In dem die bekannteste Band der Welt das wichtigste Comebackkonzert spielt, das es jemals gegeben hat
Die Nachricht vom plötzlichen Wiederauftauchen der Copenhagen Interpretation lässt im Partyhaus das absolute Chaos ausbrechen. So gut wie jede Kamera im Staat ist auf die Bühne gerichtet, auf der die Band das erste Mal seit elf Jahren wieder zur Welt sprechen will. Dank Gonzos neuem Promistatus gelangen wir ganz nach vorne.
»Stimmt, ich bin hip«, trällert Gonzo. Drew lacht und umfasst ihn mit seinen tätowierten Armen. Er gibt Gonzo einen dicken Kuss und der Gonzman wird ganz rot. Reporter flankieren die Bühne von allen Seiten. Sie halten ihre Mikros bereit und starren in die Kameras, als ob sie gerade die allerwichtigste Nachrichtenstory ihres Lebens aufnehmen.
»Niemand hat eine Ahnung, wo sie die ganze Zeit waren, warum sie verschwanden und warum sie genau in diesem Augenblick zurückkehren und gerade an diesen Ort kommen …«
»Gerüchte, die jeder Grundlage entbehren, sprechen von einer Reise durch ein Wurmloch in andere Welten …«
»… Anfragen nach frischem Fisch und einem Kinderklavier nähren Spekulationen …«
»… wird nun endlich die Frage beantwortet, warum sie gerade für Schnee so viele Worte haben?«
»Hey, so werden Gerüchte in die Welt gesetzt!«, sagt Gonzo. »Das ist krass!«
»Ja«, sage ich und schaue mich nach Dulcie um, denn wenn sie hier wäre, wäre das krass.
Wir warten eine gefühlte Ewigkeit auf den Auftritt der Copenhagen Interpretation. Die Menge brodelt vor Erregung. Alle jubeln, als sich der Vorhang teilt. Der Jubel schwillt zum ohrenbetäubenden Applaus an. Irgendjemand heult wie ein Wolf. Blitzlichter explodieren wie ein Feuerwerk. Eine Woge in der Menge drückt uns gegen die Sicherheitsbarriere, aber das ist uns egal. Vielleicht drei Meter vor uns tritt die Copenhagen Interpretation hinter dem Vorhang hervor – fünf Menschen in Mukluks und langen Kapuzenparkas, die ihre Gesichter nahezu verdecken. Die Musiker bleiben in der Bühnenmitte stehen und bewegen sich nicht.
Ein fast glatzköpfiger Typ im Hawaiihemd geht zu einem Mikrofon am Podium.
»Das ist total ihr Dolmetscher«, informiert uns ein Mädchen mit einem Lippenpiercing. »Auch wenn sie Englisch singen, sprechen sie total Inuktitut. Total.«
Der Übersetzer räuspert sich und macht sich bereit, die Botschaft der Band zu übermitteln. Die Menge schweigt erwartungsvoll. Die Copenhagen Interpretation redet leise mit ihrem Dolmetscher, der die Übersetzung sogleich ins Mikrofon spricht:
Murmelmurmel. Pause.
»Hallo.«
Murmelmurmelmurmelmurmel. Pause.
»Wie’s scheint, waren wir eine Weile weg.«
Murmelmurmelmurmelmurmel. Pause.
»Wow. Ihr seid alle so groß geworden!«
MurmelmurmelmurmelMurmelmurmelmurmelMurmelmurmel. Pause.
»Wir sind durch Raum und Zeit gereist. Wir waren an vielen Orten, haben viele Welten besucht. Und es gibt eine gute Nachricht: Überall ist die Akustik fantastisch.«
Murmel. Murmel. Murr. Murr. Pause.
»Da gibt es noch eine letzte Sache, die wir euch gerne mitteilen würden.«
Murmelmurmel. »Ihr sagt, wir haben …« Murmelmurmelmurrr. »… so viele Worte …« Murmel. »… für Schnee.«
Murr? Murmel? »Nun? Ihr etwa nicht?«
»Total«, seufzt das Mädchen hinter uns.
Und schon spielt die Copenhagen Interpretation die Anfangstakte ihres ersten Songs. Die Leute rasten total aus. Ich war bei einigen Konzerten, da und dort, aber keines war wie das hier. Ich fühle mich, als könnte ich diese Musik komplett verschlingen. Unfassbar, wie dich diese Töne mit jedem anderen Menschen hier verbinden und dich zum Teilchen derselben Erfahrung am selben Ort zur selben Zeit machen. Drew und Gonzo wiegen sich im Takt und singen Wort für Wort mit. Balder schließt die Augen und steht völlig still da.
