Handelt davon, was passiert, wenn ich mich selbst auf einer dunklen Landstraße wiederfinde und Feuer vom Himmel regnet
Das Medikament gegen meinen Wahnsinn macht mich echt müde, aber schlafen kann ich trotzdem nicht. Die Schlaflosigkeit ist in der vergangenen Woche schlimmer geworden. Bis vier Uhr früh glotze ich jede Nacht Late-Night-TV. Letzte Nacht war’s mir so langweilig, dass ich tatsächlich im öffentlichen Fernsehen eine Sendung über ein paar Wissenschaftler angeschaut habe, die ihre eigene Big-Bang-Maschine bauen. Es handelt sich um irgendeine Art von Super-Teilchenbeschleuniger, so ein Speicherring-Dingsda, das sie nützen wollen, um Strings und Superstrings und Parallelwelten zu entdecken, die unser Verstand bis jetzt noch nicht wahrnimmt. Da gibt’s Welten, die so klein sein können wie eine Schneekugel oder so groß wie die Milchstraße. Elf Dimensionen. Jedenfalls sagen sie, dass das möglich ist.
Im Augenblick ist die Dimension, in der ich mich befinde, extrem öde. Im Prinzip stehe ich seit dem Störfall Chet unter Hausarrest. Aber heute Abend hält Dad einen Vortrag an der Uni, Mom besucht ihren Literaturclub und Jenna ist mit ihrer Mädchenclique unterwegs. Ich fühle mich irgendwie beschissen – meine Muskeln schmerzen, als hätte mir das ganze Footballteam einen Bodycheck verpasst. Aber meine Freiheit werde ich nicht vergeuden! Ich rauche genug, um locker zu werden, und fahre mit dem Rad rüber zu Eubie’s.
»Hey, Cam-run!«, begrüßt mich Eubie, als ich zur Tür reinkomme. »Wo warst du die ganze Zeit?«
»Nirgendwo.«
»Immer noch? Is nicht wahr.« Er wirft mir einen freundlichen Blick zu. »Du siehst mitgenommen aus, völlig abgeschlafft.«
»Vielen Dank.«
»Dir fehlt Farbe. Du musst ins Freie. Dinge erleben. Musik spielen. Dich verlieben.«
»Ja, tu ich doch. Tag und Nacht«, sage ich und wühle in einem Stapel neuer Platten.
»Warum redest du mit mir wie ein Klugscheißer? Ich mein’s ernst«, sagt Eubie. »Das Leben ist kurz, mein Freund.«
»Sagt man. Hast du was Neues für mich?«
Eubie legt die Hände auf den Ladentisch und beugt sich nach vorn. »Nein«, sagt er. »Es sei denn, du willst dir diese Junior Webster-Platte ausleihen.«
»Vielleicht irgendwann anders.«
»In Ordnung. Ich will dich nicht drängen. Aber du verpasst was. Hey, guck mal«, sagt Eubie und wedelt mit einem Reiseführer vor meiner Nase. »Hab mir zwei Tickets nach New Orleans gekauft, zum Mardi Gras.«
»Für wen ist das andere Ticket?«
Eubie legt die Hand aufs Herz und wankt zurück, als sei er schockiert. »Cam-run? Hast du mich eben was Persönliches gefragt? Hast du etwa gerade Interesse an deinem alten Kumpel geäußert, an jemand anderem als deinem eigenen leidgetränkten Ich? Mein Gott, Jesus! Ein Wunder – fürwahr ein Wunder!«
»Ja, ja, ja«, sage ich, und tu so, als ob es mich nicht betrifft. Ich interessiere mich für andere Menschen. Ich hätte gern Sex mit Staci Johnson. Das ist eine Form von Interesse.
