegst du dir, Sachen zu verkaufen?«
»Vielleicht. Und ganz bestimmt, wenn ich mich entschließe, das Haus zu verkaufen.«
»Aber Posy, das kann doch nicht dein Ernst sein!« Amy war entsetzt. »Das Haus gehört deiner Familie doch schon seit Generationen. Ich … Es ist so schön! Du kannst es doch nicht einfach verkaufen.«
»Ich weiß, mein Schatz, aber die Generationen vor mir hatten auch das Geld – und das Personal, wie ich hinzufügen möchte –, um es instand zu halten.« Posy seufzte. »Wie auch immer, genug von mir. Wie geht’s in der Arbeit?«
»Hektisch wie immer während des Literaturfestivals. Das Hotel ist ausgebucht.«
»Es ist doch schön, wenn lauter namhafte Autoren in der Stadt sind. Ich gehe morgen zu einer Lesung von Sebastian Girault. Er klingt wirklich sehr interessant.«
»Sebastian Girault?«, wiederholte Amy tonlos.
»Ja. Sein Roman war auf der Shortlist für den diesjährigen Booker Prize, verkaufte sich aber viel besser als der Gewinner. Du musst von ihm gehört haben, Amy.«
Dieser Tage empfand sie es schon als Leistung, die Schlagzeilen der Tageszeitung zu lesen, ohne gestört zu werden, an ein ganzes Buch brauchte sie gar nicht zu denken. »Nein, ich habe heute zum ersten Mal von ihm gehört. Ich bin ihm heute Nachmittag sogar begegnet. Er wohnt bei uns im Hotel.«
»Wirklich? Du Glückspilz. Er sieht doch richtig gut aus, findest du nicht? So groß und markant«, sagte Posy und lächelte.
»Ehrlich gesagt habe ich ihn mir gar nicht so genau angesehen. Er hat mich angebrüllt, weil bei ihm im Zimmer kein warmes Wasser läuft.«
»Oh, ein Jammer! Ich hatte gehofft, er wäre so nett, wie er im Radio klingt. Allerdings hat das Leben ihm auch übel mitgespielt. Vor ein paar Jahren ist seine Frau bei der Geburt zusammen mit dem Kind gestorben. Trotzdem ist das kein Grund, seine Mitmenschen anzuschreien. Das ist das Problem mit allen, die sich einen Namen machen. Mit dem Ruhm kommt die Arroganz.« Mit einem Blick auf Amy klatschte Posy wieder in die Hände. »Weißt du was? Warum kommst du morgen nicht mit? Vorher gehen wir zum Lunch ins Swan und danach zur Lesung. Es würde dir guttun, mal aus dem Haus zu kommen.«
»Das geht nicht, Posy, ich habe niemanden, der sich um die Kinder kümmert.«
»Aber das kann doch Sam für ein paar Stunden übernehmen, oder nicht? Immerhin ist es Samstag.«
»Ich …« Bevor Amy antworten konnte, ging die Haustür auf, und Sam kam herein.
»Mein Lieber, wo bist du denn gewesen?« Posy stand auf und drückte ihrem Sohn einen Kuss auf jede Wange.
»Bei einer Besprechung.«
»Im Pub?«, fragte Posy, die seinen Atem roch.
»Mum, bitte, fang jetzt nicht damit an.«
»Das habe ich nicht vor. Aber deine arme Frau hat einen schrecklichen Tag hinter sich, und ich habe ihr gerade gesagt, dass sie dringend eine Auszeit braucht. Deswegen gehe ich morgen mit ihr zum Lunch und hinterher zu einer Lesung beim Literaturfestival. Du kannst dich doch am Nachmittag um die Kinder kümmern, Sam, oder? Und jetzt verschwinde ich und überlasse euch eurem Abendessen. Also, Amy, ich hole dich dann um halb eins ab. Tschüss, ihr beiden.«
»Tschüss, Posy«, sagte Amy. Ihr Gesicht war rot vor Verlegenheit.
Die Haustür fiel ins Schloss, und Amy betrachtete beklommen ihren Mann im Versuch, seine Stimmung auszuloten. »Es tut mir wirklich leid, Sam. Du kennst doch deine Mutter. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat, lässt sie nicht locker. Ich rufe sie morgen früh an und sage ihr, dass es nicht geht.«
»Nein. Mum hat recht, du brauchst wirklich etwas Abwechslung. Natürlich kann ich mich morgen Nachmittag um die Kinder kümmern. Es tut mir leid, dass ich heute Morgen ausgerastet bin.«
»Und mir tut es leid, dass ich skeptisch war«, sagte Amy erleichtert.
»Schon in Ordnung. Ich kann’s auch verstehen, aber du musst einfach Vertrauen zu mir haben.«
»Das habe ich ja auch, Sam, wirklich.«
»Gut. Und jetzt – was gibt’s zum Abendessen, und wo ist der Rest Wein?«