Kapitel 30
Sobald die Kinder im Bett waren, packte Amy ihre eigene Kleidung in eine Tasche und verstaute sie zusammen mit ein paar Spielsachen der Kinder unter einer Decke im Kofferraum ihres Wagens. Dann ging sie ins Bett und versuchte einzuschlafen, aber zu guter Letzt gab sie es auf, ging in die Küche und machte sich eine Tasse Kaffee, woraufhin ihr Herz erst recht zu rasen begann.
»Beruhig dich, Amy«, redete sie sich gut zu, als die Dunkelheit der ersten Morgendämmerung wich. »Um der Kinder willen musst du ruhig bleiben.«
Sie versuchte, ihre Gedanken darauf zu richten, dass sie am Abend alle drei im gemütlichen Hopfenhaus in Sicherheit sein würden. Am liebsten hätte sie vor Erleichterung geweint, dass sie es gefunden hatte. Sie hatte es Freddie zwar nicht gesagt, aber das Haus war auch wegen der versteckten Lage so ideal. Außerdem, sollte Sam sie doch aufspüren, bräuchte sie nur um Hilfe zu rufen, und Freddie würde sie hören.
Um sieben weckte sie die Kinder und gab ihnen Frühstück. Sie bemühte sich, alles so normal wie möglich wirken zu lassen. Auf der Fahrt zur Schule hörte sie Jake zu, der ihr aus seinem Buch vorlas, während Sara von ihrem Engelskostüm für das Krippenspiel plapperte.
Als sie wieder zu Hause war, stopfte sie die Kleidung der Kinder in zwei Müllsäcke und legte sie zu den anderen Sachen in den Kofferraum. Dann saß sie am Küchentisch, die Nerven zum Zerreißen gespannt. Kurz überlegte sie sich sogar, ob sie die Reste der Rotweinflasche leeren sollte, die auf dem Tisch stand. Laut der Wanduhr war es fast neun Uhr – noch eine Stunde, bis sie Sam zurückerwartete. Gerade fragte sie sich, ob sie nicht spazieren gehen sollte, als ihr Handy läutete.
»O mein Gott«, wisperte sie, als sie sah, dass es Sam war.
»Ja?«
»Amy, Gott sei Dank! Bitte, du musst mich abholen.«
»Bist du liegen geblieben?«
»Nein, ich … ich bin auf dem Polizeirevier in Wells. Ach, Amy …« Sam brach fast die Stimme. »Sie haben mich festgenommen.«
»Ich … Aber warum denn?«
»Ich kann jetzt nicht reden. Mein Anwalt hat Kaution beantragt, und ich brauche tausend Pfund. Kannst du Mum sagen, was passiert ist, und sie bitten, dir das Geld zu leihen? Ich muss jetzt Schluss machen. Ciao, mein Schatz, ich habe dich lieb.«
Damit war die Leitung tot. Amy starrte ihr Handy an, vor Schock konnte sie nicht klar denken. Als sie ihre Fassung etwas wiedergewonnen hatte, merkte sie, dass sie am ganzen Körper zitterte. Sie wählte Posys Nummer und erzählte ihr kurz von Sams Anruf und seiner Bitte.
»Ich fahre sofort in die Stadt und hebe das Geld ab, dann komme ich zu dir. Versuch, dich nicht zu sehr aufzuregen, Amy, ich bin mir sicher, dass es ein Missverständnis ist.«
Aber Amy wusste instinktiv, dass es kein Missverständnis war. Während sie am Küchentisch saß und auf Posy wartete, betrachtete sie unablässig einen Riss, der sich im Zickzack über die ganze Wand bis zum Boden hinzog.
»Ach, meine Liebe.« Bleich vor Schock stand Posy in der Tür. Amy ging mit ihr ins Wohnzimmer. »Was genau hat er dir denn gesagt?«
»Dass er festgenommen wurde und jetzt in Norfolk auf dem Polizeirevier ist, in Wells«, antwortete Amy mechanisch.
»Was kann er denn gemacht haben?«
»Ich habe absolut keine Ahnung«, sagte Amy tonlos.