»Ich nehm meine neue Flamme mit«, sagt Eubie und küsst die Tickets. »Die dunkle Deanna. Miss D.«
Ich fahre mit der Hand über meinen Nacken. Ich schwitze und gleichzeitig ist mir kalt. »Klingt wie der Name eines Pornostars. Oder einer Dragqueen.«
Eubie hebt einen Finger. »Hör auf damit. Hast du heute Abend was vor?«
Ich zucke mit den Schultern.
»Was heißt das?«
Nichts. Das ist das Schöne am Schulterzucken: Es ist total unverbindlich.
»In Buddy’s Jazzkeller findet eine super Show statt. Ein paar stramme Weiber. Ich bin dabei. Kommst du mit? Ich setz dich auf die Liste – als meinen Gast.«
»Nee. Danke. Ich hab noch was zu tun.«
»Aha. Was denn?«
»Weißt schon, eben so Sachen.«
»Okay, Mr Ich-geh-nirgendwo-hin-und-probier-niemals-was-aus. Aber du versäumst ne heiße Show.«
»Nächstes Mal«, sage ich.
»Ja, nächstes Mal«, sagt Eubie und verdreht die Augen.
Ich verlasse den Laden mit ein paar CD-Rohlingen, damit ich meine Tremolo-LPs kopieren kann. Als ich die zweite Hälfte meines Joints geraucht habe, brennen bereits die Straßenlampen. Der Stoff ist absolute Spitzenklasse, und ich kriege einen höllischen Kick, der alles – mich eingeschlossen – zu einer Welle und einem Teilchen gleichzeitig macht. Ich radle hinter der Uni entlang, lasse mein Fahrrad zwischen Straße und Gehsteig hüpfen, ignoriere Stoppschilder und überliste Verkehrsampeln. An der letzten Ecke der Mambrino Street rast ein Wagen voll besoffener Studis um die Kurve und macht mich fast platt.
»Hast du’n Problem?«, brüllt mich einer der Kerle an. Aber vor allem höre ich mein Herz wie einen Hammer schlagen. Die Typen schleudern mir Flüche und leere Bierdosen hinterher.
»Aus dem Weg, du Blödmann!«, schreit jemand, bevor sie sich grölend davonmachen: »Par-ty! Par-ty! Par-ty!«
Ich bin zu breit, um durch die Stadt fahren zu können. Also düse ich auf eine alte Landstraße, die sich zwischen Viehweiden und einsamen Farmen dahinschlängelt. Die Strecke ist länger, aber es gibt weniger Verkehr und ich kann meinen angetörnten Zustand in Ruhe auskosten.
Ich höre auf, in die Pedale zu treten, und genieße den feuchtkalten Wind in meinem Gesicht. Es fängt an zu regnen, aber das macht mir nichts aus. Ich fühle mich jetzt, in diesem Augenblick, als ob ich der einzige Mensch im ganzen Universum bin. Weiche Regentropfen küssen meine Haut. Ich strecke die Zunge heraus und koste sie.
Der Wind nimmt zu und bedrängt mich mehr und mehr. Die Wolken über den Baumwollfeldern blähen sich zu einem bedrohlichen grauen Klumpen auf und treiben vorüber, als würden sie von einem riesigen unsichtbaren Magneten ins Zentrum des Himmels gezogen. Als ich das sehe, schlägt mein Herz doppelt so schnell. Plötzlich will ich hier draußen keinen Augenblick länger bleiben. Noch eine halbe Meile bis zur Abzweigung, die zu unserem Haus führt. Ich gehe aus dem Sattel, trete so heftig ich kann in die Pedale und lege mein volles Gewicht in jeden Tritt.
