In dem wir einer Dragqueen begegnen und dem berühmtesten lebenden oder toten Jazzmusiker
»Also, lass mich das klarstellen: Das Bild auf einem Streichholzbriefchen zeigt uns den Weg?«, fragt Gonzo.
»Lauf einfach weiter.« Auf dem Kopfsteinpflaster der schmalen Straße komme ich in die Gänge.
Nur wenige Leute sind hier unterwegs und sie gehen in die entgegengesetzte Richtung. Die Häuser liegen im Dunkeln, die Jalousien sind heruntergelassen und die Wände zugekleistert von alten, zerrissenen Zetteln mit unscharfen Bildern lächelnder Menschen und mit von Hand gekritzelten Hilferufen: Vermisst! Wer hat sie/ihn gesehen? Unsere Großmutter / unser Bruder / unsere Schwester / unser Vater. Bitte anrufen! Die Zettel sind so verschlissen, dass sie schon mit dem Ziegelgemäuer zu verschmelzen scheinen, wie Geister aus Papier.
Gonzo läuft neben mir, grummelt vor sich hin und schaut nach links und nach rechts. »Sieht aus wie ein übles Viertel, Alter.«
Zwei Typen in tiefsitzenden Jeans und mit Baseballmützen lehnen mit verschränkten Armen an einer Hauswand. Ein anderer Typ stößt dazu und dann noch einer. Das erinnert mich an einen Horrorfilm, den ich mal gesehen habe, in dem diese Vögel langsam einen Spielplatz bevölkern, während die Lady dasitzt, eine Zigarette raucht und an nichts Böses denkt.
»Scheiße. Jetzt sind’s schon vier«, sagt Gonzo.
»Lauf einfach weiter und lass dir nichts anmerken.«
»Ich hab aber Angst, Alter. Sie können uns total in den Arsch treten.«
Die Typen schließen sich uns an. Wir laufen schneller. Sie auch. Wir biegen in die Rampart Street ein. Sie folgen uns. Kann sein, dass sie einfach denselben Weg haben wie wir. Kann sein, dass uns unsere Ärsche bald auf einem Tablett serviert werden.
»Oh Mann, wir sind so was von tot.«
»Bleib einfach cool.«
Die Tür eines kleinen Hauses geht auf. Licht und Partygeräusche schwappen über den Gehsteig. Vor uns läuft die größte Frau, die ich je gesehen habe. Mit Stöckelschuhen ist sie ungefähr zwei Meter groß und sieht aus wie ein Festwagen. Ihre Augen sind mit glitzernd blauem Lidschatten bemalt. Sie trägt falsche Wimpern und ihr Haar ist rotgelockt und hochgesteckt. Enormer Haarschopf. Enormer Schmuckbehang. Enorme Hände. Boah! Wirklich enorme Hände. Zwischen den Mammutfingern hält sie eine Zigarette.
»Hey, Süßer, gibst du mir mal Feuer?«, fragt sie mit tiefer Stimme.
Ich drehe mich um, aber die Typen, die wir hinter uns vermuteten, haben sich eine andere Ecke gesucht. Unter dem Licht einer Straßenlampe üben sie Tanzschritte und lachen, wenn einer von ihnen was verkorkst. Sie sind in etwa so bedrohlich wie eine Boygroup, und ich fühle mich wie ein absolut paranoider Idiot, weil ich mich da so reingesteigert habe.
»Wenn ihr schon hier rumsteht, könnt ihr euch auch nützlich machen. Habt ihr Feuer?«, fragt die Lady.
»Gonzo«, sage ich, »Streichhölzer.«
Gonzo gibt der Lady die Streichhölzer. Die zieht einen Schmollmund. »Zuckerpüppchen, eigentlich solltest du die Zigarette eines Mädchens anzünden und es nicht mit Streichhölzern bewerfen. Hat dir deine Mama nichts beigebracht?«
»’tschuldigung«, sagt er.
»Ist schon gut«, sagt sie und zündet sich die Zigarette selbst an. Jesus, ist die Frau groß! Gonzo reicht ihr gerade mal bis zur Kniescheibe und ich geh ihr nur bis zur Taille. »Was macht ihr kleinen Pfadfinder hier draußen? Das ist keine gute Gegend, Kinderchen. Ich wurde hier mal ganz bös niedergestochen.«
»Wir suchen das Golden Trumpet«, erzähle ich ihr und zeige auf das Streichholzbriefchen. »Es sollte hier in der North Rampart Street sein.«
»Seit ungefähr viertausend Jahren gibt’s das hier nicht mehr. Es ist weitergezogen. Bleibt nie an einer Stelle. Man muss wissen, wo man danach suchen muss.« Die Lady blickt durch ihren Tabakrauchschleier auf uns herab und mustert uns von Kopf bis Fuß. »Wie kommt ihr denn dazu, ins Golden Trumpet zu wollen?«
»Wir wollen den Ort sehen, an dem Junior Webster gespielt hat«, sage ich.
Die Augen der Dame werden größer. »Junior Webster. Der Name ist mir lange, lange Zeit nicht zu Ohren gekommen.«
Irgendjemand brüllt vom Balkon herunter: »Miss D! Wir brauchen mehr Bier!«
»Hol’s dir selber, Süßer! Ich bin beschäftigt«, ruft sie zurück. »Und, äh, wie, glaubt ihr, wollt ihr denn genau ins Golden Trumpet reinkommen – das heißt, falls ihr es überhaupt finden könnt? Ihr zwei seid ja noch nicht mal alt genug, um euch zu rasieren.«
»Sind wir doch«, insistiert Gonzo und fühlt sich in seinem kleinen männlichen Stolz tief verletzt.
Sie reibt mit dem Finger über Gonzos weiche Wange. »Hm-hmmm.«
»Wir wollen nichts trinken. Wir wollen nur den Ort sehen, an dem Junior Webster gespielt hat. Mein Freund Eubie hat gesagt, wenn ich jemals nach New Orleans komme, muss ich das tun.«
»Hat er das gesagt?« Durch ihre ausgeatmete Rauchwolke wirft sie uns einen prüfenden Blick zu. »Hat dein Freund dir gesagt, wie ihr das Golden Trumpet findet?«
»Nein«, muss ich gestehen.
