In dem – nun, da ich offiziell im Arsch bin – eine Pep Rallye zu meinen Gunsten organisiert wird und Staci Johnson sich für mich Zeit nimmt
Was mit uns geschieht, wenn wir sterben – eine nicht-repräsentative Meinungsumfrage.
Theorie #1: Die Christen haben recht. Es gibt einen großen Kerl in weißem Gewand, mit einem langen, wallenden Bart. Und es gibt einen Teufel mit einer Mistgabel. Abhängig davon, ob du böse oder artig gewesen bist (oh, sei um Himmels willen artig!), wirst du letztendlich mit den Engeln Harfe spielen oder du wirst im ewigen Höllenfeuer schmoren.
Theorie #2: Die Juden haben recht. Wenn du stirbst, kommt nichts mehr. Also solltest du besser in diesem Leben reichlich und gut gegessen haben.
Theorie #3: Die Muslime haben recht und ich befinde mich für einige Zeit in einem schwarzäugigen Zustand der Jungfräulichkeit. Andererseits habe ich bereits schwarze Augen und bin Jungfrau, also dürfte ich ein paar ernst zu nehmende Probleme haben, wenn ich einmal abtrete.
Theorie #4: Die Buddhisten und Hinduisten haben recht. Unser Leben ist eines von vielen. Du musst dich nur weiter mit den Lasten deines Karmas herumschlagen, bis du es gebacken kriegst. Also sei nett zu dieser Kakerlake. Eines Tages könntest das du sein.
Theorie #5: Die UFO-Fanatiker haben recht, und wir sind alle Teil des großen Experiments eines Volkes von Superaliens, die gerne im außerirdischen Gegenstück der Barcalounger Wohlfühlsessel sitzen, an einem Bierchen nippen und diese bekloppten Menschen dabei beobachten, wie sie sich den verrücktesten Arten von Halligalli hingeben. Und wenn wir abtreten, schießen sie mit ihrem Mutterschiff zu uns herab und bringen uns zurück in den Urschlamm auf dem Planeten Z.
Theorie #6: Kein Schwein weiß Bescheid.
Das ist nur eine von vielen Listen, die ich nach der Diagnose übers Wochenende verfasst und in diesen Tummelplatz des Teufels, das Internet, gestellt habe. Wie sich gezeigt hat, bin ich auf einer Vergnügungsfahrt. Ich hab eine Menge toller Neuigkeiten erfahren.
Zum Beispiel heißt der Fachausdruck für meine Krankheit Creutzfeldt-Jakob Variante BSE. BSE steht für Bovine Spongiforme Enzephalopathie. Sollte ich unserem Publikum im Studio mehr darüber mitteilen, Jim? Sicher, erzählen wir ihnen, was ich gewonnen habe. Also, Leute, es ist ein tödliches Virus, der Löcher ins Hirn frisst, bis es zum Schwamm wird. Die fürs Schuhebinden zuständige Gehirnzelle? Sorry, dieser Artikel ist auf Dauer ausverkauft. Wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass Ihre Motorik und Ihre neurologischen Funktionen nicht länger unter Ihrem Kommando stehen. Hier, bitte, Ihr preiswertes Windelpaket und achten Sie auf Ihre Halluzinationen. Schönen Tag noch!
Weißt du, was hilft? Leugnen. Als Mittel zur Lebensbewältigung wird Leugnen schwer unterschätzt. Hey, vielleicht ist alles nur ein Missverständnis und ich habe bloß eine gemeine schlimme Grippe. Ärzte irren sich immer wieder. Okay, war nur ein Scherz.
Lange Zeit habe ich gedacht, es sei cool, jung zu sterben. Offen gesagt liefen die Dinge nicht so gut in der Abteilung Leben. Der Tod schien unendlich viel glanzvoller zu sein und, weißt du, auch irgendwie schwerer zu versauen. Zugegeben, in den meisten meiner Todesfantasien sah ich auch jedes Mädchen, das mich jemals abgewiesen hat, wie es sich auf den Sarg warf, über mein frühes Ableben schluchzte, gestand, dass es mich immer gewollt habe, und wünschte, es hätte die Chance gehabt, zu meinen Lebzeiten über meine Jungfräulichkeit zu verfügen.
Das Problem ist, dass ich demnächst nichts mehr davon mitkriegen werde, weil ich mich in einen Schwammkopf verwandeln werde. Über so was grüble ich, mit den wenigen Gehirnzellen, die mir noch geblieben sind. Natürlich sind Mom und Dad überzeugt davon, dass die Diagnose falsch ist. Ich würde ihnen ja gern glauben. Genauso wie ich daran glauben möchte, dass Staci Johnson insgeheim scharf auf mich ist und sich nur so feindselig verhält, um ihre wahren Gelüste zu verschleiern.
Wie ich schon sagte: leugnen. Ab jetzt rund um die Uhr, sieben Tage die Woche.
