KAPITEL DREIUNDVIERZIG

In welchem ich elf Dimensionen entdecke, und das in einer einzigen Person

 

Ich fühle mich durch und durch federleicht, als ob ich beschwipst wäre. Ich habe drei Becher Bier getrunken – nicht genug, um ausfällig zu werden oder kotzen zu müssen, aber es reicht für ein beschwingtes Gefühl. Staci hat nur zwei Becher getrunken. Sie kichert ununterbrochen. Wir tanzen ein paar Songs lang, und dann schlägt Staci vor, in mein Zimmer zu gehen. Sie will »es sehen«.

»Also, so sieht’s aus«, sage ich und lasse sie rein. Balder liegt nicht im Bett, vermutlich ist er ausgegangen. Die Nachttischlampe brennt noch und der Fernseher läuft. Ich schalte ihn aus.

»Tolles Zimmer«, sagt Staci und lässt sich aufs Bett plumpsen.

»Danke«, sage ich, als hätte ich irgendwas mit diesem Drecksloch zu tun.

»Du weißt, dass ich dich immer gemocht habe.« Sie beißt sich auf die Lippen. Ihr Shirt ist von der Schulter gerutscht. Sie trägt einen schwarzen BH. »Aber es sah so aus, als ob du nur mit diesen exzentrischen Mädels unterwegs warst. Erinnerst du dich, wie wir in der Siebten Partnerarbeit gemacht haben?«

»Ja.«

Sie zeichnet mit ihrem Finger einen Kreis auf mein Bein. »Ich hab dir mein Schulfoto geschenkt, mit Alles Liebe, Staci drauf. Du warst so nett. Hey, du trinkst ja gar nicht.« Sie hält mir ihren gefüllten Becher an die Lippen. »Trink, trink, trink.«

Das Bier ist warm und ein klein wenig schal. Ein bisschen was tropft mir am Kinn runter auf mein Shirt.

»Uups«, kichert sie.

Ich lasse den Becher auf dem Nachttisch stehen. Staci lehnt sich zurück auf ihre Ellbogen und spielt die Schüchterne. »Also … hast du jemals an mich gedacht?«

»Ja, klar.«

»Hör auf!« Sie knufft mich spielerisch gegens Bein. »Wirklich? Hast du jemals dran gedacht, mich nach einem Date zu fragen?«

Ich zucke zaghaft mit den Schultern. »Ich dachte, du gehst nur mit diesen gigagenetischen Prachtexemplaren aus.«

»Mit wem?«

»Mit den Chet-King-Typen.«

»So stimmt das nicht!« Sie haut mir noch mal aufs Bein, und ich frage mich, ob ich am Ende der Nacht ein einziger blauer Fleck sein werde. Jetzt macht sie ein ernstes Gesicht. Ich bin mir nicht sicher, was ich tun soll, und hoffe, dass mir was Tolles einfällt. Nach einer Minute sagt sie: »Erinnerst du dich daran, als ich mit Tommy zusammen war?«

»Na klar.« Jeder erinnert sich daran. Ein Schuljahr lang waren sie so etwas wie ein Name, StaciundTommy, inklusive täglicher öffentlicher Liebesbekundung auf dem Schulflur. Im darauffolgenden Schuljahr wurden aus ihnen wieder Staci und Tommy.

»Weißt du noch, wie er den Sommer über nach Dallas ging, ins Footballcamp?«

»Klar«, sage ich, als ob ich Tommy auf Schritt und Tritt verfolgt hätte.