»Äh-hmm, hm-hmmm«, sagt Miss D bedeutungsvoll. Sie wirft die Kippe auf den Gehsteig und zerdrückt sie anmutig mit ihrem riesigen Fuß, der einem Basketballspieler gehören könnte.
»Wir können euch doch nicht zurückschicken, ohne dass ihr was zu erzählen habt, nicht wahr? Keine Sorge, meine Engel. Miss Demeanor wird euch mit Junior bekannt machen.«
Ich weiß nicht, was sie damit meint. Eubie hat mir erzählt, dass Junior Webster tot ist. Vielleicht meint sie, dass sie uns zum Club bringen wird.
»Also los, kommt mit, ihr Heimchen.« Miss Demeanor tänzelt den Gehsteig entlang und wir laufen hinter ihr her.
»Ey, Mann, Sie sind wirklich groß«, sagt Gonzo.
»Ja, Kindchen, das bin ich wirklich«, lacht sie lauthals.
»Gonzo«, flüstere ich eine Minute später. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass Miss Demeanor ein Kerl ist.«
»Klar. Ich wusste das.« Aber ich sehe, dass er es nicht wusste, weil er jetzt versucht, sie heimlich zu beäugen, um sicherzugehen.
An jedem anderen Ort der Welt wären wir drei ein wahres Spektakel, aber mit der Zeit wird mir klar: Je schräger du in New Orleans drauf bist, desto mehr gehörst du dazu. Als ob die ganze Stadt ein Zirkus ist. Ungefähr einen Block weiter sind wir wieder in dieser Nonstop-Party namens Mardi Gras.
Von einem dunklen Torweg her ruft ein Türsteher: »Hey, Miss D, wie geht’s, Darling?«
»Wie’s mir immer geht, Kindchen – guuuuut!« Sie lacht, als sie das sagt, und er lacht zurück.
Miss D führt uns aus dem chaotischen Gedrängel auf der Straße in eine abgeschiedene enge Gasse, die an einem kunstvollen Doppeltor endet, das exakt dem gleicht, das wir auf dem Wagen des Morpheus gesehen haben. Eine Seite ist ganz und gar weiß und auf der anderen sind die Umrisse einer Trompete eingraviert. Direkt hinter dem Tor befindet sich eine rote Tür.
»Die Tore des Golden Trumpet«, sagt Miss D. Sie öffnet sie und klopft dreimal kurz an die rote Tür, hält inne und klopft dann ein viertes Mal. In der Tür öffnet sich ein kleines Fenster. Ein Augenpaar erscheint.
»Du kennst mich?«, sagt sie.
Die Augen bewegen sich rauf und runter. Ja.
»Also weißt du, dass ich ein Stammgast war.«
Die Augen wippen noch einmal auf und ab.
»Ich bräuchte eine kleine Gefälligkeit. Meine Neffen hier kommen den langen Weg von …« Sie blickt zu uns herab. »Backwater. Sie möchten gern das Golden Trumpet besuchen.«
Die Augen huschen in unsere Richtung und saugen sich eine ziemlich lange Zeit an uns fest. Dann bewegen sie sich wieder zurück zu Miss Demeanor.
Sie seufzt und wirft ihre Arme himmelwärts. »Ich weiß. Gott segne sie, es sind die Kinder meiner hässlichen Schwester.«
Die Augen blinzeln nicht einmal.
»Für den Kleinen ist’s so was wie sein letzter Wunsch. Der Krebs hat zwölf seiner Organe erwischt. Wir sind einfach nur tief erschüttert.«
Sie presst ihre Hochglanzlippen zusammen. Das Fenster schweigt.
Miss D hebt einen Finger. »Okay. Okay. Aber wenn du ihm seinen letzten Wunsch verwehrst, kommt der Kleine als Geist zurück und poliert dir den Arsch.« Die Tür bewegt sich nicht. Schließlich hält Miss D die Streichhölzer hoch. »Diese Jungs hatten geschäftlich mit Junior zu tun, Liebling.«
Das Fenster wird geschlossen und die Tür öffnet sich.
»Danke, mein Kleiner«, sagt Miss D und geht voran.
Ich weiß nicht, wer uns reingelassen hat, weil niemand an der Tür steht, als wir eintreten. Als ob sich die Tür ganz von selbst geöffnet hat.
»Miss D«, beginne ich. »Wie kommen Sie dazu zu behaupten, dass wir mit Junior Geschäfte machen?«
»Macht ihr etwa keine, Liebling?«
»Aber ist denn Junior Webster nicht … tot?«
Sie lächelt. »Nicht, als ich ihn das letzte Mal sah. Klar, schwer zu sagen, wann genau das war. Nun kommt schon. Erwischen wir ihn, solange wir ihn erwischen können.«
Ich bin völlig durcheinander, aber uns bleibt nichts anderes übrig, als Miss D zu folgen, wohin immer sie uns führt. Wir gehen einen Gang entlang, der von roten Glühlampen beleuchtet wird. Miss D öffnet eine Tür, die zu einer weiteren, kleineren Tür führt, und hinter der beginnt ein schmaler Tunnel, durch den wir auf Händen und Knien kriechen müssen. Er endet in einer Küche. Miss D schlendert an Köchen in fleckigen Schürzen vorüber, die keine Notiz von uns nehmen. Sie drückt einen Knopf, und wir steigen in einen engen Aufzug, der sich ruckelnd und zuckelnd nach oben bewegt. Dieses Mal öffnet sich die Tür zu einem großen, verrauchten Nachtclub. Menschen in schrillen Kleidern und Harlekinmasken drängen sich um kleine Tische, die von roten chinesischen Laternen illuminiert werden. Die Tanzfläche ist vollgestopft mit Menschen, die wiegen und wogen, herumwirbeln und hin und her schwingen. Das pure Leben. Eine Jukebox in der Ecke schmettert wilde Rhythmen in den Raum. Alles daran ist schnell und unberechenbar – das Klavier hetzt, das Schlagzeug und die Gitarre folgen, und über allem schießt plötzlich eine Trompete hoch und stürzt wieder ab und steigt wieder hoch wie ein riesiger Vogel am Himmelszelt und lässt mein Herz im gleichen Takt pochen wie die Rhythmen. Ich möchte nichts mehr anderes tun, als zu laufen und zu schreien und Mädchen zu küssen und auf dem Motorrad durch die Wüste zu brettern. Ich fühle mich wirklich lebendig. Genau das, sagt Eubie immer, sollte Musik mit uns machen.