»Mir ist, als ob ich das Gras hören kann, das auf dem Hügel gegenüber Breidablik im Wind rauscht«, murmelt er.
Beim fünften Song tanzt die Menge zum Rhythmus der Melodie und singt mit. Obwohl ich den Text nicht kenne, stimme ich ein. Irgendein Kerl stürmt über die Bühne und taucht in der Menge unter. Die Securitys machen ein finsteres Gesicht. Und alles, was mir dazu einfällt, ist: Mann, das will ich auch tun. Ja, warum nicht?
»Wird schon schiefgehen!«, sage ich mir und renne auf die Bühne. Ich habe höchstens vier Sekunden, keine Zeit nachzudenken, nur Zeit, es zu tun. Mit ausgebreiteten Armen falle ich rückwärts in die Menge.
»Heilige Scheiße!«, schreie ich.
Und dann geschieht das Verblüffendste. Unter meinem Körper spüre ich Hände, die mich weiterreichen. Es fühlt sich unglaublich an, als ob ich auf einem Meer treibe. Niemand lässt mich fallen. Ich habe völliges Vertrauen. Zehn Minuten dauert es, bis ich am hinteren Rand der Menschenmenge ankomme, wo ich sanft zu Boden gelassen werde.
Ich umarme den Nächststehenden, ein Mädchen mit geflochtenen Zöpfen, das nach Patschuli duftet. Sie erwidert meine Umarmung sofort. »Das. War. Fantastisch!«, rufe ich.
Sie lächelt. »Du siehst aus wie ein Tanzbär«, sagt sie.
»Das kommt daher, weil ich ein Tanzbär bin«, kontere ich.
»Wow. Cool.«
Eine Gruppe von Studenten zieht mich zu sich hinüber. Sie schließen die Arme um meine Schulter, wir wiegen uns hin und her, halten uns gegenseitig fest und singen mit.
»Because there’s so many, words for snow … so many, words for snow …«
Als ich mich wieder umschaue, hat sich Dulcie neben mich geschlichen. Ich grinse, werfe meine Arme um ihren Hals und wir wackeln zu einem Plätzchen ganz hinten. Sie lehnt sich an die Wand einer Bierbude und ich kuschle mich an sie.
»Hey, Cowboy«, sagt sie. »Und, wie geht’s dir so im Himmel?«
»Als ob ich ein Frachtschiff voller Probleme hinter mir herschleppe«, antworte ich im perfekten Star Fighter-Jargon.
»Das klingt nach ’ner Menge Spaß.«
Unsere Lippen berühren sich und es gibt nichts außer uns und der Musik.
Dulcie und ich genießen das Konzert von unserem privaten Plätzchen aus. Aber ich will ja die anderen nicht verlieren, deshalb schlängeln wir uns nach vorne. Als wir uns wieder Gonzo, Drew und Balder anschließen, ist der erste Teil schon fast vorüber. Meine Freunde bemerken Dulcies Anwesenheit nicht, aber ich habe aufgehört, mir darüber Gedanken zu machen. Ich sehe sie, sie sieht mich – und darauf kommt es an.
Das letzte Lied klingt aus. Der Dolmetscher tritt wieder ans Mikrofon. Die Musiker reden. Murmel. Murmel. Murmel. Pause.
»Wir möchten gerne weiter für euch spielen. Aber zuerst essen wir Sandwiches, hinter der Bühne. Wisst ihr, wie lange das her ist, dass wir das letzte Sandwich gegessen haben? In dreißig Minuten kommen wir wieder.«
Unter Heulen und Brüllen und Stampfen wird die Band zur Bühnenseite geleitet. Eines der Bandmitglieder dreht sich um und hebt die Hand an die Stirn, um sich gegen das blendende Licht zu schützen. Er sieht Balder und winkt. Balder winkt direkt zurück.
»Mann!«, sagt Gonzo voller Bewunderung.
Balder schaut selbstzufrieden. »Ich hab es euch gesagt.«
Der Dolmetscher kommt zu uns rüber. Balder sagt etwas auf Norwegisch, dann plaudern er und der Übersetzer miteinander. Einmal lachen sie beide laut los. Gonzo, Drew und ich tauschen Blicke. Dann schaue ich rüber zu Dulcie, die mit den Schultern zuckt. Das Nächste, was ich weiß, ist, dass wir eine Stippvisite backstage machen und zusammen mit der berühmtesten Band dieser Welt – und möglicherweise auch einiger anderer Welten – Sandwiches essen.
