KAPITEL EINUNDDREISSIG

In dem wir an zwei Orten gleichzeitig sind und ich die Freuden vorstelle, die Great Tremolo auslöst

 

Meile um Meile fahren wir durch ganz gewöhnliche Landschaften. Wie sie so an den offenen Fenstern unseres Caddys vorüberhuschen, erscheinen sie wunderlich und fremdartig. In den Feldern links und rechts des unendlich langen Highways lesen Häftlinge mit langen Zangen Müll auf und werfen ihn in riesige Nikolaussäcke, die sie auf dem Rücken tragen. Parker Days blendend weiße Zähne funkeln von einer Werbetafel für Rad Sport – OPTIMALE LEISTUNG BRAUCHT DAS OPTIMALE LIMOERLEBNIS! Hunde stecken die Köpfe aus den Seitenfenstern der Autos, um den Fahrtwind einzufangen, und wir beantworten ihr Bellen mit unserem eigenen Gejaule. Ein Lastwagen rumpelt rechts vorbei und bringt den Caddy zum Zittern. VEREINIGTE SCHNEEKUGEL-GROSSHÄNDLER. GEFRORENES LEBEN HINTER GLAS. FAHRSTIL FAIR? WÄHLE 1 - 800 - 555 - 1212. Über uns der Himmel – ein blaues, teilnahmsloses Meer, in dem die Wolken dahintreiben.

An der Grenze zwischen Georgia und Alabama parken wir den Wagen auf dem Seitenstreifen. Gonzo und ich stehen mit je einem Fuß auf der einen und der anderen Seite des WILLKOMMEN IN GEORGIA-Schildes, sodass wir behaupten können, dass wir an zwei Orten gleichzeitig sind. Dann nehmen wir Balder so zwischen uns, dass er das auch von sich sagen kann. Ich mag Georgia. Es ist so anders als Texas – all diese riesigen Kiefern und diese fette, rote Erde.

Wir reden über dies und das, über Sachen, die nichts bedeuten, etwa über die Frage, warum in Actionfilmen nie jemand aufs Klo gehen muss oder was du machst, wenn du einen Koffer voller Geld findest. Gonzo möchte eine Detektivserie über kleinwüchsige Menschen starten, Titel: »Der kleinste Privatdetektiv« oder »Zwerg des Schicksals«. Balder wendet ein, dass das Schicksal ungewiss ist: Sind die Menschen, denen du begegnest, dazu da, eine Rolle in deinem Leben zu spielen, oder existierst du nur, um eine Rolle in ihrem zu spielen? Ich erzähle ihnen von meiner heimlichen Cartoonfantasie, in der der Kojote damit aufhört, den Roadrunner zu jagen, alle seine Todesfallen verkauft und sich stattdessen ein Boot anschafft und angeln geht.

Was ich ihnen nicht erzähle, ist, dass mich jedes Mal, wenn ich auf diese immer wiederkehrenden Werbetafeln für Anwälte oder Hamburger blicke, die Figuren aus Small World angrinsen und mir zuwinken. Balinesische Marionetten tanzen. Ein Mexikanerjunge mit Sombrero spielt Gitarre. Der Alligator hält den Regenschirm. Der Inuitjunge hat einen Plastikfisch an der Angel.

Es ist verlockend zu sagen: »Hey, guckt mal, diese Trickfigur von Don Quijote auf dem Holzpferd, sie hat mir eben zugezwinkert.«

Aber dann würden sie mich vielleicht nicht mehr ans Steuer lassen.

Ein Lied der Copenhagen Interpretation wird im Radio gespielt. Balder singt mit.

»Hab nicht gewusst, dass du ein CI-Fan bist«, sagt Gonzo.

»Eine höchst wohlklingende Gruppe«, sagt Balder und trommelt in der Luft. »Sie haben für meine Leute in Breidablik gespielt.«

Gonzo und ich werfen uns Blicke zu.