»Jetzt fühlst du Junior in dir«, sagt Miss D, als ob sie meine Gedanken lesen kann. Sie führt uns hinter die Bühne. Ein Schrank von einem Türsteher mit Sonnenbrille und Headset versperrt eine vorhangverhangene Tür.
»Hier wartest du mit mir, Kindchen«, sagt Miss D zu Gonzo.
»Warum kann ich nicht rein?« Gonzo klingt angepisst.
»Er empfängt immer nur einen Besucher«, sagt sie und legt die Hände an die Hüften. »Ich nehm dich mit nach vorn und bring dir ein bisschen Studentenfutter. Sie haben prima Studentenfutter.«
»Ich könnte eine Nussallergie haben«, höre ich Gonzo sagen, als ihn Miss D wegschleppt.
Der Bodyguard lässt mich rein und schließt die Tür hinter mir. Ich bin in einem kleinen, von einer roten Glühlampe beleuchteten Vorraum. Auf einem Beistelltisch brennt ein Dutzend dieser weißen Kerzen, die es in alten Kirchen gibt. Das Wachs hat an den Kerzenrändern dicke Klumpen gebildet. Über dem Tisch hängt ein mit Wasserfarben gemaltes Bild von Junior und dem schwarzen Loch. Ich habe das Motiv schon auf dem Cover der Cypress Grove Blues-LP gesehen, die mir Eubie in seinem Laden gezeigt hat. Im Zentrum des Bildes befindet sich ein großer weißer Ring, genau wie auf dem Album. An einem Reißnagel hängen ein paar Karnevalsgirlanden. Und dann klebt da noch ein Bild in der unteren rechten Ecke. Als ich es sehe, blinzle ich. Ich könnte schwören, dass es genauso aussieht wie das von Eubie mit seiner Harlekinmaske in der Bourbon Street.
»Ist da jemand?«, ruft eine raue Stimme.
Ich ziehe einen Vorhang zur Seite. Im Raum dahinter ist nichts weiter als zwei Sessel in der Nähe einer einzelnen Glühlampe. Junior Webster sitzt in einem davon und poliert seine Trompete. Er sieht aus wie ein Hundertjähriger. Seine faltige, schwarze Haut erinnert mich an schneebefleckte Lederschuhe. Er trägt denselben Anzug wie auf dem Bild mit demselben Strohhut und der schwarzen Sonnenbrille.
»Komm her und nimm Platz«, krächzt er. »Ich werd dich schon nicht beißen.«
»Sie sind wirklich Junior Webster?«, sage ich und setze mich neben ihn.
Junior kichert. »Schon mein ganzes Leben.«
»Schön, Sie zu sehen, Sir.«
»Freut mich auch, dich zu sehen, Cameron.«
»Sie kennen meinen –?«
»Alles zu seiner Zeit, alles zu seiner Zeit. Alles hängt mit allem zusammen, mein Freund, und wir haben ne Menge gemeinsam.« Junior klemmt sein Instrument unter den Arm. Er nimmt meine Hände und legt sie in seine. Die Innenseiten seiner Handgelenke sind stark vernarbt. »Du hast sie gesehen, stimmt’s?«
»Was gesehen?«, sage ich und denke, er meint seine Narben.
»Nicht was. Wen.« Junior entblößt funkelnde Zähne. »Feuerriesen.«
Mein Mund wird trocken. »Sie kennen sie auch?«
Junior nickt bedächtig. Er lässt meine Hände los und poliert wieder seine Trompete. »Oh ja, mein Freund, ich kenne sie. Widerliche Wesen. Du wirfst ihnen einen heimlichen Blick zu, und schon glaubst du, du würdest vor Angst verbrennen. Das ist wie’n Blick in ne andere Welt jenseits der unseren. Okay, diese Feuergötter sind zwar furchtbar, aber sie sind nicht das Schlimmste. Sie arbeiten für den Big Boss.« Er neigt sich zu mir: »Den Großen Abrechner.«
Der Name und die Art, wie er ihn erwähnt, treibt mir Gänsehaut auf die Arme. »Wer ist das?«
»Du hast ihn gesehen. In deinen Träumen. Auf ner nächtlichen Straße vielleicht.«
»Der Typ in der schwarzen Rüstung, die aussieht wie’n Raumanzug, mit Helm und Schwert?«
Junior spitzt die Lippen. »Wenn du ihn so gesehen hast. Er erscheint jedem anders.«
»Wer ist er?«
»Einer, der nicht von hier ist. Einer, der sich ungern abwimmeln lässt. Einer, mit dem du irgendwann aneinandergerätst, ob du willst oder nicht. Er und seine Feuergang versuchen seit Jahren, meine Trompete in die Hände zu bekommen.«
»Warum wollen sie Ihre Trompete?«
»Meine ganze Leidenschaft schwingt in den Tönen. Ich blas nicht nur Luft durch dieses Mundstück, sondern das ist meine Seele! Eines Tages wird er kommen, um mich zu holen, und dann werd ich blasen, wie ich noch nie zuvor geblasen hab, und dann werden wir sehen, ob’s reicht. Du suchst Dr. X, stimmt’s?«
»Woher wissen Sie das?«
»Hab ihn mal getroffen. Im Krankenhaus, nach dem Krieg. Du und ich, wir haben ne Menge gemeinsam.«
»Warten Sie – wie können Sie all das wissen? Wie können Sie bereits Dr. X getroffen haben, wenn Dulcie sagt, dass sich das Wurmloch gerade erst geöffnet hat –«
»Zeit und Raum, mein Sohn, halten sich nicht immer an die Regeln, die du kennst, und Dr. X hat ne Menge Regeln verbogen«, antwortet er. »Ich hab ihn damals getroffen. Und du suchst ihn jetzt.« Er legt die Fingerspitzen aneinander. Alles hängt mit allem zusammen.