»Vielleicht Alkohol am Steuer?«
»Denkbar.«
»Was, wenn er jemanden verletzt hat …?«
»Am besten fahre ich gleich hin, dann wissen wir mehr.«
»Soll ich mitkommen, zur moralischen Unterstützung?«
Amy dachte an die ganzen Sachen im Kofferraum und schüttelte den Kopf. »Ich komme schon zurecht, danke.«
»Also gut. Hier sind die tausend Pfund in bar.« Posy gab ihr ein Kuvert.
»Danke«, sagte Amy und verstaute es in ihrer Handtasche. »Ich melde mich, sobald ich etwas herausgefunden habe.«
Posy drückte Amy fest an sich. »Wenn du und die Kinder etwas braucht, ich bin für euch da.«
Auf der fast zweistündigen Fahrt nach Wells verdrängte Amy jeden weiteren Gedanken. Sie drehte den Sender Classic FM laut auf und konzentrierte sich auf die Straße.
In dem kleinen Polizeirevier angekommen, füllte Amy ein Formular aus und überreichte die tausend Pfund. Daraufhin wurde sie gebeten, sich in den Wartebereich zu setzen, der dankenswerterweise verwaist war.
Schließlich kam Sam. Er sah entsetzlich aus, leichenblass, die Haare strubbelig wie bei einem Kleinkind. Sie stand auf, und er fiel ihr um den Hals. »Gott sei Dank bist du hier, mein Schatz, Gott sei Dank.«
»Komm, lass uns verschwinden, ja?«, sagte sie sanft.
Als sie nach draußen gingen, hing Sam an ihrem Arm, als könnten ihn seine Beine nicht mehr tragen.
»Mein Auto steht noch beim Hotel«, sagte er, als er auf den Beifahrersitz sank und Amy den Motor startete.
»Okay. Sag mir, wie ich fahren soll.«
»Wir müssen zur Küstenstraße, dann sind es rund zehn Minuten zum Victoria. Du wirst dich daran erinnern.«
Als sie das Auto durch die engen Straßen von Wells steuerte und schließlich auf die Küstenstraße gelangte, erinnerte sich Amy tatsächlich an das letzte Mal, als sie zu dem schönen Hotel gefahren war. Über zehn Jahre war das mittlerweile her. Die Aufregung, die sie damals empfunden hatte, als Sam mit ihr die Küste entlanggefahren war, die Hoffnung, dass er ihr einen Heiratsantrag machen würde. Die hatte sich zwar nicht erfüllt, aber es war trotzdem ein traumhafter Abend gewesen. Damals hatte die Sonne vom Himmel gestrahlt. Heute hingen dunkle Wolken tief über dem Land und verhießen Regen. Auf dem Parkplatz fuhr Amy neben Sams Fiat.
»Schaffst du es auch, nach Hause zu fahren?«, fragte sie.
»Ich … ja.«
»Ich aber nicht, bevor du mir nicht erzählt hast, was du getan haben sollst.«
»Ach Gott, Amy.« Sam schüttelte den Kopf, ohne sie anzusehen. »Ich bin eine einzige Enttäuschung für dich und die Kinder. Dabei habe ich dieses Mal wirklich geglaubt, dass ich es schaffe, dass ihr stolz auf mich sein könnt. Aber jetzt ist alles kaputt, alles. Was sollen wir bloß machen?«
»Das weiß ich nicht, bis du mir sagst, was passiert ist.«
»Es ist mein Geschäftspartner, Ken Noakes. Offenbar ist er ein Betrüger und Hochstapler ersten Ranges. Kurz gesagt zieht er Leute seit Jahren über den Tisch. Das Geld, mit dem er die Projekte unserer Immobilienfirma finanziert, ist, streng genommen, gestohlen. Oder zumindest gehört es Gläubigern. Wir saßen an der Hotelbar – Ken hatte die Hunderttausend in bar mitgebracht, damit wir heute die Vorverträge für Admiral House unterschreiben können –, da sind plötzlich zwei Polizisten in Zivil aufgetaucht und haben uns gebeten, sie zu begleiten, um einige Fragen hinsichtlich ›betrügerischer Beschaffung von Geldern von …‹« Sam schüttelte den Kopf. »Ich kann mich nicht an die genaue Formulierung erinnern, dafür stand ich zu sehr unter Schock. Einer von ihnen hat mich in seinen Wagen gesetzt, Ken musste beim anderen mitfahren. Seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen.«