In der Minute, in der wir den Grünen Salon betreten, werden wir von Eindrücken überhäuft. Reporter stellen Fragen. Kellner bieten Rad Limo an. Fans bitten um Autogramme, die sie sich an die Brust drücken, bevor sie zu schreien beginnen. Die Band lässt das alles über sich ergehen und beantwortet die Fragen in kryptischer Manier. Ja. Nein. Vielleicht. Seehunde sind Diebe – auf Partys muss man sie wirklich im Auge behalten.
Parker Day kommt angerannt und quetscht allen die Hand. »Toll, euch zu sehen. Bin ein großer Fan. Weiß nicht, ob ihr mein Special gesehen habt. Wir könnten ne Super-Fortsetzung drehen.«
Die Band läuft weiter.
»Ruft mich an!«, schreit ihnen Parker hinterher.
Die Security bringt uns in einen abgesperrten Bereich. Wie angekündigt, gibt es dort Sandwiches, und die sind wirklich gut. Balder stellt uns vor. Gonzo und Drew sind so begeistert, dass sie die Gelegenheit nützen, der Band einen ihrer eigenen Songs in höchster Lautstärke vorzusingen. Einmal winken die Musiker der Copenhagen Interpretation jemandem hinter mir zu. Wie ich sehe, ist es Dulcie. Sie hebt die Hand und grüßt zurück. Dann sieht sie mich an. Niemand sonst hat etwas bemerkt. Als Nächstes erzählen uns die Musiker von der Nacht, als die Copenhagen Interpretation verschwand.
»Es war das große Benefizkonzert für Frieden und gegen Krieg und Barbarei«, übersetzt der Dolmetscher. »Es war eine gute Performance, eine sehr gute Performance. Dinlitlas Gitarrenbegleitung war beispielhaft.«
Er schaut hinüber zu seiner Bandkollegin, die lächelt und sich dann wieder ihrem Sandwich widmet.
»Und dann, mitten in Words for Snow, begann sich der Himmel zu verdunkeln. Die Wolken ballten sich zusammen, und ich musste an meine Großmutter denken, wie sie immer finster dreinguckte, wenn mein Großvater pupste und dann den Hund beschuldigte.«
Gonzo kichert.
»Was geschah dann?«, frage ich dazwischen.
»Der Himmel wirbelte über unseren Köpfen herum. Mittendrin bildete sich ein Loch. Und dann wurden wir hineingezogen, purzelten durch lichtdurchflutete Tunnel und stürzten in eine andere Dimension.«
»Ist euch jemals ein Dr. X begegnet, ein Wissenschaftler?«
Das Gemurmel nimmt zu. Der Dolmetscher will sichergehen, dass er die Antwort richtig verstanden hat.
»Einmal«, sagt er. »Wir stießen auf einen Mann in einem Laborkittel. Der Kittel war so weiß wie Schnee, den man nicht von den Schuhen schütteln kann.«
»Dr. X!«, platze ich heraus. »Das muss er sein. Wart ihr jemals im selben Universum wie er, zur selben Zeit? Wisst ihr, wo er geblieben ist?«
»Wir haben nicht miteinander gesprochen, weißt du, wir sind nur aneinander vorbeigegangen, so wie das Menschen im Weltraum tun.«
Bei diesen Worten sinkt mir das Herz. Ich verlasse meine Sessel und laufe hin und her. »In Putopia haben sie uns gesagt, dass Dr. X eine Theorie über die Musik entwickelt hätte, dass sie ihre eigene Dimension sei, dass ihre Schwingungen Löcher in Raum und Zeit verursachen könnten. Dr. X hat Words for Snow gespielt, als er in den Unendlich-Beschleuniger ging. Er hat das hier benutzt« – ich ziehe den Calabi-Yau-Krümmer aus meinem Rucksack –, »um die Töne zu verstärken.«
Thule, der Leadsänger, flüstert dem Dolmetscher etwas zu, und der sagt: »Schaut aus wie ein Kunstobjekt aus Makkaroni.«
»Was wäre, wenn er genau in dem Augenblick im Unendlich-Beschleuniger war, als ihr das Konzert gespielt habt? Derselbe Song zur selben Zeit – eine supersynchronisierte Schwingung, die eine Passage durch Raum und Zeit geöffnet hat?«
Ich schaue meine Freunde an. Balder streicht über seinen Bart. Gonzo blinzelt, als ob er versuchen würde, im Matheunterricht mitzukommen. Er und Drew halten Händchen. Dulcies Augen glänzen.