»Genug geschwätzt. Will dir was Kleines zeigen. Nimm meinen Arm.«
Ich helfe dem großen Junior Webster aus dem Sessel. Er mag gebrechlich wirken, aber in diesem Arm steckt noch ne Menge Kraft. Ich muss Eubie davon erzählen, wenn ich zurückkomme.
Junior zieht beim Gehen ein Bein nach. »Das Humpeln kommt vom Krieg. Bin drüben gewesen, um für die Truppen zu spielen. Alberne Songs meistens. Tanzlieder. Verstehst du?«
Ich nicke.
»Hab da Dinge gesehen, solche Dinge! Dinge, von denen du hoffst, dass du sie nie zu sehen kriegst.« Er schüttelt den Kopf. »Danach war ich ein Jahr im Veteranenkrankenhaus. Die Nerven, verstehst du? Nicht ganz richtig im Kopf. Drei Jahre lang hab ich keinen Ton gespielt. Konnte einfach nicht. Ein Teil von mir lag draußen im Feld bei meinen toten Kameraden. Dann, eines Tages, hab ich meine Trompete genommen, und als ich zu spielen begann, da hat es total anders geklungen. Blut zwischen den Tönen. Herz. Seele. Jedes Fitzelchen meiner Seele kam da aus dem Instrument. Nichts hab ich zurückgehalten. Und das war’s.«
»Das war’s?«
»Hab gelernt, anders zu leben.«
Ich verstehe wirklich nicht, worauf er hinauswill, aber er scheint ein freundlicher alter Mann zu sein, und es tut mir leid, dass er das alles durchmachen musste.
»Wir gehen da rüber«, sagt Junior. Als wir uns der Ecke nähern, sehe ich ein weiteres Tor mit zwei Türflügeln. Es sieht genauso aus wie das, durch das wir gekommen sind, und wie das auf dem Wagen des Morpheus – außer, dass dieses nirgendwo hinführt. Ein Kunstwerk, nichts weiter. Genau in der Mitte der Wand befindet sich ein großer roter Knopf. »Du musst einen der Türflügel öffnen, um an den Knopf zu kommen.«
Irgendetwas in seinen Worten lässt das wie eine Prüfung klingen. »Egal welchen?«
»Deine Wahl, mein Sohn, nicht meine.«
Das hilft nicht gerade, meine Unsicherheit zu verringern. Nach einem schnellen, lautlosen Ene mene muh öffne ich die weiße Seite.
»Hmmm«, sagt Junior. »Also gut, mach weiter. Drück den Knopf.«
Sobald ich das tue, ertönt ein surrendes Geräusch, das mich zusammenzucken lässt. Die Decke öffnet sich. Über uns erscheint ein einzigartiger Nachthimmel mit funkelnden Sternen. Er erinnert mich an den Himmel in einem Planetarium, das ich einmal besuchte, von dem man weiß, dass er nicht echt sein kann. Es muss eine Projektion auf einen 360-Grad-Bildschirm gewesen sein, aber ich war mir damals absolut sicher, dass ich von meinem Sitz aus geradewegs ins All hätte abheben können. So echt war das.
»Ist das nicht ’n Ausblick? Trotz all der Dinge, die wir lernen und wissen, sind wir noch immer nicht hinter die großen Geheimnisse gekommen: Wo kommen wir her? Wo gehen wir als Nächstes hin und warum sind wir hier? Und wenn dann was wirklich Wundersames passiert, rennen wir los, verstecken uns in unseren Höhlen und leugnen es.«
Junior Webster führt die Trompete an die Lippen und bläst ein paar Takte des Cypress Grove Blues. Er unterbricht und hebt den Kopf in Richtung falscher Himmel, als ob er lauschen würde.
»Die Wissenschaftler sagen, dass die meisten Galaxien ein schwarzes Loch in ihrem Zentrum haben. Sie saugen die Materie auf, diese schwarzen Löcher, und schlingen ratzfatz alles hinunter, was ihnen in den Weg kommt, egal was. Das ist das, was wir wissen. Was wir wahrnehmen können. Aber die Wissenschaftler können nicht beobachten, was in einem schwarzen Loch passiert – jedenfalls nicht direkt, verstehst du –, weil die Anziehungskraft so groß ist, dass ihr nichts entkommen kann. Du nicht. Ich nicht. Nicht diese Trompete hier. Nicht mal das Licht. Nur eins kommt aus einem schwarzen Loch heraus, und das, mein Freund, sind Töne. Musik. Wenn die Dinge darin verschwinden« – er senkt die Stimme zu einem Flüstern –, »dann singt dieses schwarze Loch. Verstehst du mich? Es singt in einer Tonlage, die kein menschliches Ohr jemals hören kann, aber es singt.«
Als er die Trompete dieses Mal an die Lippen setzt, wird die Musik lebendig. Die Töne erschüttern mich gewaltig und die Melodie macht mich ganz schwindelig. Ich könnte schwören, dass sich die Himmelsprojektion langsam bewegt und wir auf sie zudriften. Und genau im Zentrum befindet sich ein winziger dunkler Punkt, der mit jedem Ton größer wird.
»Mr Webster«, sage ich, aber er hat sich völlig in seinem Spiel verloren. Ich fühle mich wie ein kleines Kind im Planetarium, möchte meine Augen schließen und im Sessel zurücksinken, bis alles vorbei ist. Doch Junior richtet seinen Blick auf den Punkt. Eine tiefe Dunkelheit nähert sich uns von allen Seiten. Es gibt kein Entkommen. Mir ist, als ob ich mich Richtung schwarzes Loch bewege, als ob ich geradewegs hineingezogen werde. Ich kriege Wahnsinnsschiss. Juniors Gesichtsausdruck hat sich seltsam verändert; schwer zu sagen, ob aus Ehrfurcht oder aus Schrecken.