Die dunkle Masse beginnt herumzuwirbeln. Ein Tornado, denke ich. Scheiße. Aber es ist sonderbar, weil die Wolken nicht auseinanderwirbeln und sich nach unten bewegen; sie ziehen sich zusammen. Donner dröhnt, Blitze zucken, und ein schmales, dunkles Loch öffnet sich mitten im unergründlichen Zentrum dieser Wolken – ein schwarzes Auge, völlig ohne Licht. Am übrigen Himmel knistert und knackt es. Wie ein Speer aus Neonlicht kracht ein Blitz in einen kleinen Baum nahe der Straße. Mit gewaltigem Knall explodiert der Baum zu einem wahren Flammenschauer. Ich erschrecke und verliere das Gleichgewicht. Mein Fahrrad schlittert zur Seite, ich falle und schlage mit dem Kopf auf den Straßenschotter. Mit einem Stöhnen richte ich mich auf. Vor meinen Augen verschwimmt alles, dafür sehe ich den Horizont doppelt. Mein Kopf tut weh und das Knie blutet.
Der Baum steht noch in Flammen, als würden auf ihm Blätter aus Feuer erblühen. Wie ich ihn so betrachte, machen sich einige Feuerzungen selbstständig und dann, Mann – ich muss so high wie noch nie sein, oder ist mein Hirn durchgeknallt? Weil, was ich jetzt sehe, kann einfach nicht wahr sein: Diese Feuerblätter wachsen und verändern sich, als würde etwas innen drin darauf warten, geboren zu werden. Das Blatt, das mir am nächsten ist, entwickelt sich so schnell wie in einem dieser wissenschaftlichen Zeitrafferfilme: Das kleine gekrümmte Etwas entfaltet sich, breitet sich aus, nimmt an Masse zu, als verfolgte es einen Plan. Es reckt sich in die Höhe, streckt sich weiter und weiter, überragt mich um mindestens drei Köpfe und wird – ein riesiger brennender Mann mit Augen so schwarz wie das Loch, das sich über uns am Wolkenhimmel öffnet. Oh Gott, jetzt sind es drei, vier, jetzt fünf von ihnen; sie brennen so hell, Flammen züngeln aus ihren Körpern wie blau-orange Schweißströme. Sie fegen mit den Armen hin und her, und wo sie drüberstreichen, versinkt das Land in tiefem Schwarz. Das bringt sie zum Lachen und ihr Gelächter klingt schrecklich – wie die Schreie von Menschen, die bei lebendigem Leib verbrennen.
Einer der Feuerriesen bemerkt mich. Unsere Blicke verhaken sich. Mein Blut pulst in einem neuen Rhythmus durch die Adern – rennrennrennrennrenn. Ich glaube, der Feuerriese spürt das. Er kreischt, deutet mit glühendem Arm in meine Richtung, und die Hitze wirft mich zurück. Heilige Scheiße! Mein Kopf dröhnt und mein Gesicht brennt wie nach einem Sonnenbrand. Ich schnappe mir mein Fahrrad und versuche, in die Pedale zu treten, als wäre ich nicht verletzt und total am Ende. Das Rad schwankt hin und her und fährt dann geradeaus. In meiner Nase hat sich der Brandgeruch festgesetzt. Hinter mir höre ich das schreckliche Gebrüll.
Du musst es nur bis zur Abzweigung schaffen. Weiter nichts. Halt. Nicht. An.
Jemand steht auf der Straße.
Ich steige in die Eisen und komme fast wieder ins Schleudern. Es ist dunkel und man erkennt kaum was, aber dort steht jemand, auf jeden Fall. Und er ist groß.
»Hallo!« Die Panik in meiner Stimme macht mich wahnsinnig. »Rufen Sie die Feuerwehr!«
Der Kerl bewegt sich nicht.
»Hallo? Können Sie mir helfen?«
Ein Donnerschlag wie ein Urknall. Blitze zucken um uns herum und ich erhasche einen flüchtigen Blick auf die Gestalt: großer Kerl. Schwarze Rüstung, die wie Öl funkelt. Helm. Eisernes Visier. Schwert. Das Schwert reflektiert das grelle Licht der Blitze, dass mir die Augen wehtun. Dann wieder Dunkelheit. Jetzt scheint die Nacht noch schwärzer als zuvor. Ich kann nichts sehen, ich kann mich nicht bewegen, ich kann nicht denken, ich kann nichts tun, außer nach Luft zu schnappen wie ein Fisch, der an den Strand gespült wurde und darauf hofft, dass ihn eine Welle zurück ins Meer trägt. Ein weiterer Blitz zerreißt für wenige Sekunden die Nachtschwärze.
