KAPITEL ZWANZIG

In welchem wir einen Friedhof besuchen und ich so was wie eine Botschaft erhalte. Hoffe ich jedenfalls.

 

Wir nehmen die Canal-Street-Bahn raus zu den Friedhöfen nahe der Autobahn. Die Fahrt macht einen depressiv. Eingezwängt zwischen aufgemotzten Anwaltskanzleien, Gebrauchtwagenparks und gefängnisähnlichen Schulgebäuden stehen winzig kleine Häuser, die so aussehen, als könnten sie jede Minute zusammenbrechen. Die Farbe blättert ab und die Fensterläden sind kaputt. Einige der baufälligen Türen sind mit einem roten X gekennzeichnet, wie markiertes Schlachtvieh. Unter altem Laub lugen ausrangierte, rostige Autos hervor. An einer Kreuzung zeigt ein verbogenes Einbahnstraßenschild Richtung Erdboden.

»Endstation«, sagt der Fahrer, und das ist, angesichts der Umgebung, ziemlich witzig: nichts als Friedhof – links, rechts, überall.

»Und jetzt?«, fragt Gonzo, als wir die Gleise überqueren.

»Er sagt, ich würde es erkennen«, sage ich und lasse meine Augen über die endlosen Reihen von Grabsteinen schweifen.

Gonzo schnauft. »Wie hilfreich.« Er liest laut vor, was auf dem Wegweiser steht: »Die Ruhestätte der Kauzigen? Klingt nach deiner Kragenweite. Greenwood?«

Gonzo wartet auf irgendeine Richtungsangabe, aber zur Hölle, wenn ich wüsste, wonach wir suchen! Junior Websters Sonnenbrille wiegt schwer in meiner Hand.

»Cypress Grove«, sagt Gonzo. »Oder der …«

»Einer heißt Cypress Grove?«

»Ja. Da drüben, der Kleine.«

»Hier entlang«, sage ich.

Wir gehen unter einem schmiedeeisernen Bogen durch, auf dem Cypress Grove steht, und befinden uns auf dem Friedhof. Ein schmaler, grasgesäumter Kiesweg führt uns an Mausoleen aus Marmor vorbei – hübsche kleine Totenhäuser. Erhöhte Steinplatten sind in die Erde gesetzt, auf denen UNSEREM GELIEBTEN BRUDER steht oder UNSEREN KLEINEN LIEBLINGEN.

»Was suchen wir denn?«, fragt Gonzo.

»Einen Engel.«

Wir suchen die Mausoleen und Grabsteine ab. Allein in dieser Gräberreihe zähle ich siebenundzwanzig Engelstatuen.

»Könntest du dich etwas deutlicher ausdrücken?«, fragt Gonzo.

»Er sagte, ich würde ihn erkennen. Lass uns weitersuchen.«

»Hey, guck dir mal das an!«, brüllt Gonzo und klettert auf die Grabplatte eines kaffeefarbenen Mausoleums. »Was ist das denn für ein Scheiß-Schloss? Oh, Scheiße. Darf man auf einem Friedhof ›Scheiße‹ sagen oder verwandelt man sich dann in einen Zombie?«

Ich atme tief ein. »Jetzt ist es eh zu spät.«

Gonzo reißt die Augen auf, und ich weiß, dass er kurz vor einer totalen Panikattacke steht. »Ich mein’s ernst. Du glaubst doch nicht etwa, dass hier irgendein Voodoozauber abgeht, so was wie Hände, die sich aus Gräbern strecken, und so’n Zeugs. Jetzt echt, Alter?«

»Keine Hand wird durch ne Steinplatte brechen, okay, Gonzo? Beruhig dich!«

»Klar, okay«, sagt er und atmet tief aus. »Das wär der Zombiehimmel hier, Mann. Ich wollt, wir würden nen Horrorfilm drehen, Alter. Das wär echt hammermäßig!«

Gonzo macht ein paar schräge Aufnahmen mit dem Handy. Seine Hand liegt wie eine Klaue auf einem Grabstein, als ob er gerade von den Toten aufersteht. Das sieht aus wie auf einem Horrorfilmplakat. Das Ganze wird von »Aaaahhhs« und »Huuuhhs« begleitet und zombieartigem Gegrunze aus den Tiefen seiner Kehle.