»Sing«, sagt er ruhig. »Ich bin bereit. Mach schon. Gib mir den Ton.«
Das Loch ist so groß, dass der Himmel fast vollständig schwarz ist. Sterne zischen an uns vorüber und verschwinden ganz und gar im gigantischen Rachen dieses gefräßigen kosmischen Mauls. Und obwohl ich ja weiß, dass das Ganze nur eine Illusion ist, habe ich Angst davor, als Nächster dran zu sein.
Junior aber lacht die Finsternis nur an.
»Hörst du’s?«, fragt er. »B-Dur! Ich glaub, es ist B-Dur! Du hast mich ausgetrickst, Baby, aber ich glaub, ich krieg dich noch, später!«
Er setzt seine Trompete noch einmal an und bläst kräftig hinein. Auch wenn ich nichts höre, weiß ich, dass er irgendwelche Töne von sich gibt. Sofort verschwindet der Druck, den ich gespürt habe. Die Himmelsschwärze verblasst zu einem morgendlichen Blau. Der Himmel ist nichts weiter als ein Deckengewölbe.
Es klopft an der Tür. Der Bodyguard öffnet sie einen Spalt weit.
»Sie warten auf Sie, Mr Webster.«
»Danke, bin sofort da.«
»Sie erzählten, dass Sie Dr. X schon mal getroffen haben«, sage ich. »Wissen Sie, wo er sich jetzt aufhält? Wo kann ich ihn finden?«
Junior Webster spitzt die Lippen. »Vielleicht könnte ich dir helfen. Aber zuerst hab ich einen Auftritt. Spielst du irgendein Instrument, Cameron?«
Ich schüttle den Kopf.
»Musik öffnet deine Seele und macht dich bereit.«
»Bereit wofür?«
Er lächelt. »Haargenau.«
Ich folge Junior Webster in den überfüllten Club. Die Leute strecken die Arme aus, um Junior zu berühren. Darauf haben sie gewartet: auf eine Chance, den berühmten Junior Webster und seine magische Trompete zu hören.
Gonzo drängt sich durch die Menge und schließt sich mir an. »Ich hab auf dich gewartet, Alter, bestimmt zwanzig Minuten, direkt neben einer Schüssel mit toxischem Studentenfutter, und hab versucht, nichts einzuatmen. Wie war’s mit Junior Webster?«
»Er wird uns sagen, wo wir Dr. X finden können. Aber erst muss er ne Runde spielen.«
Junior führt uns zu einer Bühne neben einer riesigen Tür, die sich zu einem Balkon hin öffnet. Unter dem Balkon drängt sich ein Pulk von Karnevalsjecken in verrückten Kostümen. Sie tanzen und torkeln auf der Straße und warten auf Juniors Auftritt.
Miss Demeanor ergreift das Mikro. »Ladys und Gentlemen, der Golden Trumpet Club ist stolz darauf, Ihnen den einmaligen Junior Webster präsentieren zu können.«
Die Menge jauchzt und brüllt und singt seinen Namen. Junior setzt die Trompete an die Lippen, aber bevor er einen Ton blasen kann, schwankt er und legt die Hand auf die Brust. Die Leute halten den Atem an. Junior stolpert und packt meine Hand. »Kannst’n spüren, Junge?«
»Was spüren?«
Junior reißt die Augen weit auf. »Er ist hier.«
Mein Blick schweift über die Wolken aus Zigarettenqualm. Alles, was ich sehen kann, ist eine Menschenmenge, die auf Juniors Auftritt wartet.
Allerdings reizt ein stechender Rauch meine Kehle. Durch die Menge bahnt sich eine große Gestalt ihren Weg, in schwarzem, nietenbesetztem Raumanzug und mit funkelndem Helm. Das Visier verdeckt ihr Gesicht vollständig. Mir wird ganz anders. Als ich auf mein mich schützendes E-Ticket-Armband schaue, beginnt das erste der fünf symbolisierten Königreiche – Adventureland – Farbe zu verlieren.
»Der Große Abrechner«, keucht Junior. Er zupft an meinem Ärmel. »Bleib hinter mir, mein Sohn.«
»Bist du deshalb gekommen?« Junior winkt mit der Trompete.
Der Große Abrechner bewegt seinen Kopf langsam von rechts nach links.
»Weshalb bist du dann hier?«
Der Kerl zieht ein Stück Papier aus seiner Rüstung hervor. Es könnte eine dieser Suchanzeigen sein, die an den bröckelnden Mauern der Stadt kleben. Ich kann nur einen flüchtigen Blick drauf werfen, aber ich könnte schwören, dass der Typ da drauf so aussieht wie der, den ich im Internet gesehen habe. Junior schüttelt heftig den Kopf.
»Das kann ich nicht zulassen.«
Jetzt erst scheint mich der Abrechner bemerkt zu haben. Er deutet mit seinem behandschuhten Finger in meine Richtung.
»Nein, Sir«, knurrt Junior, als ob der Abrechner gesprochen hätte. »Er ist nicht bereit für dich, noch nicht.«
Ein leises Raunen geht durch den Club. Unten auf der Straße rufen die Jecken nach Junior. Sie wollten die Show sehen und sind jetzt wegen der Verzögerung sauer. Plötzlich flackern die Kerzen auf den Tischen. Der Große Abrechner ballt die Faust, und mir ist, als würde mir die Kehle zugeschnürt.
»Okay, okay!«, ruft Junior, und ich kann wieder durchatmen. Die Kerzen erlöschen. »Ich mach dir ein Angebot. Ich weiß, dass du schon seit einiger Zeit hinter meiner Trompete her bist. Spielen wir also drum. Wenn ich gewinne, lässt du uns in Ruhe und verschwindest für immer. Wenn du gewinnst, kriegst du die Trompete.«
Der Abrechner wirft den Kopf zurück. Ich höre nicht, dass er etwas sagt, aber Junior muss was gehört haben, weil er sichtlich enttäuscht wirkt und sich seine Mundwinkel verziehen. »Also gut. Wenn’s nun mal so sein soll. Einverstanden.«
»Einverstanden womit?«, frage ich Junior.