»Er rief mich nicht mehr an, und ich wusste, ich wusste einfach, dass er ne andere hatte. Er war mit dieser Schlampe von Plano zusammen.« Staci sieht richtig klein aus, wie sie da mit ihrem verrutschten Shirt auf der billigen Bettdecke hockt. »Ich hab ihn mit Bobby Wender und David Mack über sie sprechen hören. Er hat gesagt, sie sei das Beste, was ihm jemals untergekommen wäre.«

Ich denke über meinen Dad nach und Raina, und ich würde gern wissen, ob sie es je miteinander getrieben haben und, wenn ja, wie oft. Ich würde gern wissen, ob sich Dad schuldig fühlt. Oder vielleicht fühlt er sich auch richtig toll. Ich würde gern wissen, ob meine Mom Bescheid weiß und ob es sie interessiert. Wie können sich zwei Menschen lieben, trotz alldem? Ist das eine freie Entscheidung? Oder ist das wie bei diesen Pflanzen, die wir in Biologie durchgenommen haben? Die Pflanzen, die zu etwas Neuem, zu etwas total anderem mutieren, aber trotzdem ein Teil derselben Pflanzenfamilie bleiben?

Ich war noch nie verliebt. Ich werde sterben, ohne zu wissen, wie es sich anfühlt, das Gesicht eines Menschen zu begehren, wenn man nachts schlafen geht, und sich nach ihm zu sehnen, wenn man morgens aufwacht. Ich wünschte, ich wüsste es.

»Hey, Staci?«, sage ich. »Bist du okay?«

Sie versucht zu lächeln. »Er wird’s bereuen. Mir ist was Großartiges eingefallen, weißt du?«

»Oh, klar. Ich meine, klar fällt dir was ein.« Wir befinden uns in diesem sonderbaren Niemandsland, irgendwie außerhalb von Zeit und Raum. Ich bin mir nicht sicher, ob ich sie küssen oder einfach nur zuhören sollte.

»Kann ich dir was verraten?«, fragt sie.

»Klar.«

»Mir ist da was eingefallen.« Sie nuckelt in einer so besonderen Weise an einer Haarsträhne, dass sich in meiner Hose etwas aufrichtet. »Bist du sicher, dass du’s hören willst? Wahrscheinlich ist es bescheuert.«

Ich lege mir das Kissen über die heikle Zone. »Ich will’s auf alle Fälle hören.«

Staci nippt am Bier und stellt den Becher auf die Nachttischkante. »Okay, du weißt ja, wenn du in so ein Restaurant gehst, gibt’s doch immer nen Platzanweiser oder ne Hostess, die dir nen Tisch zuweisen.«

Ich nicke.

»Also, ich hab mir überlegt, eine Realityshow zu machen, in der sich die Leute um die Chance bewerben, Host oder Hostess in einem netten Restaurant zu sein. Wir könnten die Show The Hostess nennen. Oder The Host, falls ein Kerl gewinnt. Oder, nein, nein! Wir lassen zuerst die Mädels ran und nennen die Show The Hostess und dann die Kerle und nennen sie The Host. Ich red nicht von irgendwelchen billigen Restaurants, wie die, die’s in unserer beschissenen Stadt gibt. Nein, von guten Restaurants in Dallas oder Atlanta oder so. Ich weiß auch schon alles, was die Kandidaten im Wettbewerb machen sollen … Langweil ich dich?«

»Nein. Gott bewahre, nein.«

Staci gibt mir einen dicken, schmatzenden Kuss auf die Wange. »Du bist so was von süß, Cam! Okay, also, sie müssen mit Problemen fertigwerden, also etwa, wenn ein obdachloses Paar reinkommt und einen Tisch wünscht – aber, irgendwie, sie sollten Geld haben und eine Reservierung. Also, was tun? Platzierst du sie an einem Tisch und alle anderen Gäste ekeln sich und dein Boss ist sauer? Oder sagst du ihnen, dass die Reservierung verloren gegangen ist, und wartest drauf, dass sie ausrasten? Also irgendwie so was. Und jede Woche wird jemand rausgewählt, bis es einen Gewinner gibt. Ich war nen Sommer lang Hostess im Hooray, It’s Wednesday und es war nicht leicht. Die Leute rufen nach dir, oder sie wollen irgendwelche Tische zusammenschieben, oder sie setzen sich einfach, obwohl am Eingang eindeutig steht, dass sie platziert werden.«

»Klingt ganz schön hart.«

»Genau.« Staci krabbelt quer übers Bett und küsst mich.