Der Keyboardspieler beugt sich nach vorn und flüstert etwas ins Ohr des Übersetzers. »Interessant«, sagt der Dolmetscher. »Möchtet ihr mal die Erdnussbutter kosten? Sie schmeckt ausgezeichnet.«
Genau in diesem Moment kreuzt ein Haufen YA! TV-Anzüge auf. Es ist Zeit für die Fortsetzung und wir müssen gehen. Ich habe noch so viele Fragen – über parallele Dimensionen, über Dr. X, über Zeitreisen und über das Wurmloch, das wir schließen sollen. Aber unsere Audienz bei der Copenhagen Interpretation ist offiziell vorüber.
Wir schütteln uns alle die Hand und Balder klatscht sich mit Thule ab.
Als wir wieder rauskommen, ist es dunkler geworden.
»Was istdas?« Ein Mädchen deutet auf eine dicke schwarze Rauchwolke in der Ferne. Direkt dahinter sieht man etwas ganz intensiv orangefarben glühen. »Ist das Feuer?«
»Sollen wir abbrechen?«, fragt ein Assistent jemanden neben ihm.
»Nee, da zieht ein Sturm mit Regen auf. Der sollte das Problem erledigen«, antwortet der Typ.
Die Menge buht den Regen aus. In meinen Armen beginnt es zu kribbeln. Die Wolken bewegen sich schnell, wirbeln herum und reißen auf.
»Dulcie …«, sage ich.
Ihre Augen sind weit geöffnet. »Ja.«
»Denkst du, das ist ein normaler Brand und ein Sturm, der vorüberzieht?«
Sie schüttelt den Kopf. Unten am Strand reißt der Wind die Markise eines Hotels weg. Sie purzelt den Strand entlang, bevor sie Richtung Himmel davonfliegt und verschwindet.
»Dulcie!«, brülle ich über den Lärm des Windes und der Feuersirenen hinweg. »Ich glaube nicht, dass wir warten können. Ich denke, wir müssen versuchen, noch mal das zu erzeugen, was in der Nacht geschah, als sich das Wurmloch geöffnet hat.«
Über unseren Köpfen zucken und knistern Blitze. Dulcie gibt mir einen Schubs.
»Los!«
Als wir die Bühne erreicht haben, ist der Strand von schwarzem Rauch eingehüllt und der Himmel so dunkel wie eine sternenlose Nacht. Aus dem Lautsprecher ertönt eine Stimme. »Sorry, Leute, ich fürchte, diese Feuer rücken uns ein bisschen zu nahe auf die Pelle, und das Wetter ist auch nicht gerade kooperativ. Deshalb müssen wir das Konzert abbrechen.«
Die Leute buhen heftig. Ein schwergewichtiger Wachmann mit kahl rasiertem Schädel und einem Bizeps von der Größe eines Riesenpudels drängt die Leute von der Bühne weg. Keine Chance, näher ranzukommen.
»Scheiße! Was machen wir jetzt?«
Dulcie blickt schnell rundum. »Ich werd die Menge aufstacheln. Und du versuchst, die Copenhagen Interpretation dazu zu bewegen, rauszukommen und noch ein Lied zu singen.«
Mir nichts, dir nichts bahnt sich Dulcie einen Weg durch die Menge und ruft dabei laut: »Noch mal! Noch mal! Words for Snow! Raus-kom-men!«
Ein paar Leute skandieren: »Words for Snow! Words for Snow!«, und der Gesang schwillt an. Ich versuche, unter der Sicherheitsabsperrung durchzuschlüpfen. Doch der große Typ befördert mich mit links nach draußen.
»Ich muss mit der Copenhagen Interpretation sprechen!«
»Jeder muss mit der Copenhagen Interpretation sprechen, Kumpel. Verschwinde!« Er drängt mich zurück. Ein Blitz schlägt in einem der Hotels ein, ein anderer nahe der Bühne. Alarmanlagen gehen los. Die Menschen werden nervös.
Ich halte mein E-Ticket-Armband hoch und decke die Worte mit meinen Fingern ab. »Ich bin von der Presse.«
Der Typ schaut drauf. »Bist du nicht’n bisschen jung für die Presse?«
»Ich hab den Ausweis gewonnen. War mein letzter Wunsch.« Ich huste effektvoll.