Am Wochenende kennt die ganze Stadt die Neuigkeit von meinem möglicherweise bevorstehenden Ableben und das Haus gleicht einem Früchtekorbladen. Als ob ich nun, da ich unter die Lupe genommen worden bin, plötzlich etwas bedeute. Und aus irgendeinem Grund verlangt das nach hübschen Geschenkkörben. Die Calhoun Highschool überschlägt sich für mich. Man munkelt, dass die Schulverwaltung eine Klage befürchtet, und deshalb haben Leute in science-fiction-mäßigen Anzügen auf der Suche nach dem BSE-Herd die Cafeteria auseinandergenommen. Wie ich höre, stehen auf der neuen Speisekarte eine Menge Tofugerichte. Aber um mich für all die verdammten Unannehmlichkeiten, die eine unheilbare Krankheit mit sich bringt, zu entschädigen, hat die Schule zu meinen Ehren eine Pep Rallye organisiert. Ich bin verkabelt, und Kameras sind auf mich gerichtet, sodass mein Gesicht auf die Anzeigentafel in die Turnhalle übertragen wird und ich die Rallye live auf meinem TV-Bildschirm verfolgen kann.
»Hi. Test. Test. Läuft die Kamera?« Staci Johnsons schamloses Figürchen steht in vorderster Front unseres 42-Zoll-Bildschirms. Der Herr hats genommen, der Herr hats gegeben. Als sie bemerkt, dass sie auf Sendung ist, gibt sie ihren Möchtegernstars das Startzeichen, und die fächern sich hinter ihr in Cheerleadermanier auf, kichernd und lächelnd. Staci jedoch lächelt am breitesten. »Hi, Cameron!«
»Hi, Cameron!«, sagen die Girls, schmeißen die Beine in die Höhe, bis eine von ihnen Stacis Pferdeschwanz mit dem Fuß streift.
»Gottverdammt, Tanya!«, knurrt Staci und klatscht auf das Bein des trampeligen Mädchens. Dann wendet sie sich wieder mir zu und alles an ihr lächelt. »Ohmeingott, Cameron, jeder von uns hier vermisst dich so sehr und wir haben eine ganze Benefizveranstaltung für dich organisiert.«
»Ich bastle gerade ein Kuh aus Krepppapier. Für das Poster«, sagt eine lächelnde Wichtigtuerin. Sie trägt ein CAM’S MY MAN-T-Shirt.
»Eine Kuh?«, würge ich hervor.
»Ohmeingott, Debbie!«, zischt Staci zwischen zusammengebissenen Zähnen. »Hallo, sollte das nicht eine Überraschung werden?«
Debbies Lächeln stürzt ab. »Oh, sorry.«
Staci beugt sich nach vorn. Ihr Gesicht wirkt riesig. »Du bist so tapfer, Cameron. Und das bleibst du auch, okay? Wir sehen dich auf der Pep Rallye.« Staci geht ab und wirft mir über ihre Schulter einen dieser Blicke zu, für die sie berühmt ist – einen, der die Jungs glauben lässt, sie hätten eine Chance.
Als Nächstes tritt Jenna vor die Kamera. Eigentlich war sie in letzter Zeit sehr nett zu mir, was fast so bizarr ist, wie an Creutzfeldt-Jakob erkrankt zu sein. »Hey, Cameron. Ich hoffe, du kannst die Liebe spüren, die dich umgibt. Alle feuern dich an, wirklich alle.« Sie blickt hinüber zu Chet, der sich im Hintergrund mit dem Direktor herumtreibt. »Alle in Chets Jugendgruppe beten für dich. Jeden Morgen lesen sie zusammen Texte aus der Bibel.«
»Toll. Bewegen sie beim Lesen ihre Lippen? Oder müssen sie die Finger zu Hilfe nehmen?«
Sie rollt mit den Augen. »Sei nett«, flüstert sie ins Mikrofon.
Jenna stellt mich via Kamera dem Direktor vor, der sich nicht daran erinnert, mich suspendiert zu haben. Spielverderber. Ich hab gehofft, hier weiter den Schuldigen spielen zu können. Endlich beginnt die Show. Die Turnhallentüren öffnen sich, alle drängen nach drinnen, lachen, reden und futtern ungesunde Snacks – die offizielle Schulspeise. Komisch, gewöhnlich hasste ich die Leute an meiner Schule für jede mir angetane kleine und große Schikane; nun hasse ich sie nur dafür, dass sie länger leben werden als ich. Überraschend viele beteiligen sich an der Veranstaltung. Offensichtlich ist es spannender, einen rinderwahnsinnigen Knaben zu sehen als ein Volleyballspiel der Mädchen oder ein Lacrossespiel der Jungs.
Chet Kings teigiges Gesicht erscheint am linken Bildrand. Er schaut gequält. »Hey, Cameron, ich bin’s, Chet. Tut mir echt leid, Bruder, das mit dem Schlag in Rectors Unterricht. Ich wusste nicht, dass du krank bist.«
Nein. Natürlich nicht. Christen schlagen nur gesunde Menschen.