»Du bist so süß«, flüstert sie. Ich höre ein eigenartiges Geräusch im Zimmer. Ein Schnauben oder Hüsteln. Irgend so was. Balder sitzt in einem Sessel am Fenster und lässt die ganze Szene auf sich wirken.

»Äh, entschuldige mich ’ne Minute«, sage ich und schiebe Stacis Arme zur Seite. »Nur’n Augenblick.«

Balder sitzt wie versteinert da, mit diesem heiteren Grinsen im Gesicht. »’tschuldigung, Kumpel«, wispere ich. Bevor er protestieren kann, stelle ich ihn hinten in den Wandschrank.

»Also, wo waren wir?«, frage ich und rutsche aufs Bett zurück.

Staci krabbelt auf mich. Noch ein paar Küsse. Ich kriege einen Steifen und fange an, Staci zu befummeln. Sie protestiert nicht, aber das hat nicht unbedingt was zu bedeuten. Jeden Augenblick könnte ich »das Falsche« tun, und »das Falsche« könnte mit einer Ohrfeige enden und damit, dass ich den Abend zur Belohnung solo verbringe. Da das Fummeln ohne Komplikationen verläuft, wage ich jetzt ein bisschen mehr und entdecke den Verschluss ihres BHs. Immer noch keine Ohrfeige. Meine Finger mühen sich ab, die Häkchen zu öffnen, die zweifelsohne von einer Gruppe Nonnen irgendwo in einem Kloster hergestellt wurden. Staci richtet sich auf. Scheiße, ich habe »das Falsche« gemacht.

»Warte«, sagt Staci und kichert. »Ich helf dir.« Sie schenkt mir ein neckisches Lächeln, beißt sich in die Oberlippe, bewegt die Hände so hinter dem Rücken, dass ihre Brüste praktisch vor meiner Nase tanzen. Zwei Sekunden später fliegt der BH durchs Zimmer und landet auf dem Fernseher. Allerdings hat sie noch ihr Shirt an.

»Warte mal. Ich muss Pipi machen.« Sie tappt zur Toilette.

Oh mein Gott! Ich glaub, ich bin gerade dabei, Sex zu haben. Mit Staci Johnson!

Was kommt jetzt? Keine Ahnung. Musik anmachen? Ja, ich habe das Gefühl, wir sollten Musik hören. Aber alles, was ich dabeihabe, sind diese Great Tremolo-CDs. Jetzt, in diesem Augenblick, würde ich jemanden umbringen für ein Junior-Webster-Album. Aber Tremolo wird reichen müssen. Ich lege Viver É Amar, Amar É Viver ein und drücke auf Play.

Die Spülung rauscht. Staci kommt aus der Toilette und fällt praktisch ins Bett. Das bringt sie noch mal zum Lachen. »Was ist das?«, fragt sie und meint die Musik.

»The Great Tremolo. Hast du schon mal was von ihm gehört?«

Staci rümpft die Nase. »Nein. Moment, ist das nicht eine dieser schottischen Bands? Singt der nicht gerade Schottisch?«

»Das ist keine Band. Great Tremolo ist ein Typ, der portugiesische Liebeslieder singt, die immer traurig enden.«

»Oh.« Staci setzt sich auf meinen Schoß. Inzwischen hat sie ihre Zähne mit meiner Zahnbürste geputzt. Zwischen Zahnpasta und Bier duftet ihr Atem eigenartig nach einer Mischung aus Pfefferminze und vergammelten Weintrauben.

»Er spielt auch Ukulele.« Meine Geilheit lässt nach. Als ob die Unterbrechung gerade eben nicht schon genügen würde, mich wieder nervös zu machen. »Möchtest du noch was von ihm hören?«

Staci leckt sich die Lippen. »Möchtest du das?« Sie schlüpft mit ihren Händen unter mein Shirt und reibt über meine Brustwarzen, als ob sie das in irgendeiner Illustrierten gelesen hat und es jetzt ausprobieren möchte. Oh mein Gott, sie geht ganz schön zur Sache!