»Vergiss es«, flüstert Junior. »Wenn mir heut Nacht was zustößt, dann pass auf meine Trompete auf.«
»Aber Sie haben gerade gesagt –«
Juniors Stimme klingt gepresst. »Ich weiß, was ich gesagt habe, mein Sohn. Du nimmst diese Trompete, und eines Tages, wenn du musst, wenn dir nichts anderes übrig bleibt, spielst du sie. Verstehst du mich?«
»Okay«, sage ich und verstehe gar nichts.
Als Nächstes gibt er mir seine Sonnenbrille. Seine Augen sind trüb. »Also, du nimmst diese Brille, vergräbst sie unter dem Engel und wartest auf eine Botschaft. Du brauchst die Nachricht, um weiterreisen zu können.«
»Ich verstehe nicht. Geht’s hier um Dr. X?«, frage ich.
»Es geht um viel mehr als das, mein Sohn.« Er stößt Luft aus und lockert die Lippen fürs Spielen.
»Aber was für ne Botschaft? Wonach such ich denn?«
»Musst du schon selbst herausfinden. Ich werd jetzt diesen Narren austricksen. Hilf mir dabei.« Er zeigt auf die glänzende Bassgitarre neben uns. Ich könnte schwören, dass sie vor einer Minute noch nicht dastand.
»Ich – ich kann nicht spielen.«
»So sind die öffentlichen Schulen heutzutage«, seufzt Junior Webster, »keine Musik mehr, nur Prüfungen und noch mal Prüfungen. Also gut, das kriegste schon hin. Rutsch einfach von hier nach hier nach hier und wiederhol das«, sagt er und drückt meine Finger in drei schnellen Wechseln auf die Saiten.
»Vertrau mir. Du!« Er zeigt auf Gonzo. »Du bist an den Drums. Ich brauch heut Abend jede Hilfe, die ich kriegen kann.« Gonzo klettert auf den schäbigen Hocker hinter dem Schlagzeug. Wie ein Profi greift er nach den Sticks.
»Kannst du Schlagzeug spielen?«, flüstere ich ihm zu.
»Nur am Rock-’n’-Roll-Simulator«, sagt er, die Augen weit aufgerissen. »Aber ich hab’s bis Level fünf geschafft.«
»Heut Nacht hab ich zwei ganz besondere Freunde, die mir helfen«, ruft Junior in die Menge.
»Der letzte Wunsch von dem einen!«, ruft Miss D und alle applaudieren.
»Junior«, sage ich, »ich mein es ernst – ich kann nicht spielen.«
»Aber sicher kannst du, mein Sohn. Leg nur die Finger auf die Saiten, wie ich dir’s gezeigt habe, lass es laufen und bleib dabei.«
Er schiebt die Sonnenbrille in die Tasche meiner Windjacke, setzt die Trompete an die Lippen, bläht die Wangen und lässt die Luft mit furiosem Getöse frei. Niemals im Leben habe ich jemanden so spielen hören – ein absolut wahnsinniger, wundervoller Sound. Hart, weich, lieblich, bösartig, verzweifelt und voller Freude – ein ganzes Leben in einer einzigen leidenschaftlichen Melodie. Und ich begleite ihn am Bass. Meine Finger gleiten unbeholfen die Saiten rauf und runter. Das klingt ein bisschen wie eine Katze, der das Fell über die Ohren gezogen wird. Aber irgendwie füllt es die Pausen, und außerdem, glaube ich, bedauern uns die Leute viel zu sehr, um sich zu beschweren. Gonzo hält den Rhythmus mit vollem Körpereinsatz und murmelt dabei von Zeit zu Zeit »Level fünf, Level fünf …«.
Ein anderer Ton durchschneidet die Luft. Der Große Abrechner spielt seine eigene Jazztrompete und misst sich mit Junior Riff für Riff. Töne fliegen in die Höhe und stürzen herab und schwingen sich wieder auf. Der Schweiß rinnt Junior die Wangen herunter und durchnässt seinen Kragen. Aber er swingt weiter. Ich fühle mich, als sei ich mitten in dieser Musik. Langsam verstehe ich die wundervolle schräge Welt des Jazz. Es ist wie mit diesem Sternenhimmel, den mir Junior in seiner Garderobe gezeigt hat – ein Raum, der riesig ist. Er scheint losgelöst von jeglichen Regeln zu existieren. Aber je mehr du in ihm schwebst, desto mehr glaubst du, dass er am Ende doch seiner eigenen seltsamen, geheimnisvollen Ordnung folgt.
Junior geht ganz in seiner Musik auf. Nach einer irren Passage strauchelt der Abrechner. Im Raum wird es still, und ich glaube schon, wir haben gewonnen. Aber der Abrechner kommt mit voller Kraft zurück, und dieses Mal sieht Junior aus, als ob er in die Knie gehen könnte. Er taumelt voll in mich rein.
»Du weißt noch, was du zu tun hast«, sagt er. Sein Gang ist schwerfällig und schwankend, aber er schafft es, auf seinen Platz zurückzukehren. Die Musik wechselt jetzt in eine andere Dimension. Sie klingt roh und ein bisschen gruselig. Der Abrechner bläst seine Töne genauso heftig wie Junior. Die beiden liefern sich mit ihren Riffs einen Schlagabtausch wie Boxer im Ring. Und dann passiert etwas Schreckliches.
Der Abrechner holt tief Luft und bläst – aber sein Instrument gibt keinen Ton von sich. Jedenfalls kann ich nichts hören. Junior jedoch greift sich an die Brust, fällt auf die Knie, umklammert aber noch seine Trompete. Gonzo traktiert weiter das Schlagzeug und macht eine Menge Krach. Ich kann nicht weiterspielen. Meine Finger haben den Sound verloren.
»Gonzo!«, brülle ich und er lässt die Becken verstummen.
Der Abrechner streckt die Hand aus, wackelt ungeduldig mit den Fingern, er wartet auf Juniors goldenes Instrument. Der aber wirft die Trompete blitzschnell in meine Richtung und ich fange sie mit einer Hand.