»Oh, das tut mir so leid«, sagt der Typ. »Das wusste ich nicht.«
»Ja. Mein letzter Wunsch war, die Copenhagen Interpretation spielen zu sehen. Und sie zu treffen.«
Er wiegt den Kopf, lässt mich unter der Absperrung durchschlüpfen und deutet in Richtung der Musiker, die gerade hinter der Bühne zusammenstehen und sich beraten.
»Schön, dich wiederzusehen«, übersetzt der Dolmetscher. »Der Himmel blickt ziemlich finster drein.«
»Ja. Total finster«, sage ich. Auf meiner Stirn bilden sich Schweißperlen. »Und es wird noch schlimmer, wenn wir es nicht aufhalten.«
So schnell wie möglich erzähle ich ihnen meinen Plan. Sie tauschen Blicke aus.
»Werden wir wieder in dieser Scheiße landen?«
Ich schüttle den Kopf. »Ich weiß nicht. Ich weiß nicht mal, ob mein Plan funktioniert. Aber wenn wir’s nicht versuchen, wird die Welt sehr bald den Bach runtergehn.«
Ein Techniker kommt zu uns rüber. »Sorry, Leute. Bei dem Sturm ist es gefährlich, auf die Bühne zu gehn. Das Konzert wurde abgesagt.«
»Was?«, rufe ich. »Nein! Ihr müsst das rückgängig machen!«
Der Techniker zuckt bedauernd mit der Schulter. »Wir haben die Band gerade erst wieder. Wir können nicht zulassen, dass sie sich schon wieder in Luft auflösen.«
»Bitte«, flehe ich und beachte ihn nicht. »Nur einen Song!«
Die Musiker drängen sich dicht zusammen und diskutieren heftig. Sie rufen nach ihrem Übersetzer.
Murmel. Murr. Murmel. Pause.
»Es ist, wie wenn man im falschen Eis fischt und seine Leine überprüft.«
»Genau.« Ich nicke und habe keine Ahnung, was sie damit meinen.
Gegen den Rat der Leute von YA! TV erklärt sich die Copenhagen Interpretation bereit, ein allerletztes Lied zu singen, in der Hoffnung, dass es die Feuerriesen und den Großen Abrechner durch die Higgsfelder zurückschickt nach Wo-immer-sie-herkommen und dass der Song das Wurmloch verschließt und diese Wesen nie wieder in unserer Welt auftauchen können. Ein Roadie führt mich raus auf die Bühne. Die Leute jubeln, bis sie merken, dass ich ein Niemand bin. Nur Gonzo, Drew und Balder rufen weiter meinen Namen.
»Cameron! Rette das Universum, pendejo!«
Und bald darauf singt die ahnungslose Menge: »Rette das Universum, pendejo!«
Die Flammen sind noch näher gekommen. In der Ferne höre ich die Sirenen der Löschfahrzeuge. Ich hole das Calabi-Yau-Teil aus meinem Rucksack und befestige es, so gut ich eben kann, an einem der Verstärker. Es hängt herab wie eine halb leere Piñata. »Bitte«, flüstere ich, »nur dieses eine Mal, bitte!«
Der Himmel lässt wirklich nichts Gutes ahnen. Die Wolken ziehen sich zusammen. Blitze zucken wie aus kaputten elektrischen Leitungen. Jetzt kriegen es die Menschen mit der Angst zu tun. Sie wollen weg. Jeden Augenblick kann eine Massenpanik ausbrechen. Ich sehe Dulcie nicht, und ich hoffe, sie ist okay, wo immer sie sein mag. In dem Moment, als die Copenhagen Interpretation das Podium betritt, renne ich auf die Seitenbühne. Eine Sekunde lang explodiert die Menge förmlich im manischen Glückswahn. Aber schnell siegt wieder die Angst. Die Leute wissen nicht, ob sie bleiben oder gehen sollen. Einerseits spielt die Copenhagen Interpretation. Andererseits sind da dieses Feuer und dieser Himmel.
Der Dolmetscher tritt ans Mikrofon.
Murmelmurmelmurrmurrmurmelmurmelmurrmurr.
Lange Pause.
»Während unserer Reise haben wir uns durch viele Gleichungen gekämpft – wir haben Mathe gepaukt, um das Universum zu verstehen, um Musik zu machen, um Sterne kartografieren zu können und auch – sehr wichtig! – um Trinkgelder zu geben. Und hier ist unsere Lieblingsgleichung: Wir plus Ihr ist gleich Wir Alle. Das ist sehr simple Mathematik. Versucht’s mal damit. Wahrscheinlich braucht ihr dazu nicht mal einen Stift.«
»Hey. Hey! Was ist das?«, kreischt ein Mädchen.