»Hör dir nur noch einen Song an«, sage ich. Ich fasse sie an den Handgelenken und ziehe ihre Hände von meiner Brust. Als Tremolo die Zeile über das Glück im Antlitz seiner Liebsten im Flüsterton singt, drehe ich die Lautstärke hoch. Das ist irgendwie wunderschön. Kitschig, aber innig und traurig und glücklich zugleich.

Staci lacht so heftig, dass ich fürchte, sie wird gleich aus dem Bett fallen. »Ohmeingott. Dieser Typ singt so was von ätzend. Zum Totlachen! Du solltest das unbedingt auf deine Facebook-Seite stellen oder so.«

Ich nicke und wünsche mir plötzlich, sie wäre nicht hier. Ich sah dir ins Gesicht und erblickte nichts als Glückseligkeit. Ich frage mich, ob mein Dad das jemals für meine Mom empfunden hat oder meine Mom für Jenna und mich. Ich fühle mich irgendwie beschissen, weil ich sie so zurückgelassen habe, ohne Nachricht, ohne irgendeine Art von Abschied. Ich weiß nicht, zum ersten Mal schlägt mir der Song auf den Magen. Unter den Flötentönen und unter der eigenartigen lyrischen Sprache spüre ich diesen Schmerz, von dem Eubie erzählt hat. Diese Sehnsucht nach etwas, nach jemandem. Und da schießt mir Dulcies Gesicht in den Sinn, einfach so. Wie das weiche Licht ihr Gesicht umspielt, wie sie alberne Grimassen schneidet, ihre staunenden Augen, wenn sie lächelt.

»Amor, amor, o meu amor«, singt Great Tremolo und zum ersten Mal fühle ich jeden Ton.

»Was für ein Vollidiot«, lacht Staci.

Ich schalte die Musik aus. Ich will nicht, dass sie noch einen Ton davon hört. Ich will nicht, dass sie sich über Great Tremolo lustig macht.

»Was ist los?«, fragt sie und setzt sich auf die Knie. Ihr Shirt ist immer noch halb heruntergerutscht.

»Nichts«, sage ich. Ich küsse sie heftig auf den Mund. Ich will alles auslöschen.

Staci kichert. »Ich wusste nicht, dass du so scharf bist, Cam.« Sie schließt die Augen halb und öffnet den Mund. Ich küsse sie noch einmal und noch einmal. Ich küsse und küsse sie und jage einem Gefühl nach, das so eben nicht erreichbar ist.

Staci fummelt an den Knöpfen meiner Levi’s. Ihre warme Hand schlüpft in meine Shorts, und ich wünsche mir, ihre Hand würde dort für immer bleiben.

»Äh, ich hab nichts zum Drüberziehen …«

»Ist schon okay«, sagt Staci und küsst mich weiter.

Was wir tun, widerspricht sämtlichen verantwortungsvollen Programmen, die ich mir in der Schulaula über Jahre von »ganz besonderen Experten« habe anhören müssen: »Du kannst beim ersten Mal schwanger werden.« / »Am Steuer immer ohne Alkohol.« / »Es ist dein Hirn, das du mit Drogen betäubst.« / »Geschlechtskrankheiten sind nicht wählerisch.« Aber dann erinnere ich mich daran, dass ich bald sterben werde, und es wirklich nicht die Zeit ist, sich mit so was aufzuhalten.

»Bist du sicher?«, stöhne ich.

Als Antwort stößt mich Staci zurück aufs Bett. Wir werfen unsere Kleidung ab, als wollten wir einen neuen Geschwindigkeitsrekord aufstellen. Ihr Körper fühlt sich an meinem weich an, aber irgendwie ist es, als ob wir nicht ganz zusammenpassen. Dann bin ich in ihr und denke an gar nichts mehr. Selbst wenn ich wollte, könnte ich nicht. Ich versuche Staci etwas zu sagen, aber sie hat ihre Augen geschlossen. Wo immer sie auch sein mag, ich glaube nicht, dass sie wirklich bei mir ist. Vielleicht denkt sie an Tommy. Es ist, als ob wir zu zweit und doch allein sind, und so sollte es doch eigentlich nicht sein. Und dann explodiert etwas in mir.