»Aber warum haben sie dich festgenommen, wenn es was mit Ken Noakes’ früheren Geschäften zu tun hat?«
»Weil ich der alleinige Geschäftsführer seiner blöden Firma bin! Ken ist nur der Finanzier, sein Name steht nicht mal auf dem Briefkopf der Firma! Himmelherrgott! Woher hätte ich denn wissen sollen, dass sein Geld aus zwielichtigen Geschäften stammt?! Das Betrugsdezernat wollte einfach nicht glauben, dass ich nichts davon weiß.«
»Ach, Sam …« Amy biss sich auf die Unterlippe. »Hast du es wirklich nicht gewusst?«
»Natürlich nicht! Verdammt, Amy«, fluchte er wütend, »ich mag ja alles Mögliche sein, aber ein Betrüger bin ich nicht. Also gut, ich habe ein paar Unternehmen in den Sand gesetzt, und glaub mir, sie haben alles umgewühlt nach Dreck, den ich da am Stecken haben könnte. Ein Punkt ist, dass ich Geschäfte gemacht habe, während die letzte Firma insolvent war, was auch verboten ist. Deswegen könnten sie mich auch drankriegen, aber der Anwalt, der bei mir war, denkt, dass sie vermutlich alle Anklagepunkte fallen lassen, wenn ich über Ken auspacke. Das Problem ist, ich weiß nichts, überhaupt nichts.« Jetzt schließlich sah Sam zu ihr. »Amy, du glaubst mir doch, oder?«
Trotz allem glaubte Amy ihm. Ihr Mann war kein Krimineller, nur verzweifelt und nicht besonders schlau.
»Natürlich. Lass uns reden, wenn wir zu Hause sind.«
»O mein Gott.« Sam schlug die Hände vors Gesicht. »Wie kann ich Mum je wieder unter die Augen treten? Der Verkauf von Admiral House ist gestorben, das ist wohl klar. Ich bin ein elender Versager. Alles, was ich je gemacht habe, war ein Flop, dabei habe ich mich so bemüht. Es tut mir so leid, Amy. Jetzt habe ich dich schon wieder enttäuscht.« Unvermittelt umklammerte er ihren Arm. »Versprich mir, dass du mich nicht verlässt. Ohne dich und die Kinder könnte ich … würde ich … könnte ich einfach nicht weitermachen.«
Amy brachte keine Antwort hervor.
»Versprich’s mir, Amy, bitte. Ich liebe dich, wirklich.« Sam begann zu schluchzen. »Verlass mich nicht, bitte verlass mich nicht …«, flehte er und hielt sich wie ein Kind an ihr fest.
»Ich verlasse dich nicht, Sam«, hörte Amy sich mit einer matten Stimme sagen, die nicht wie ihre klang.
»Versprichst du’s?«
»Ich verspreche es.«
Als sie zu Hause ankamen, sagte Amy Sam, er solle duschen gehen. Zwanzig Minuten später kam er nach unten und sah wieder mehr wie er selbst aus.
»Ich fahre mal besser zu Admiral House und rede mit Mum. Zumindest eine Erklärung bin ich ihr schuldig.«
»Ja, mach das.« Amy faltete weiter Kleidung vom Trockengestell zusammen und legte sie in den Wäschekorb.
»Ich liebe dich, Amy, und es tut mir so unendlich leid. Irgendwie hole ich uns aus diesem Schlamassel heraus, das verspreche ich dir. Ciao, mein Schatz.«
Fünf Minuten nachdem Sam das Haus verlassen hatte, ging Amy zum Auto, trug alles, was sie im Kofferraum untergebracht hatte, ins Haus zurück und verstaute die Kleidung wieder in den entsprechenden Schubladen. Dann ging sie nach unten, holte den Zettel mit Freddies Telefonnummer aus ihrem Geldbeutel und wählte sie auf ihrem Handy.
»Ja, bitte?«
Seine unglaublich beruhigende Stimme drohte die merkwürdige Ruhe zu zerstören, die sich in ihr ausgebreitet hatte. Sie holte tief Luft.
