In dem der Engel die Wunder von Popcorn in der Mikrowelle diskutiert, und Gonzo dafür sorgt, dass unsere Ärsche am Ende der Welt stranden
Als ich die Augen aufschlage, ist es früher Morgen. Der Tag ist nicht viel älter als ich. Die Leute schlafen noch. Die Sitzlehnen sind zurückgeklappt, die Köpfe ruhen an den Fensterscheiben und die Münder sind weit geöffnet. Durch einen dünnen Schleier von Wassertröpfchen am Fenster sehe ich die Landschaft an mir vorüberziehen. Wir sind in Mississippi oder vielleicht in Alabama.
Grauer Nebel liegt über den Teerpappedächern der kleinen Hütten. Quer über die Vorgärten sind Wäscheleinen gespannt. Die aufgehängten Hemden fangen den Wind ein, als ob sie mit ihm davonsegeln wollten, raus aus diesen winzigen, vermüllten Gärten mit den alten Rostlauben und dem kaputten Plastikspielzeug. Ich hauche ein paarmal das Fenster an und beobachte, wie mein Atem die Scheibe beschlägt und wieder verschwindet und wieder beschlägt und wieder verschwindet.
Ich spüre gern die Straße unter mir, diesen zuverlässigen Bumbum-bumbum-bumbum-Rhythmus der großen Räder. Neben mir ratzt Gonzo. Er hat seinen großen Kopf an meine Schulter gelehnt und murmelt im Schlaf. Ich würde gern wissen, wovon er träumt.
»Kuckuck.« Dulcie äugt über den Sitz vor mir.
»Was tust du hier?«, frage ich und schaue mich um.
»Willst du mir nicht Guten Morgen sagen?«
»Jetzt hör mal, es ist gerade …« Ich spreche leiser. »Ich will nicht, dass die Leute von mir denken, dass ich hier im Bus zu spinnen anfange. Die schmeißen mich sonst raus.«
»Sieht so aus, als ob alle noch schlafen.«
»Kann dich außer mir jemand sehen?«, frage ich.
»Vermutlich könnten sie, wenn sie wollten, aber vielleicht ist das, was sie sehen, nicht das, was du siehst«, antwortet Dulcie gewohnt kryptisch. »Hey, guck mal.« Sie entfaltet leicht ihre Flügel. Cameron rock steht drauf.
»Sollte da nicht ein ›t‹ am Schluss stehen? Cameron rockt?«
»Ja. Die Sprühfarbe ist mir ausgegangen. Aber Seele ist drin, garantiert zu hundert Prozent!« Sie legt ihr Kinn auf die Rücklehne und die Hände an die Seiten. Das sieht aus, als sei sie geköpft worden. »Du scheinst mir ein bisschen müde, Cowboy.«
»Seltsame Träume«, sage ich.
»Willst du mir was drüber erzählen? Der Doktor hört zu.«
»Nur so’n Zeugs von meiner Mutter. Sie hat davon erzählt, wie sie mit mir als Kind immer in die Bibliothek gegangen ist, und ich konnte mich überhaupt nicht dran erinnern. Aber gerade als ich aufgewacht bin, konnte ich mich erinnern. Ich hab mich auf Moms Schoß sitzen sehen, sonnenklar, nahe am Brunnen, und sie hat mir irgendein Buch mit Kinderreimen über Monster vorgelesen. Sie hatte Sandalen an und duftete nach Shampoo. Und ich war glücklich. Wie konnte ich das vergessen?«
»Das ist ne schöne Erinnerung«, sagt Dulcie.
Wir lauschen der Melodie der Straße unter uns, bumbum-bumbum, und für ein paar Minuten fühlt es sich an, als ob wir die einzigen Geschöpfe im ganzen Universum sind.
»Hast du’n paar schöne Erinnerungen?«, frage ich und biete ihr Käsefinger aus unserer Tüte an. »Du weißt schon, bevor du ein …« Ich deute in einer total missratenen Geste auf die Flügel. »Du weißt schon.«
Dulcie setzt ein lustiges kleines Lächeln auf. »Jetzt gerade mach ich mir ne schöne Erinnerung.«
»Jetzt?«
»Hier. Mit dir.« Sie verputzt zwei Käsefinger.