»Sehr witzig. Kannst du kurz mal damit aufhören, die Auferstehung des lebenden Arschgesichts zu spielen und mir dabei helfen, Juniors Botschaft zu finden?«

Ein paar Meter entfernt schnattern drei blonde Mädchen auf Deutsch, während sie Fotos von den verfallenden Grabsteinen machen. Eins der Mädchen fragt mich in holprigem Englisch, ob ich von ihnen ein Foto machen könne.

»No-a speak English«, sage ich und drehe mich weg.

»Ich mach’s«, sagt Gonzo.

Ich will ihn eben an unseren Auftrag erinnern, aber er hat schon den Fotoapparat in der Hand und dirigiert die Mädchen mit einer Mischung aus Spanisch, Englisch und Handzeichen, bis sie völlig durcheinander sind und nur noch gackern.

»Copenhagen Interpretation«, sagt eines der Mädchen. Sie spielt auf ihrem Handy ein paar Songs an und Gonzo nickt und lächelt und dann nicken sie alle und lächeln.

Ich stehle mich auf den schmalen Wegen davon, bis ich ganz allein bin. Die Luft ist schwer von Regen, der nicht fallen wird. Sie drückt mich nieder, macht die Beine müde und schnürt meine Brust zusammen. Ich setze mich auf die Steinstufen eines Grabmals, das unter einer Trauerweide verborgen liegt. Die Zweige hängen so tief, dass die Blätter mich an Wange und Nase kitzeln. Es riecht nach Schmerz.

»Hey, Cowboy.«

Als ich den Klang von Dulcies Stimme höre, fahre ich hoch und drehe mich suchend nach links und rechts.

»Hier oben«, ruft sie.

»Ah. Sehr schlau.« Sie posiert auf dem Dach eines weißen, kirchenähnlichen Mausoleums, Flügel angelegt, Kinn auf die Hände gestützt. Sie sieht aus wie der Denkende Engel und könnte ohne Weiteres Teil des Grabmals sein, wenn da nicht ihre Stiefel und das leuchtende, pinkfarbene Haar wären.

Mit einem beeindruckenden Bums landet sie auf dem Boden. Ihre Stiefel befördern Wölkchen uralten Südstaatenstaubs auf meine Jeans und sie lässt sich auf einem frischen Soldatengrab nieder. »Also, was hältst du von Big Easy?«

»Weiß nicht«, sage ich und setze mich neben sie. »Irgendwie deprimierend.«

Dulcie legt eine Hand auf meine Schulter. »Cam, du befindest dich auf einem Friedhof.«

»Sehr witzig.«

Dulcie nickt in Richtung Sonnenbrille in meiner Hand. »Was ist das?«

»Ne Sonnenbrille.«

»Wortwörtlich. Okay. Ich spiele mit. Wo hast du sie her?«

Sie kann mich echt verarschen. Soweit ich weiß, hat sie uns die ganze Zeit beobachtet und alles gesehen. »Dieser Typ namens Junior Webster«, sage ich und warte auf eine Reaktion. Aber ihr Gesichtsausdruck ändert sich nicht, und ich vermute, dass sie wirklich nichts weiß. Damit ist sie der lahmste Engel aller Zeiten. Ich lege los und erzähle ihr von unserer Nacht, vom Großen Abrechner und seinen Feuerriesen, wie sie auf unserem kleinen Gig aufkreuzten, und ich berichte ihr von Juniors Tod. Nur über meine Angst erzähle ich nichts. In der Ferne höre ich ein paar Brocken Deutsch und Gelächter. Offensichtlich spielt Gonzo noch Regisseur. Er sagt einem der Mädchen, es solle sich wie ein Zombie aufführen.