Er ist weg. Die Straße vor mir ist frei.
Der Regen prasselt im Stakkato auf die Erde. Ich muss was tun. Mein Herz randaliert. Ich laufe über die Straße und halte so viel Abstand wie möglich zwischen mir und dem, was immer an Schaurig-Schrecklichem hinter mir lauert. Erst als ich sicher um die Ecke gebogen bin, schaue ich zurück: Im Platzregen sind die Feuerfelder zu rauchenden Ruinen heruntergebrannt. Die Feuergötter und der große Kerl sind verschwunden. Und über mir nichts als Wolken und Regen.
Das leere Rechteck mit dem Fragezeichensymbol starrt mich an, weiß und ahnungslos: »Ehrlich«, möchte ich ihm sagen, »ich weiß nicht einmal, wie ich diese Suche starten soll.« Gigantische, futuristisch aussehende Rittertypen, die mitten auf der Straße stehen? Bedrohliche Feuerriesen? Schwarze Löcher über der Vorstadt?
Vielleicht war es ein Tornado oder irgendeine optische Täuschung, oder vielleicht wurde meinem Gras irgendein fremdartiges Hydrokulturzeugs untergemischt. Im Licht des Computerbildschirms tippe ich »Erfahrungen mit schlechtem Stoff« ein. Seite für Seite erscheinen Beiträge von Leuten, die auf irgendwelchen Partys in Ohnmacht fielen und die sich mit Permanentmarkern Scheißhauspapier auf die Stirn schrieben. Nichts darüber, was ich gesehen habe. Ich klicke auf Aktualisieren, und plötzlich taucht ein neuer Link auf: www. FolgeDerFeder.com. Und da erscheint ein Bild von einer dieser sonderbaren Federn, wie der, die ich in meinem Zimmer gefunden habe.
Mein Mund fühlt sich trocken an, als ob mein Speichel geklaut worden ist. Schließlich klicke ich auf die Menüleiste und der Bildschirm wird für eine Sekunde dunkel. Ein Bild der Small World-Bootsfahrt taucht auf. Aus den Lautsprechern dröhnt der Song. Eine Schriftzeile treibt ins Zentrum des Bildschirms: Folge der Feder. Daneben befindet sich ein kleines Federsymbol. Ich klicke es an und ein Videoclip erscheint.
Ein Typ im Laborkittel sitzt an einem mit allem möglichen Kram bedeckten Schreibtisch: Papiere. Ein seltsam leuchtendes Spielzeug, das teils aussieht wie eine Muschelschale, teils wie ein mit Röhrchen gespicktes Windrädchen. Das gerahmte Foto einer lächelnden Dame mit blondem Haar und Sommersprossen. Ein altmodischer Radioapparat. Ich erkenne die Musik im Hintergrund – irgendein Stück der Copenhagen Interpretation. In einem Regal hinter dem Kopf des Typen steht eine eindrucksvolle Sammlung von Schneekugeln. Der Mann lehnt sich nach vorn, um irgendwas an der Kamera zu regeln, und sein Gesicht wird unscharf. Dann lehnt er sich zurück, lächelt und ringt mit den Händen.
»Hallo«, sagt er. Er hat eine nette Stimme – beruhigend. Schwer zu sagen, wie alt er ist, auf jeden Fall älter als mein Vater. Ein Asiate, mit langem, grau meliertem Haar und buschigen schwarzen Augenbrauen über seinen erschöpft und gleichzeitig überrascht dreinblickenden Augen. Er sieht aus wie einer von den Leuten, die im Leben schon alles gesehen haben und es trotzdem nicht glauben können.