»Aber was warst du, bevor du ein Engel wurdest?«, presse ich hervor.
Sie schlürft an meiner lauwarmen Limo und zieht ein Gesicht. »Ist das wichtig?«
»Ja. Ich denke schon.«
»Also gut«, sagt sie und nimmt noch einen Schluck aus der Dose. »Ich war jemand anderer.«
»Was willst du damit sagen?«, frage ich und verliere langsam die Geduld. »Hattest du Eltern? Einen Hund? Einen Wellensittich? Eine Sozialversicherungsnummer? Kannst du dich erinnern? Wie fühlst du dich? Gibt es einen Gott? Was passiert mit uns, wenn wir sterben? Werd ich wie du sein und meine Flügel mit falsch geschriebenen Botschaften besprühen und Menschen auf bescheuerte Missionen schicken?«
»Das ist nicht bescheuert, Cameron«, sagt sie sanft.
»Ich bin hier im Nirgendwo unterwegs und halte Ausschau nach irgendeinem desertierten Wundermann, riskier für dich Kopf und Kragen, und du kannst mir nicht mal eine einzige verdammte Frage beantworten!«
Der Typ gegenüber öffnet für eine halbe Sekunde ein Auge, dreht sich dann um, und ich senke meine Stimme. »Ich glaub, du schuldest mir das.«
Dulcie wischt sich den Mund ab, trotzdem klebt noch was von diesem fluoreszierenden Käsepulver an ihren Lippen. »Okay, eine deiner Fragen werd ich beantworten.«
»Vielen Dank.«
»Ich fühl mich, als ob ich einen Magritte verschluckt hätte.«
»Was?«
Dulcie greift nach einem weiteren Käsefinger. »Du hast mich gefragt, wie ich mich fühle. Und meine Antwort ist: Ich fühl mich, als ob ich einen Magritte verschluckt hätte. Als ob meine Innenseiten mit Wolken und schwebenden Augen bemalt sind, mit grünen Äpfeln und langsam himmelwärts fliegenden Männern, die Melonen tragen.«
»Du bist das von Amts wegen nervigste unwirkliche Geschöpf, das es gibt.«
»Hast wohl ne Menge von uns getroffen?«
»In letzter Zeit ist es immer schlimmer geworden.«
»Cameron.« Sie legt ihre Hand auf meinen Arm. »Worauf es ankommt, ist, dass du genau in diesem Augenblick am Leben bist. Schau dich um.« Sie breitet die Arme aus, als ob sie die schlafenden Passagiere umfassen wollte. »Die Hälfte der Menschen, die ich sehe, nehmen gar nichts wahr. Sie werden nie erfahren, was für sagenhafte Dinge es auf der Welt gibt.«
»Was, zum Beispiel?«
»Zum Beispiel …« Sie denkt zwei Sekunden nach. »Mikrowellenpopcorn.«
»Du machst Witze.«
»Denk mal drüber nach. Man legt diese flache Tüte mit Körnern in die Mikrowelle, wartet vier Minuten …« Sie steckt den Finger in den Mund und macht ein ploppendes Geräusch. »Und, voilà, schon hat man eine dampfende Tüte voller Köstlichkeiten.«
»Ist das dein Wunder der menschlichen Existenz?«
»Nein. Aber das ist kein Scheiß, sondern ein ganz einfaches Vergnügen, okay? Hast du so was mal gehabt?«
»Klar«, sage ich.