»Oh, Scheiße«, sage ich mit zusammengebissenen Zähnen.

Die Nebel lichten sich. Ich kehre in meinen Körper zurück. Die Digitaluhr springt auf 23:23. Die ganze Sache hat drei Minuten gedauert. Aber ich werde nicht als Jungfrau sterben.

Ich rolle auf den Rücken und schnappe nach Luft. Staci rutscht aus dem Bett und sucht ihre Kleidungsstücke zusammen. Ich stütze mich auf die Ellbogen. »Hey, wo willst du hin?«

»Ich muss die Mädels in der Bar treffen«, erklärt sie und zieht ihre Shorts an.

»Musst du wirklich schon gehen?« Ich berühre ihre Wirbelsäule, die sich anfühlt wie ein knöchernes Xylofon. Sie rückt von mir weg.

»Ich muss mich duschen.«

Ich ziehe mir das Bettlaken bis zum Hals und beobachte sie beim Ankleiden. »Vielleicht seh ich dich später«, sagt sie auf eine Art, wie wenn du jemandem ins Freundschaftsbuch schreibst: Man sieht sich diesen Sommer.

»Ja, vielleicht«, sage ich.

Sie öffnet die Tür. Vom Flur her flutet ein Schwall Licht ins Zimmer. Dann ist Staci verschwunden und der Raum ist dunkel und leer.

 

Es ist bereits nach Mitternacht, aber ich kann nicht schlafen. Ich habe Schweißausbrüche.

Dulcie beugt sich über mich. Ihr Gesicht ist wie ein glimmendes kleines Nachtlicht in der Dunkelheit. »Hey, Cowboy. Du siehst nicht besonders gut aus.«

»Ich kann nicht atmen.«

»Doch, du kannst. Du hattest nur einen Albtraum. Entspann dich.«

Ich versuche tief durchzuatmen, aber mir ist, als ob ein gottverdammter Elefant auf meiner Brust sitzt, und meine Muskeln befinden sich noch im spastischen Discozuckmodus. Plötzlich höre ich Glory sagen: »Entspann dich, Baby. Ich muss nur deinen Blutdruck messen.«

»Ich kann nicht schlafen«, sage ich.

Ich höre Geräusche. Piepsen. Surren. Gedämpfte Stimmen. Gonzo ist nicht zu sehen. Das Bett neben mir ist leer. Glory hält mein Handgelenk, misst meinen Puls, eine Sorgenfalte mehr in ihrem Gesicht. Dann wischt sie mir mit einem Waschlappen über die Stirn.

»Mein süßer Junge. Ruh dich ein bisschen aus.« Sie spritzt mir eine Dosis Morphium.

»Glory, ich darf nicht einschlafen. Ich hab Angst, ich sterbe.«

Eine weitere Dosis Morphium und mein Körper fühlt sich leicht wie eine Gänsefeder.

»Cameron, wach auf. Ich bin’s, Dulcie.«

»Hä?«

Ich bin wieder im Hotelzimmer, den Träumen fern. Dulcie streichelt mein Gesicht. »Was meintest du damit, als du sagtest, du hättest Angst zu sterben, wenn du einschläfst?«

»Ich hab Glory gesehen. Im Krankenhaus.«

»Cam, du bist bei mir, okay?«

Ich schaue mich um und sehe, dass sie recht hat. Das kalte Licht der Parkplatzlampen bricht in grellen Strahlen durch die dünnen Vorhänge.

»Ich darf nicht einschlafen, Dulcie. Jetzt, wo ich …« Ich kann den Satz nicht beenden, kann ihr nicht erzählen, dass ich mir sicher bin, sterben zu müssen, jetzt, wo ich keine Jungfrau mehr bin.