»Wirklich wahr!«, beharrt Balder. »Sie sind mit ihren sonderbaren Instrumenten vom Himmel gefallen, und wir befürchteten schon, dass Ragnarök über uns kommt.«

»Ragnarök.« Gonzo schneidet eine Grimasse. »Ist das ein Musikfestival?«

»In der nordischen Mythologie ist das das Ende der Welt«, sage ich und erinnere mich an Moms Lektionen. »Götterdämmerung.«

»Sie sprachen mit fremder Zunge, aber ihr Lied war wie eine Zauberformel gegen das Übel. Während sie spielten, regierte der Frieden. Feinde wurden zu Freunden. Die Riesen legten sich zur Ruhe. Sogar die Walküren verweigerten sich dem Tod. Wir feierten. Und dann öffneten sich die Wolken noch einmal. Die Musiker verschwanden und ließen nur das Nordlicht zurück.«

Am Himmel ziehen dunkle Wolken auf. Zeit für eine Nachmittagsdusche. Die Autos schalten die Scheinwerfer ein und wappnen sich für den kommenden Regen. Aus unserem Gettoblaster ertönt eine Sinfonie aus Knacken, Knistern und gelegentlichen Wortfetzen. Mit der Präzision eines Codeknackers drehe ich den Senderknopf, lausche nach Lebenszeichen aus der Ferne, bin glücklich über jedes Tonschnipselchen, das zu hören ist; es fühlt sich so an, als ob ich mich auf etwas zubewege, das nur einen Sendemast weit entfernt liegt und stärker wird.

»Könnten wir bitte etwas anderes finden? Das ist die reine Folter«, fleht Balder.

»Was hältst du von Great Tremolo?«, frage ich.

»Ist das verrauscht?«

»Nein, das ist ne CD«, sage ich und taste auf dem Vordersitz nach der Disc, die ich gebrannt habe.

Balder gähnt. »Wunderbar.«

Gonzo gibt sich gnädig und bald wiegt sich unsere Kiste im Rhythmus der Ukulele- und Flötentöne eines portugiesischen Liebesliedes.

»Was ist denn das für’n Scheiß?«, fragt Gonzo mit leicht verzerrtem Lächeln.

»Great Tremolo. Der Meister der Liebe in allen Sprachen.«

Great Tremolo beginnt mit seiner hohen, zittrigen Fistelstimme zu singen und das war’s. Gonzo lacht. Sein Gelächter ist einfach so heftig, dass ich nicht anders kann, als mitzulachen. Great Tremolo steuert einen hohen Ton an und wir machen uns fast in die Hose. Balder zieht es vor, unsere Unreife zu ignorieren. Er hat sich mit geschlossenen Augen auf dem Rücksitz ausgestreckt und hält wahrscheinlich ein kurzes Zwergennickerchen.

»Wo hast’n das aufgegabelt, Alter?«, würgt Gonzo hervor.

Ich wische mir die Tränen weg. »Warte – dreh lauter. Jetzt kommt sein großes Ukulelesolo!«

Gonzo schlägt sich glucksend auf die Schenkel. »Er reißt diese Ukulele in Stücke! Mach schon, du harter Typ mit der Mädchenstimme!«

»Ich wette, die Frauen werfen schon ihre Dessous.« Meine Stimme überschlägt sich.

»Ich will meine Unterhose werfen! Fahr mal rechts ran, damit ich sie ausziehen kann!«

Ein Donnergrollen wälzt sich über uns. Die ersten großen Regentropfen platschen gegen die Windschutzscheibe, ein dicker, zwei, drei. Vier. Great Tremolos Stimme tönt aus dem hochgetunten Gettoblaster.

»Hey, Gonz, was singt er denn?«, frage ich und ringe nach Atem.

Gonzo faucht empört. »Was weiß ich, Alter, das ist Portugiesisch. Ich bin Me-xi-ka-ner! Das ist nicht dasselbe!«

»’tschuldigung«, sage ich. »Ich würd einfach nur gern wissen, was er singt.« Und zum ersten Mal will ich das wirklich wissen.

»Eu considerei a sua cara e sabia a felicidade«, murmelt Balder auf dem Rücksitz, immer noch mit geschlossenen Augen. »Ich sah in dein Gesicht und wusste, was Glück ist.«

Ohne weitere Vorwarnung öffnet sich der Himmel und weint.