Sie verschränkt die Arme über der gepanzerten Brust. »Zum Beispiel?«
»Wichsen.«
»Okay, was noch?«
Eine gute Minute denke ich drüber nach. »Eubie’s.«
Dulcie sitzt und wartet. »Und?«
»Mir fällt nichts weiter ein.«
»Also gut, was ist mit Pizza – im Restaurant, nicht vom Pizzaservice? Springbrunnen. Die leichte Gänsehaut auf den Armen, wenn du aus einem klimatisierten Kino in die Hitze kommst. Der Geruch in einem Waschsalon. Schnee. CDs …«
»Nein, nicht CDs, Schallplatten aus Vinyl.«
»Gut, dann eben Vinyl. Was noch?«
»Du weißt, ich hasse es, dass du mich in all das hineingezogen hast, oder?« Das Licht der Morgensonne fällt auf Dulcie. Sieht so aus, als würde sie strahlen, und mich drängt es zu sagen: Wir. Genau hier. Genau in diesem Augenblick.
Ich zucke mit den Schultern. »Das war’s.«
Sie schüttelt den Kopf. »Vor uns liegt ganz schön viel Arbeit, mein Freundchen.«
Der Busfahrer hat den Blinker gesetzt. Wir verlassen die Autobahn.
Dulcie steht auf. »Zeit zu verschwinden.«
»Also, wie … wann werd ich dich wiedersehn?«
»Bald«, sagt sie und verschwindet in der Bustoilette. »Geh raus und schaff dir’n paar Erinnerungen, Cowboy. Oh, und vergiss nicht, das Universum zu retten.«
Fünf Minuten später fährt der Bus auf einen Rastplatz. Die Hinweistafel begrüßt uns im schönen Staat Mississippi. Einige Lastwagen parken neben der Tankstelle. Der Bus hält an und der Fahrer öffnet die Türen. »Alle, die sich mal die Beine vertreten wolln und’n bisschen Luft schnappen, los jetzt. In zehn Minuten geht’s weiter. Ich muss mein’ Fahrplan einhalten.«
Gonzo und ich drängen mit dem Rest der Fahrgäste ins Freie und steuern den großen grünen MegaMart gegenüber dem Parkplatz an.
»Mensch, Alter! Sie haben das Mega XL Captain Carnage-Todesspiel!« Gonzo rennt zu den Videospielautomaten. »Das ist einfach das absolut geilste Spiel aller Zeiten! Wenn du Level drei schaffst, kriegst du eine Spezialstreitaxt, mit der kannst du dir deinen Weg durchs Märchenland freihäckseln. Total krass! Hey, haste mal nen Dollar?«
Ich gebe Gonz den Dollar und in der nächsten Minute höre ich ihn schon fröhlich Märchenfiguren niedermähen. Ein großer Knall, und das ganze Geschirr brüllt: »Lauf weg, Löffelchen! Rette dich!« Ich ziehe Geld aus dem Automaten daneben, kaufe anschließend ein paar Snacks und kriege ein bisschen Wechselgeld.
»Gonzo.« Ich will ihn gerade fragen, ob ich sein Handy benützen kann, aber ich weiß, dass er Angst hat, Spielzeit zu verlieren. »Hör mal, ich will anrufen. Wirf ein Auge auf den Bus, okay?«
»Klar«, sagt er mit glasigen Augen.
Hinten um die Ecke ist ein Münztelefon. Ich stecke mein Kleingeld rein und tippe die Ziffern, die ich am besten kenne. Beim vierten Läuten antwortet Jennas verschlafene Stimme.
»Hallo?«
»Jenna?«
»Cameron? Oh mein Gott, bist du’s? Wo bist du?«
»Pssst, weck Mom und Dad nicht auf.«
»Okay«, sagt sie, und ich weiß, wie schwer es ihr fällt, ihren Braves-Mädchen-Ehrenkodex für mich zu brechen. Die Verbindung fängt an zu rauschen und es knackt von Zeit zu Zeit. »Wie geht’s dir?«
»Ich bin okay. Und wie geht’s zu Hause?«
»Mom und Dad sind total ausgeflippt. Überall in der Stadt haben sie Plakate aufgehängt. Und die Leute haben diese braunen und weißen Bänder an ihre Bäume gebunden und sagen, dass sie sie erst runternehmen, wenn du wieder zu Hause bist.«
»Braun und weiß?«
»Ja, wie ein Kuhfell.« Sie atmet tief ein. »Die Polizei sucht dich, Cameron. Sie haben die Spuren deiner Kreditkarte bis nach New Orleans verfolgt. Cameron, warum kommst du nicht einfach wieder nach Hause? Bitte!«
»Das kann ich nicht, Jenna. Nicht bevor ich den Typen gefunden hab, der mich heilen kann.«
»Was redest du? Welcher Typ?« Sie klingt, als ob sie weinen würde.