Ich sollte ihm die Absolution erteilen, aber ich kann’s nicht ändern: Ich hasse es, dass Chet King überlebt und ich nicht. Ich huste effektvoll lang und heftig und beobachte, wie er zusammenzuckt, weil er sich vor Gottes Zorn fürchtet.
Direktor Hendricks tritt vors Mikrofon. »Bitte setzt euch, Leute.« Er wartet, bis der Lärm zu einem dumpfen Rauschen verklungen ist, und redet dann weiter. »Wie ihr wisst, sind wir heute hier, um einen sehr tapferen Schüler zu ehren und ihm unsere Unterstützung zu bekunden. Cameron Smith.«
Ein Höllenapplaus erfüllt die Halle. Es ist sinnlos. Ich werde sterben.
Direktor Hendricks ruft über das Getöse hinweg: »Cameron, wir wissen, du wirst dieses Untier besiegen. Und jeder Einzelne von uns steht an deiner Seite. Halt dich einfach an das Positive!«
»Amen«, sagt Chet King, und ich würde gern wissen, ob er sich angepisst fühlt, weil ich ihn auf der Gott-wird-dich-prüfen-weil-er-dich-liebt-Skala übertroffen habe. Chet hat kein Pep-Rallye-Gebrüll erhalten, als sein Rückenwirbel brach.
»Einen Extraapplaus für Cameron!«, sagt Direktor Hendricks und klatscht in die Hände.
Acht Cheerleaderinnen verwandeln den Hallenboden in einen Ort athletischer Purzelbäume und geballter Fäuste. Sie klatschen und kreischen und heizen der Menge ein, damit die den Arsch hochkriegt. Widerwillig stehen die Kids auf. Jetzt, wo sie sehen, dass ich keine drei Köpfe habe und mein Körper nicht von riesigen Furunkeln übersät ist, sehnen sie wahrscheinlich das Ende herbei, damit sie abhauen können, nach Hause oder einen Joint rauchen oder sich in Chatrooms zurückziehen oder spielen oder was weiß ich. Die Jubeltanten animieren die Menge zu einem anschwellenden Namensgesang. »Cam-a-run, Cam-a-run, Cam-a-run!« Die Töne tanzen um die Dachsparren, prallen ab und schwirren mit heftigem Dröhnen, von dem mir die Ohren wehtun, über die Tribüne davon. Irgendwelche Blödmänner muhen, und der Konrektor nimmt das Mikrofon in die Hand, um ihnen »Disziplinarmaßnahmen« anzudrohen und ihnen mitzuteilen, dass ihr Verhalten »nicht nett« sei.
Der 20. Februar wird an der Calhoun Highschool offiziell zum Cameron-Smith-Tag erklärt. Lehrer sprechen nettes Blabla über mich ins Mikrofon. Sie können keine netten konkreten Dinge sagen, weil sie mich dazu kennen und sich für mich interessieren müssten. Mom und Dad sitzen auf der Tribüne, ganz nahe am Basketballkorb. Beide sehen grau und mitgenommen aus, klatschen, wenn es sein muss, lächeln jedoch nie. Dann und wann zieht Mom ihren Kopf ein, und ich sehe, wie ihre Hand übers Gesicht wischt. Der Pfleger tätschelt meine Schulter, und ich möchte ihm sagen, er soll aufhören. Das ist mir zu viel Anteilnahme. Ich mache ein paar abgehackte Atemzüge und halte die Tränen zurück. Der letzte Augenblick meines Highschoollebens soll nicht darin bestehen, mein Bild heulend auf einer dämlichen Anzeigentafel wiederzufinden.
Stattdessen denke ich Leck mich am Arsch, scheiß Leben.
Der Schwall der Töne aus der Schule saust durch meinen Kopf wie in einem Fliehkraftsimulator. Ich will nur noch, dass es vorbei ist. Und dann, oben auf der Tribüne, sehe ich sie – ein Mädchen mit kurzem pinkfarbenem Haar, zerrissenen Netzstrümpfen, schwarzen Schnürstiefeln und einem matten Brustpanzer – wie eine Heroine aus einer Wagneroper. Auf ihrem Rücken wachsen zwei weiße Knospen aus beiden Schulterblättern und erblühen wie riesige Gänseblümchen, die sich nach der Sonne strecken. Sie dehnen sich aus, als seien sie für die Ewigkeit geschaffen. Flügel. Das Mädchen blickt mich direkt an und lächelt. Das Lächeln ist das Markanteste in ihrem Gesicht, so als ob es nicht ganz dahingehört. Und – ich könnte schwören! – die Gestalt leuchtet. Jede Sekunde wird sie heller. Das Licht überflutet alle anderen Bilder und Töne in der Halle. Die Flügel erreichen die größte Spannweite – und jetzt kann ich die Botschaft lesen, die auf ihnen geschrieben steht: Hallo, Cameron!
Und mir nichts, dir nichts wird in meinem Kopf alles dunkel.