Tief aus Juniors Brust ertönt ein schwaches Gelächter und mischt sich mit einem rasselnden Husten. Der Große Abrechner schreitet quer über die Bühne und baut sich vor Junior auf. Langsam hebt er das Visier. Ich kann nicht erkennen, wer sich dahinter verbirgt, Junior aber schon. Zuerst blickt er ihn überrascht an, dann amüsiert.
»Verdamm mich«, sagt Junior und stößt ein schwaches Lachen aus. »Alle neune!«
Dann bricht der alte Jazzer mir nichts, dir nichts tot zusammen.
Die Menge steht fassungslos da und schweigt. Nicht lange jedoch, denn der Abrechner hat nicht vor, irgendjemanden einfach abhauen zu lassen. Er legt den Kopf in den Nacken, hebt die Arme und lässt einen durchdringenden Heuler los. Der Ton geht mir durch Mark und Bein, als ob mich eine hundertfache Schwerkraft zu Boden zieht. Der Abrechner lässt seine Arme fallen, die Wände gehen in Flammen auf und das Glas implodiert. Die Menschen schreien und stolpern auf der Flucht in Panik übereinander.
Der Große Abrechner deutet mit dem Finger wieder auf mich. Als würde ich brennen, bäumt sich mein Körper unter Qualen auf. Sie zwingen mich in die Knie, und ich schließe meine Augen, um den schneidenden Schmerz abzuwehren.
»Nur die Ruhe, Baby. Alles in Ordnung.« Das ist Glorys beruhigende Stimme. Ich öffne die Augen und sie spritzt mir was in meinen Infusionsschlauch.
Glory? Ich höre meine Stimme im Kopf, aber weiß nicht, ob ich laut gerufen habe.
»Versuch zu schlafen.«
»Cameron!« Gonzo kauert hinter dem Schlagzeug und kreuzt die Sticks wie in einem Vampirfilm.
»Gonzo! Wir müssen … müssen hier raus!«, röchle ich.
Gonzo ist vor Angst erstarrt. Menschen schieben und drängen sich, um dem Feuer zu entrinnen. Der Abrechner sieht uns und kommt auf uns zu.
»Gonzo, wir müssen jetzt abhauen!«, brülle ich.
Miss Demeanor stürmt auf die Bühne und zieht Gonzo mit Gewalt vom Schlagzeug weg. »Hier lang!«
Sie rennen über die Hinterbühne in Juniors Garderobe. »Aber hier ist doch keine Tür!«, schreie ich.
»Doch, da ist eine.« Sie schaltet den Projektor des Planetariums ein. Der Himmel füllt sich mit winzigen Monden und Planeten, die auf das große Unbekannte des schwarzen Loches zurasen. »Mir nach!«
Sie geht, glitzernd hell wie ein Stern, geradewegs darauf zu und verschwindet. Nicht eine einzige Paillette bleibt von ihr zurück.
»Heilige mierda! Wo ist sie denn hin?«, jammert Gonzo.
»Ich weiß nicht!«
»Hier entlang«, ruft sie, und nun sehe ich Miss D auf einer wackligen Leiter stehen, die zur Decke hochgeht.
Das Feuer hat uns erreicht. Flammen züngeln am Tor und bringen es zum Einsturz. Ich stopfe Junior Websters Sonnenbrille und seine Jazztrompete in meinen Rucksack und renne auf das Loch zu.
Es fühlt sich an, als ob ich hineingezogen werde, aber es ist Miss D, die zieht. Sie packt meine Hand und schleppt mich zu einer im Schatten verborgenen Tür. Ein kräftiger Schubs mit der Hüfte und schon öffnet sie sich. Wir landen im schummrigen Licht einer Gasse.
Der Platz wimmelt von Polizisten und Feuerwehrleuten. Aus zahlreichen Schläuchen schießt Wasser. Miss D schiebt uns, weg vom Feuer, die Straße hinunter, bis wir die Menschenmenge hinter uns gelassen haben. Nun stehen wir unter einer Straßenlaterne nahe dem Schaufenster eines Hellsehers.
»Ihr Jungs macht euch jetzt besser aus dem Staub«, sagt Miss D. Bevor wir losrennen, nimmt sie meine Hand. »Was immer dir Junior gesagt hat, Liebling, beherzige es. Solang ich ihn kenne, hat er sich nie geirrt. Und, Cameron«, fügt sie hinzu.
»Ja?«
Sie dreht das Streichholzheftchen in ihrer Hand. »Vielen Dank fürs Feuer, Süßer.«
Wir rennen einige Blocks weit, bis wir das Ufer des Mississippi erreichen. Ich beuge mich vornüber, um zu verschnaufen. Gonzo geht auf und ab und schnappt nach Luft.
»Was. Zum Teufel. War das?« Er wartet nicht auf meine Antwort. »Dieser Kerl … was war …?«
»Ich weiß es nicht.« Ich habe nicht die Absicht, diese Info mit Gonzo zu teilen. Sicher würde er ausflippen und sich verpissen.
»Er hat Junior Webster umgebracht!«
»Vielleicht war Junior in was verstrickt – Spielschulden oder, verdammt, ich weiß es nicht«, lüge ich. »Wir müssen uns drauf konzentrieren, Dr. X zu finden.«
Gonzo schüttelt den Kopf. »Das ist so was von abgefuckt, Mann.«
»Je eher wir Dr. X finden, umso schneller werd ich geheilt und du wirst … was auch immer – und fertig, aus. Einverstanden?«
Gonzo späht übers Wasser, als ob er die Sache überdenkt. Und die Dämmerung schickt bereits die Frühschicht, um den Himmel klarzumachen. Möwen tauchen neben Schleppdampfern nach ihrem Frühstück. Die im Morgenlicht glitzernden Kähne sehen aus wie dahintreibende Knochen.
»Ich hab Hunger«, sagt Gonzo, und ich denke, wir sind uns letzten Endes einig.
Das French Quarter ist wie leer gefegt. Die Abfalleimer quellen von Plastikbechern über und die Straßen sind eine einzige Müllhalde. Pferdegespanne trappeln über die Pflastersteine auf ihrem Weg nach Hause. Vor dem Tor eines Lagerhauses steht ein Lastwagen herum. Gonzo und ich finden ein 24-Stunden-Café, wo es Donuts gibt und Kaffee, der schmeckt, als ob er aus Kerosin gemacht und mit einem alten Stock umgerührt wurde. Aber er wärmt uns auf und verscheucht die letzten Überbleibsel der Nacht – also trinken wir ihn.