»Wie war’s?«, fragt sie mit einer Stimme, die so sanft klingt wie ein Gebet.

»Gut.«

»Lügner.« Dulcie schenkt mir ein kleines Lächeln, aber sie sieht traurig aus.

Draußen auf dem Parkplatz kotzt jemand. Seine Begleiter lachen angewidert.

»Ich dachte, ich würde was anderes fühlen.«

»Dachtest du?«, fragt Dulcie.

Ja. Nein. Ich weiß nicht. Ich fühl mich leer. Verloren. Ein bisschen traurig. Als ob ich auf ein Paket gewartet habe, das nie ankam. Vielleicht, wenn mehr Zeit gewesen wäre, hätte ich einfach sagen können: Hey, verschieben wir’s. Aber das war mehr oder weniger mein einziger Schuss und ich habe ihn vermasselt. Obwohl, es geht nicht nur um den Sex. Das Ganze ist einfach total ungerecht. Wo ich doch gerade zu verstehen beginne, wie toll diese ganze Reise noch werden könnte, und da ist sie schon fast zu Ende.

»Cameron?« Dulcie starrt mich ganz merkwürdig an. Sie streckt den Arm aus und streichelt mein Gesicht. Sie wischt mir die Tränen so sanft von den Wangen, wie es noch keiner getan hat.

»Lass mich.«

»Nein«, sagt sie.

»Bitte. Okay?«

»Cameron, schau mich an …«

Im Zimmer wird es heller. Dulcies Flügel entfalten sich und enthüllen nach und nach ihren nackten Körper. Die Schultern. Den Bauch. Die Arme. Die Oberschenkel. Ihre Haut glänzt.

»Dulcie?«, sage ich und kann den Blick nicht von ihr lassen.

»Schschsch…«

»Wenn wir das tun, werde ich dann sterben?«

Sie legt mir ihre Finger auf den Mund. Das ist die Geste, die ich am häufigsten an ihr sehe.

»Jeder muss sterben, Cameron. Ein bisschen, jeden Tag. Sorg dafür, dass jeder Tag zählt.«

Ohne ein weiteres Wort zieht sie mich an sich. Diese riesigen sanften Schwingen legen sich um mich, als ob ich das erste Mal in meinem Leben gehalten werde. Als ob ich auf das schwarze Loch im Himmel zutreibe und keine Angst davor habe. Ich möchte hineingezogen werden. Ich möchte hören, wie es singt. Ich möchte diese B-Dur-Töne in einer Oktave hören, die noch kein menschliches Wesen je vernommen hat. Ich möchte fühlen, so wie jetzt. Ich möchte Dulcie.

Irgendetwas streift über meine nackte Haut. Finger? Lippen? Flügel? Ich kann nicht sagen, was, aber es fühlt sich unglaublich an. Wie wenn ich durch diese elf Dimensionen gleichzeitig treibe und mein Körper Welle und Teilchen in einem ist. Wir prallen aufeinander, erschaffen uns unser eigenes Universum, etwas, das noch neu ist und namenlos und das noch alle Möglichkeiten in sich trägt. Dieses Glücksgefühl ist so stark, dass man sich ihm nicht entziehen kann. Und ausnahmsweise suche ich mal keinen Ausweg.

Ich küsse sie, von den harten Schwielen ihrer Hände bis hin zu den weichen Kuppen ihrer Finger. Mit ihren kleinen Händen umschließt sie mein Gesicht. Sie sind so warm wie die ersten Sonnenstrahlen im Frühling.

»Cameron, schau mich an«, flüstert sie.

Ich tu es. Ich sehe sie. Ich sehe sie wirklich. Und in diesem Augenblick weiß ich, dass auch sie mich sieht.

Sie lächelt, und in ihrem Lächeln liegt alles, was ich mir jemals wünschen könnte. Ihr Gesicht kommt immer näher und schließt die unmögliche Entfernung zwischen uns. Ihre Lippen sind ganz nahe an meinen.

Und als es so weit ist, ist die Berührung mehr der gefundene als der gefühlte Kuss.