»Ich werde es herausfinden. Zeit, Tod – das sind nur Illusionen. Unsere Atome, die Struktur unserer Seele, leben weiter. Davon bin ich überzeugt.« Er hält das eigenartige Spielzeug hoch. »Irgendwo in diesen elf Dimensionen, die wir noch nicht sehen können, liegen die Antworten auf die größten aller Fragen: Warum sind wir hier? Wo kommen wir her? Wo gehen wir hin? Gibt es einen Gott, und wenn ja: Ist Er gleichgültig oder einfach nur sehr, sehr, sehr beschäftigt?«
Nach einem Signalton zeigt das Video Leute, die auf einem Feld in der Nähe von Windrädern Fußball spielen. Klick. Schneller Schnitt zum asiatischen Typen, wie er gerade seinen Arm um die lächelnde sommersprossige Frau von dem Schreibtischfoto legt. Sie presst ihre Lippen auf seine.
»Ah«, lacht er. »Die Ewigkeit – in einem Kuss!«
Kurze Abblende, dann kommt das Bild wieder, mit demselben Mann, jetzt aber ist er älter. Sein langes Haar ist größtenteils silbergrau, seine Augen blicken erschöpfter. Den Song der Copenhagen Interpretation hört man immer noch. Der Mann hält eine große weißrosa Feder hoch.
»›Hoffnung hat gefiederte Flügel und lässt sich auf der Seele nieder.‹ Emily Dickinson. Warum müssen wir sterben, wenn jede Faser in uns sich nach dem Leben verzehrt? Träumt nicht alles in uns von mehr als dem bisschen Leben?« Seine Hände schließen sich um etwas, das wie eine Eintrittskarte oder eine Schlüsselkarte aussieht. »Heute Nacht breche ich zu anderen Welten auf. Auf der Suche nach Beweisen. Auf der Suche nach Hoffnung. Auf der Suche nach einem Grund, weiterzuleben. Oder zu sterben …«
Das war’s. Mehr kommt nicht. Ich will es noch einmal abspielen, aber alles, was ich sehe, ist die Filmsequenz, die am Ende jedes ConstaToon-Zeichentrickfilms gezeigt wird: das Bild einer funkelnden Galaxie, die der Roadrunner plötzlich mit seinem Kopf durchstößt und dabei ein Loch in den Weltraum reißt. Der Rennkuckuck hält ein Schild hoch, auf dem steht: PIEP-PIEP. DAS WAR’S FÜR HEUT, KINDER.
Das Nächste, was ich weiß, ist, dass eine Sirene in meinen Ohren dröhnt.
»Cameron!«, brüllt jemand gegen den unmenschlichen elektronischen Lärm an, der nicht enden will. »Cameron!«
Ich ringe nach Luft und wache auf – schweißgebadet.
»Cameron! Wir kommen zu spät!« Mom. Schreit. Von unten.
Der Wecker schrillt immer noch. Rot blinkende Digitalziffern bedrohen mich: 7:55. Ich liege im Bett und habe noch meine Sachen von gestern an.
»Komme sofort!« Ich bestrafe den Wecker mit einem festen Schlag und fühle mich beschissen. Meine sauberen Klamotten liegen auf einem Haufen am Fußboden. Als ich nach ihnen greife, tut mir jeder einzelne Muskel weh. Das ist eindeutig ein Tag für die Schulschwester.
Unten surrt das Haus vor Geschäftigkeit, von all dem Tu-dies-tu-das, das die Leute so zu lieben scheinen. Mom sieht noch erschöpfter aus als sonst. Sie trägt einen Ohrring und sucht den anderen. »Cameron, Liebling, wir müssen gehen! Pack dir einen Müsliriegel ein.«
»Hab keinen Hunger«, sage ich und nehme mir einen halben Bagel von Jennas Teller.