»Was war das, was er dir über seine Sonnenbrille erzählt hat?«, fragt Gonzo.
»Er hat mir gesagt, dass ich sie unter dem Engel begraben soll.« Ich hole sie aus dem Rucksack und lege sie auf den Tisch. Eine ganz gewöhnliche Sonnenbrille.
»Was soll das bedeuten?«
»Weiß nicht. Er hat gesagt, wenn ich’s getan hab, krieg ich ne Botschaft.«
Gonzo beißt in einen zweiten Donut. Der Puderzucker bedeckt seine Oberlippe wie ein Schnurrbart aus Schnee. »Das ist gaga, Alter.«
Er hat recht. Ich wünschte, Dulcie würde sich zeigen, uns einen Wink geben oder zwei, oder sie könnte einfach weich werden und uns sagen, wo wir Dr. X finden. Das trübe Morgenlicht drückt jetzt gegen die Fenster des Cafés, und mein Blick fällt auf ein hoffnungsloses Grüppchen, das mit uns zu dieser Unzeit hier sitzt: ein paar Krankenhausbedienstete, die von der Schicht kommen und versuchen, sich die Stichwunden und Schussverletzungen der Nacht wegzulachen. Ein paar obdachlose Spinner führen Selbstgespräche und genehmigen sich von ihren erbettelten Groschen einen Kaffee, obwohl Kaffee eigentlich das Letzte ist, was sie brauchen. Eine Gruppe immer noch betrunkener Studenten in zerknitterten Kostümen versucht mit Pfannkuchen und Toast nüchtern zu werden. Was für ein langer Weg von den stumpfsinnigen, streng choreografierten Fahrten der Rasenmähertraktoren in meinem sicheren kleinen Vorort bis hierher! Irgendetwas an dem Gedanken beschert mir zwiespältige Gefühle. Ich bin beides zugleich, traurig und beschwingt, als wüsste ich von einem Geheimnis, von dem die braven Bürger zu Hause in ihren Betten nichts ahnen. Selbst wenn das Geheimnis im Grunde nichts als das Wissen beinhaltet, wie allein wir hier draußen im illusionslosen Sechs-Uhr-Morgennebel sein können.
Gonzo fängt an, sich über Captain Carnage auszulassen und über die Zeit, in der er eine Schar blutrünstiger Teddys besiegt hat. Seine Stimme ist nichts als weißes Rauschen. Alles tut mir weh und mein Arm zittert. Ich will nur schlafen. Meine Lider fallen zu und sperren die Welt aus.
Ich träume von Disney World, aber das ist wie ein zusammengeschnipselter, grobkörniger Amateurfilm mit heruntergedrehtem Ton. Badezimmer im Hotel, Mom lächelt, während sie meine nassen Haare mit einem weißen Handtuch frottiert. Dad und ich, wie wir aus der Warteschlange vor der Peter-Pan-Fahrt winken. Mom, wie sie Jenna hält, die in die Sonne blinzelt. Ein zufälliger Schnappschuss von Tomorrowland, das aussieht wie ein fremder Planet aus farbenfrohen Bällen und buntem Zeugs. Die Finsternis bei der Small World-Fahrt. Roboterkids, die herumgehen. Ein Platscher. Ich, im Wasser, wie ich mit weit geöffnetem Mund untergehe.
Schwer atmend wache ich auf. Gonzo hält inzwischen die Klappe. Ein paar Zentimeter vor mir ist ein Gesicht.
»Spendierste mir ne Tasse Kaffee?« Einer der Spinner schwebt über mir. Er ist so verfilzt wie eine verwilderte Katze und stinkt, als hätte er sich in seiner eigenen Pisse gewälzt. Er hat vielleicht noch vier Zähne, und die sehen nicht so aus, als ob sie für diese Welt reichen.
»Spendierste mir ne Tasse Kaffee, bitte? Bin ’n obdachloser Veteran. Mir und meiner Frau ist das Haus weggebrannt und ich muss fünf Kinder ernähren und die Kleinste braucht ne Augenoperation, und ich tät’s nicht, Mann, ich wär nicht hier draußen, wenn ich’s nicht für sie tät, und ein Kerl muss leben, weißte, muss sein’ Weg gehn und muss sein’ Sinn finden im Leben und inner Liebe und drum brauchter Kaffee, Kaffee, Kaffee und noch ma Kaffee.«
Gonzo schrumpft in seinem Stuhl zusammen, bis ich nur noch seine Augen sehe und diese ausladende Afrofrisur, aber seine roten Wangen sagen mir, dass er den Atem anhält. Der Gestank ist ziemlich ätzend. Wahrscheinlich aber fürchtet Gonzo noch mehr, er könne sich mit einer seltenen, unheilbaren Krankheit anstecken, weil er sich mit diesem Typen dieselbe Atemluft teilen muss.
»Bitte schön, Mann.« Ich lege einen Dollar auf den Tisch und er schnappt ihn sich.
»Vielen Dank. Vielen Dank. Mein Hausboot ist mir abgebrannt und mein Kind muss an der Lunge operiert werden, also brauch ich’n bisschen Kaffee, und dann zieh ich los zu den Friedhöfen, muss mich um die Sachen kümmern. Zu den Friedhöfen nimmste einfach nur die Canal-Street-Kabelbahn, die ganze Strecke bis zur Endstation, zur Endstation, wo die Engel wohnen, und das ist dort, wo man hingeht, um Sachen zu begraben.«
Jetzt prickelt meine Haut und das hat nichts mit meiner Krankheit zu tun. »Was haben Sie gesagt?«, frage ich den obdachlosen Typen, aber der Koch hat ihn schon weggescheucht.
»Geh, Spanky, lass jetzt diese Leute in Ruhe«, sagt der Koch. Er zieht die Jalousien hoch und schon flutet das Tageslicht ins Café.