Die Feuerriesen sind da. Sie haben uns komplett eingekreist – eine wütende Armee, die ihren Hunger nach Vernichtung stillen will, nur dass sie niemals satt werden wird und deshalb weiter brandschatzen muss. Meine Kehle wird trocken, wenn ich diese abgrundtiefen schwarzen Augen sehe. Die Menge brüllt, kauert sich zusammen und jeder klammert sich an seinen Nachbarn. Nur die Copenhagen Interpretation weicht nicht zurück. Sie halten stand und haben noch etwas zu sagen. Der Dolmetscher übersetzt jedes Wort.
Murmel. Murmelmurrurrumurrumurrumumurrmurmelmurrururururu. Pause.
»Bitte. Wir wissen Bescheid. Das sind schwere Zeiten. Die Welt ist aus den Fugen. Wir leben in Furcht und vergessen, die Hoffnung an unsere Seite zu ziehen. Aber die Hoffnung hat euch nicht vergessen. Also ladet sie zum Dinner ein. Sie ist wahrscheinlich hungrig und würde sich über die Einladung sehr freuen.«
Die Feuerriesen werfen die Köpfe zurück und heulen auf Teufel komm raus – von ihrem schrecklichen Kreischen kriege ich eine Gänsehaut. Einige in der Menge schreien vor Angst. Der Dolmetscher muss ins Mikrofon brüllen. »Das Lied heißt Small World.« Der Drummer schlägt die Stöcke aufeinander – zwei, drei, vier – und stößt dabei den Calabi Yau von der Lautsprecherbox. Scheiße. Sie spielen, aber ohne die zusätzliche Verstärkung. Das reicht nicht!
Ich stürze auf die Bühne, die Security hinter mir, aber der Gitarrist versperrt dem Wachmann den Weg. »Hier läuft alles nach Plan«, rufe ich, halte den Calabi Yau mit beiden Händen an die Lautsprecherbox und schiebe ihn an die richtige Stelle. Der Ton, der aus der Box kommt, haut mich fast um. Eine Minute lang fühlt es sich so an, als ob ich wieder im Unendlich-Beschleuniger wäre. Das ist mehr als Musik – das ist was Lebendiges, ein Portal in Dimensionen, über die ich niemals auch nur ansatzweise nachgedacht habe. Die Töne ziehen hoch über unseren Köpfen dahin; ich kann sehen, wie sie dort herumwirbeln. Alles zieht ins schwarze Loch und das Loch verengt sich allmählich. Die Feuerriesen heulen, als sie von den Schallwellen zurückgetrieben werden. Bald darauf lösen sich die Menschen aus ihren ängstlichen Umklammerungen. Sie halten sich an den Händen und fangen an zu singen. Die Feuerriesen werden kleiner. Mit jedem Ton schrumpfen sie, flackern noch schwach und gehen schließlich in Rauch auf, der hinauf in die wirbelnden Wolken gezogen wird. Das Loch ist nur noch so groß wie ein Punkt.
Auf der Bühne hat die Copenhagen Interpretation aufgehört zu spielen. Der Leadsänger schaut nach oben und sagt sieben Worte in Englisch: »Scheiße. Jetzt geht das schon wieder los.«
Bevor es sich endgültig schließt, werden die Musiker ins Wurmloch gesogen und das Calabi-Yau-Ding gleich mit. Die Wolken zerstreuen sich und eine unheimliche Stille macht sich breit. Die Menschen sind wie betäubt. Als sie spüren, dass ihnen nichts passiert ist und dass wir alle noch hier sind, beginnen sie langsam, Freudenschreie auszustoßen und sich vor Erleichterung zu umarmen. Dann sehen sie die leere Bühne.
Ich lasse mich in die Menge hinunterfallen, helfe Gonzo auf die Beine, und der stützt Balder.
»Was war das?«, fragt Gonzo, als er seine Stimme wiedergefunden hat.
Ich halte nach einer Spur von Regenbogen Ausschau. »Ich denke, wir könnten gerade das Universum gerettet haben.«
Ich sehe mich nach Dulcie um, aber sie ist verschwunden. Ich gerate in Panik. Was ist, wenn sie auch ins Loch gezogen wurde? Aber dann entdecke ich sie in der Menge, pink und weiß.
Ich renne auf sie zu.