In dem …
Zwei Dinge weiß ich ganz gewiss.
Erstens: Ich schwebe.
Und zweitens: Es ist wirklich verdammt dunkel. Nein, wirklich, Mann. Du hast keine Ahnung, wie dunkel.
Ich versuche, damit klarzukommen. Ja, echt. Aber offen gestanden treibt’s mich in den Wahnsinn. Außerdem ist es öde. Ich hoffe, dass das nicht das ganze Programm ist, sonst werde ich noch irre.
Von weiter vorn dringt ein leiser Ton an mein Ohr, und ich sehe nichts als das schwächste aller schwachen Lichter, wie wenn ein alter Fernsehapparat angeschaltet wird und sich aufwärmen muss. Vom Licht kommt gerade so viel bei mir an, dass ich sehen kann, wo ich bin. Ich sitze in einem Boot, das auf einem Fluss treibt.
Ich höre Gesang. Ich kenne das Lied.
Das Boot gleitet hinaus aus der Dunkelheit und ich fange an zu lachen. Die Bollywoodmarionetten singen ein Ständchen für mich. It’s a world of laughter, a world of tears – Eine Welt voller Lachen, eine Welt voller Tränen. Ich kann sie wirklich sehen, vor mir, was immer ›wirklich‹ heißen mag. Dulcie trägt ihre zerrissenen Netzstrümpfe und ihre schwarzen Springerstiefel und hängt mit dem angelnden Inuitjungen ab.
»Hey, Cowboy«, ruft sie und winkt vom schneebedeckten weißen Ufer herüber. Ihre Flügel sind mit Buddhakühen besprüht. Sie sehen fantastisch aus. »Schön, dass du aufkreuzt. Warum hast du denn so lange gebraucht?«
»Hab nen kleinen Umweg gemacht, Prinzessin!« Es wird heller.
Sie führt einen kleinen Freudentanz auf. »Das würde ne tolle TV-Show abgeben, stimmt’s?«
»Ja. Aber niemand würde es glauben.« Ich sollte es dabei bewenden lassen. Aber das ist wie mit dem Loch, wie mit der Tür: Ich muss es wissen. Oder wenigstens muss ich fragen. »Hey, Dulcie, war irgendwas davon real?«
Sie beendet ihren Tanz und die Flügel kommen zur Ruhe. »Wer kann schon sagen, was wirklich ist und was nicht?«
»Ja, aber – mein Realitätsmessgerät. Seit ich begonnen habe auszuflippen, sehen die Werte nicht so gut aus.«
»Na ja. Wer, wenn nicht die Verrückten, würde es denn vorziehen, weiterzuleben? Sind wir letzten Endes nicht alle ein bisschen verrückt?«
»Also. Dieser Ort«, sage ich und pfeife.
»Ja. Ist das hier etwa keine tolle Vergnügungsfahrt?«, sagt sie wehmütig, während der Inuitjunge immer wieder denselben Fisch aus dem Loch angelt, ihn ins Wasser setzt und ihn wieder hochzieht und dabei die ganze Zeit lächelt.
»Weißt du was? Es ist wirklich wahr. Eindeutig ein E-Ticket.«
Sie streift mir mit diesen sanften Fingern das Haar aus der Stirn. »Willst du noch mal?«
»Vielleicht.«
Ich denke nicht wirklich darüber nach, was als Nächstes kommt oder ob überhaupt etwas kommt. Alles, was ich weiß, ist, was ich im Augenblick empfinde. Ich möchte Dulcie küssen. Was danach kommt, weiß ich nicht.
»Woran denkst du?«, fragt sie und lacht.
Ich lächle. »An nichts.«
»Gut. Ich mag sie dick und ganz irre.«
Das Boot treibt von selbst aufs glitzernde Plastikufer zu. Ich nehme Dulcies Hand und trete in die Schneewehe. Meine Füße spüren Kälte, und als ich mich bücke und in den Schnee greife, fühlt der sich zwischen meinen Fingern eisig und nass an.
»Fantastisch«, murmle ich und schaufle den Schnee in meine Hände. Er ist so hell, dass meine Augen wehtun. Dann höre ich ein Platschen. Der Fisch am Angelhaken kämpft gegen sein Schicksal an. Der Inuitjunge lacht und wirft ihn zurück ins Eisloch.
Dulcie stupst mich mit der Schulter. »Hey.«
»Selber hey«, sage ich und stupse zurück.
Sie breitet ihre Flügel um mich. Das Lied ist immer noch zu hören, und die Lichter strahlen so hell, als ob sie lebendig wären. Dulcie öffnet ihre Lippen, um mich zu küssen, und um uns herum ist Musik. Es ist eine Klangfolge in einer Oktave, die ich vorher noch nie gehört habe, aber irgendwie weiß ich, dass sie schon immer hier war – Klänge, in denen sich jedes Ende und jeder Anfang immer wieder neu schaffen, Klänge, für die du bereit sein musst, um sie hören zu können.
»Bist du so weit?«, fragt Dulcie.
»Klar.«
»Wirklich?«
»Nein«, sage ich. »Überhaupt nicht.«
Da muss sie wie ein Honigkuchenpferd grinsen. Es ist, als würde der Himmel explodieren und aus allen Elementarteilchen und Partnerteilchen etwas Neues entstehen – ein ganzes Universum aus Ja und Nein und aus Warum, zum Teufel, nicht? Funken fliegen an uns vorüber. Alles sieht aus wie eine rasende Lichtershow geladener Teilchen, die Dulcies Lächeln im Fluge einfangen und mit auf ihre Reise nehmen.
Bleibt nichts weiter zu sagen als Wow. Wow. Dasselbe Wort, vorwärts und rückwärts gelesen.
Dulcie seufzt vor Glück. »Das war schon immer meine Lieblingsstelle.«
Und ich weiß, warum.