»Junior hat mich beauftragt, diese Brille unter dem Engel zu vergraben und auf eine Botschaft zu warten. Tatsache ist, dass es auf diesem Friedhof ungefähr hunderttausend Engel gibt.«

Dulcie nickt. »Das ist hart.«

»Ich dachte, du weißt vielleicht, wo? Fällt das etwa nicht unter die Kategorie ›Ganz besonders geheime Engelsinfos‹, zu denen du Zugang haben könntest?«

Sie lehnt sich zurück, schlägt die Beine übereinander, wippt mit dem oberen und berührt mich jedes Mal leicht mit ihrem Stiefel. »Cameron, ich hab dir gesagt, dass ich nur eine Botschafterin bin.«

Ich hebe die Hände. »Gut. Junior Webster wollte, dass ich diese Sonnenbrille unter dem Engel begrabe? Ich bin dabei. Falls das nicht funktioniert, werd ich mich wirklich einen Dreck mehr um was kümmern. Nimm mal deine Füße weg.«

Dulcie schwingt ihre Stiefel zur Seite. Ich buddle ein kleines Loch in die frische Erde des Soldatengrabs, lass die Sonnenbrille hineinfallen und schütte das Loch wieder zu. Ich wische die Hände an meiner Jeans ab, setze mich neben Dulcie und warte. Über uns drehen kreischende Möwen ihre Runden. Nach fünf Minuten untersuche ich den Boden. Nichts.

»Also, wo ist die geheime Botschaft?«

»Keine Ahnung«, sagt sie und taucht mit der Hand in ihren Geheimvorrat an Schokoleckerlis. »Aber ich liebe es, wenn man nichts weiß – dieses Gefühl des Geheimnisvollen. Du etwa nicht?«

»Nein. Wirklich und wahrhaftig: nein.« Wir sitzen noch ein, zwei Minuten schweigend nebeneinander. Mein Arsch tut weh und ich will nichts weiter als von hier abhauen. »Sollten wir nicht was sagen? Gibt’s vielleicht ein paar Zauberworte, die das Ganze beschleunigen?«

Dulcie streckt ihre Hände aus, wie ein Zauberkünstler, der gerade ein Kaninchen schweben lässt. »Dommo arigato, Mr Roboto.« Sie zuckt. »Ich hab das mal im Radio gehört.«

»Mir reicht’s. Ich steig aus.« Ich stehe auf und stolpere auf dem Weg prompt über einen großen Stein. Unter ihm liegt ein Fetzen der heutigen Zeitung, der Anzeigenteil.

»Hast du’s gefunden?«, fragt Dulcie und blickt von ihrem neuen Hochsitz in der Krone der Trauerweide auf mich herunter. Sie spielt sich total vor mir auf.

»Kannst du mich das bitte mal lesen lassen?«

Sie tut so, als ob sie einen Reißverschluss über den Lippen zuzieht, und ich durchsuche den Zeitungsteil. Ein einziger chaotischer Mischmasch.

 

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»Hoffnungslos«, sage ich.

Vom Baum schwebt Dulcies Stimme herunter. »Schau weiter. Du findest es.«

»Ja? Woher willst du das wissen?«

»Weil ich an dich glaube, Cameron«, sagt sie ohne eine Spur von Sarkasmus.

Ich schaue noch einmal, und jetzt sehe ich – unten in der rechten Ecke – eine klitzekleine illustrierte Anzeige der Roadrunner Bus Company mit dem Slogan: Folge der Feder.

»Hey, ist es das? Ist es das, was Junior gemeint hat?«, rufe ich nach oben, aber in der Trauerweide sitzt niemand mehr. Dulcie ist schon weg. Ein plötzlicher Windstoß fegt mir das Papier aus der Hand und bläst es davon. Ein Fitzelchen bleibt mir. Darauf ein Wort: leben.