Jenna schnappt ihn sich wieder. »Mom, kannst du bitte deinen Sohn daran erinnern, dass er jeden Kontakt mit mir zu unterlassen hat.«
Mom wirft die Hände in die Höhe. »Könntet ihr euch bitte zusammenreißen? Ich hab einen sehr wichtigen Termin beim Dekan.«
»Er hat angefangen«, schmollt Jenna.
Die Küche riecht nach Rauch. Für einen Augenblick kriege ich Panik, als ich an die haschbedingte Episode von vergangener Nacht denke.
»Mom, du hast den Toaster angelassen. Er brennt.«
»Nein, ich hab ihn ausgemacht. Wo ist bloß mein Ohrring?«
»Mensch Mom. Ich riech doch, dass er sich überhitzt hat. Mir wird’s übel.«
Jenna hält ihren Bagel hoch und inspiziert ihn: »Hallo! Nicht getoastet, okay?«
»Ha! Du sprichst mit mir!« Ich würde die Situation gern noch ein bisschen weiter ausreizen, aber selbst dieses kleine Hickhack bereitet mir Kopfschmerzen.
»Also bitte, ihr zwei. Jenna, könntest du mir meinen Ohrring suchen helfen?«
Der Gestank nach verschmortem Plastik nimmt zu. Ich weiß, dass Mom den Toaster benutzt und vergessen hat, ihn auszuschalten. Falls er verschmort, wird Dad ausrasten.
»Gut, ich werd ihn ausschalten.«
Ein leises Zischen ist zu hören. Rauchfähnchen dringen aus allen Ritzen des Toasters. Irgendwas flackert orange. Ich springe zurück. Bevor ich den Ausschaltknopf drücken kann, verwandelt sich das Flackern. Lange, gekrümmte Feuerkrallen züngeln hervor und brennen tiefschwarze Schrammen in die Wand.
»Mom …« Meine Stimme bricht.
Der Toaster geht in Flammen auf und ein Feuerstrom schießt hinauf bis zur Decke. Mom und Jenna kreischen, aber ich kann nicht aufhören hinzusehen. Die Flammen haben Augen – harte schwarze Diamanten in einem Gesicht aus blau-orangem Feuer. Und sie starren mich direkt an.
»Hol den Feuerlöscher!«, schreit Mom.
Das passiert nicht wirklich. Das passiert nicht wirklich, passiertnichtwirklichnichtwirklichnichtwirklich. Ist nur ein weiterer Traum, Cam. Wach einfach auf. Aber ich kann nicht. In meinen Ohren höre ich das Zischen und Knistern der Flammen näher kommen. Zitternd gehe ich zu Boden. Über mir lachen die Feuerriesen, und ich spüre das Brennen in mir wie einen Virus, den ich nicht auslöschen kann.
Helft mir. Helft mir. Helft mir.
»Cameron? Was ist mit dir los, Cameron?«, schreit Mom. »Jenna – hol deinen Vater. Frank! Frank!«
Mom stürzt sich mit ihrem vollen Gewicht auf mich, aber ich schlage um mich. Ich will nicht schlagen. Es passiert einfach. Stopp. Mein Gehirn brüllt den Befehl, aber meine Beine folgen nicht.
»Cameron?« Moms Augen stehen vor Angst weit offen. Ich will es ihr erklären, möchte sie warnen, aber ich kann keine Worte formulieren. Und die Feuerriesen sind so nah – ein Gefühl, als ob mich ihre Hitze schmelzen lässt. Einer beugt sich nieder. Seine flammende Zunge schlängelt heraus, leckt meinen Arm bis hoch zur Schulter und jagt Schmerzen wie von tausend Nadelstichen durch meinen Körper. Dabei ertönt dieses schreckliche Gelächter, das ich schon im Baumwollfeld gehört habe. Ich kann nicht aufwachen und ich kann es nicht aufhalten.
Dann höre ich nur noch ein einziges Geräusch – mein eigenes entsetztes Gebrüll.