»Das ist … kompliziert. Aber ich versprech dir, ich bin okay. Hör zu, Jenna, du musst mir einen Gefallen tun.«
Pause. Die Verbindung ist wirklich schlecht. »Okay.«
»Sag Mom und Dad nur, dass es mir gut geht. Ich ruf wieder an, sobald ich kann. Versprochen. Ich …«
Ein anderes Telefon schaltet sich ein.
»Cameron? Cameron! Bist du’s? Wo bist du?« Vaters Stimme. Im Hintergrund höre ich Mom sagen, er solle sie ans Telefon lassen. »Cameron, sag uns nur, wo du bist, und wir holen dich ab. Wir lieben dich. Wir –«
Wieder ein Knacken. Ein Finger drückt die Gabel nieder. »Sie verfolgen den Anruf.« Dulcie steht da. Der Ernst in ihrer Stimme lässt mich aufhorchen. Langsam hänge ich den Hörer wieder auf die Gabel.
»Du musst sie loslassen, Cam. Musst nach vorne gehen. Du hast einen Auftrag.«
»Ich weiß das, okay?«, explodiere ich. »Würdest du mich bitte einfach allein lassen?«
»Dich allein lassen?«
»Ja.«
»Total allein?«
»Ja, mein Gott.«
Sie beißt sich auf die Unterlippe. »Okay. Man sieht sich, Cowboy.«
»Ja, Wiedersehn.«
Ich renne über den Parkplatz zu den Toiletten und bahne mir den Weg ins Dreckloch eines Männerpissoirs. Mein E-Ticket reibt am Arm. Frontierland ist noch blasser geworden, die Buchstaben sind kaum mehr zu erkennen. Wie viel Zeit bleibt mir noch? Im zerbrochenen Toilettenspiegel sehe ich scheiße aus – bleich und stoppelig.
»Verdammt noch mal, was machst’n du eigentlich?«, frage ich mein zerbrochenes Konterfei. Tränen steigen mir in die Augen. Ein großer Kerl in Cowboystiefeln kommt herein und ich spritze mir Wasser übers Gesicht.
Draußen an den Zapfsäulen werden zwei Trucks aufgetankt. In einem Kombi mit heruntergelassenen Seitenfenstern sitzt eine Familie über ihrem Fast Food. Abseits der Zapfsäulen stehen zwei Typen bei einem Stapel Reifen und qualmen wie die Idioten. Und dort, wo eben noch unser Bus stand, sehe ich nichts weiter als eine große leere Fläche.
Nein. Nein, nein, nein, nein, nein.
Ich dränge mich so heftig durch die MegaMart-Türen, dass die Klingel schrillt, als hätte sie eine Überdosis Koffein abbekommen. Gonzo steht immer noch am Captain Carnage-Spiel.
»Gonzo!«, fauche ich ihn an.
»Nicht jetzt, Alter! Die Teddyvamps sitzen auf mir.«
»Ich dachte, du passt auf den Bus auf!«
»Bus?« Er nimmt seine Augen nicht vom Spiel.
»Ja. Weißt du, dieses lange rechteckige Gefährt, das unsere Ärsche hier rausgesetzt hat und jetzt nirgendwo mehr zu sehen ist.«
Schließlich blickt Gonzo mit großen Augen auf.
»Ja, genau«, sage ich.
Wir rasen raus zum Parkplatz und stehen auf der leeren Fläche, wo eigentlich ein Bus nach Florida stehen sollte.
Gonzo schluckt heftig. »Er ist …«
»… weg«, beende ich den Satz. »Herzlichen Glückwunsch. Jetzt sitzen wir ganz offiziell in der Scheiße.«