»Guten Tag, Freddie, hier ist Amy Montague. Ich muss Ihnen sagen, dass etwas dazwischengekommen ist und ich heute doch nicht einziehen kann.«
»Das ist gar kein Problem, sagen Sie mir Bescheid, wann es Ihnen passt, Amy. Keine Eile.«
»Die Sache ist die, ich weiß überhaupt nicht, wann das sein wird, also wäre es am besten, wenn Sie einen anderen Mieter für das Hopfenhaus finden.«
»Ich verstehe. Amy, ist alles in Ordnung?«
»Nicht so ganz, aber Posy wird Ihnen bestimmt erzählen, was passiert ist. Ich … ich muss jetzt Schluss machen, Freddie, aber haben Sie vielen Dank, Sie waren wirklich sehr hilfsbereit. Auf Wiedersehen.«
Sie beendete den Anruf, bevor sie in Tränen ausbrach. Dann, da Sam jeden Moment zurückkommen könnte, wählte sie Sebastians Nummer. Sie landete direkt auf der Mailbox.
»Ich bin’s, Amy. Bitte triff mich heute um fünf am Bushäuschen an der Seepromenade.«
Amy steckte ihr Handy in ihre Tasche und ging nach oben, um ihre Arbeitsuniform anzuziehen.
Sebastian war bereits da, als Amy ankam. Er stand auf, um sie zu umarmen, aber sie wich zurück.
»Amy, ich weiß, was passiert ist. Posy hat es mir erzählt, sobald Sam fort war.«
»Ja«, sagte Amy mit tonloser Stimme. »Ich möchte dir sagen, dass ich bei Sam bleibe, weil ich seine Frau bin, die Mutter seiner Kinder und weil er mich braucht.«
Sebastian bemühte sich, seine Worte sorgsam zu wählen. »Mir ist klar, dass der heutige Tag ein Schock für dich war, und ich kann verstehen, dass du im Moment das Gefühl hast, ihn unterstützen zu müssen. Du brauchst etwas Zeit, natürlich brauchst du jetzt Zeit.«
»Nein, Sebastian, es ist mehr als das. Was wir getan haben – was ich getan habe –, war falsch. Ich bin Sams Frau, ich habe in der Kirche ein Gelöbnis abgelegt. Ich bin die Mutter seiner Kinder, und … ich kann ihn nicht verlassen. Nie.«
»Willst du mir sagen, dass wir … dass alles vorbei ist?«
»Ja. Ich habe mich für dieses Leben entschieden, und jetzt muss ich damit zurechtkommen. Sam geht es ganz furchtbar, und unabhängig von meinen Gefühlen muss ich ihm zur Seite stehen. Wenn er von uns wüsste – ich glaube, das wäre sein Ende. Er hat heute Morgen im Auto mehr oder weniger mit Selbstmord gedroht.«
»Das kann ich verstehen, aber mit der Zeit vielleicht …«
»Nein! Sebastian, die Zeit wird nie kommen. Bitte glaub mir. Ich werde meinen Mann nicht verlassen, und deswegen wäre es nicht richtig, dich hinzuhalten. Such dir ein Leben mit einer Frau, die ungebunden ist, bitte«, sagte sie.
»Ich will kein Leben mit einer anderen Frau, ich will es mit dir. Ich liebe dich!«
»Es tut mir leid, Sebastian, aber es ist vorbei. Und jetzt muss ich gehen. Auf Wiedersehen.«
Amy machte kehrt und ging davon.
»Amy! Warte! Ich weiß, was er dir antut!«
Sie schüttelte den Kopf und ging immer weiter Richtung High Street. Sebastian sah ihr nach, bis sie um eine Ecke bog und außer Sichtweite verschwand. Er verfluchte sich. Das war alles seine Schuld. Hätte er dem Betrugsdezernat nicht gesteckt, wo Ken Noakes war, wären Amy und die Kinder mittlerweile in Freddies Cottage in Sicherheit. Im Versuch, Posy zu schützen, hatte er seine eigene – und Amys – Hoffnung auf ein gemeinsames Glück verspielt.
Sebastian setzte sich auf die Bank an der Promenade, legte das Gesicht in die Hände und weinte.