In dem ich mich den Pfeilen und Schleudern eines Abendessens im Kreis meiner Familie aussetze
»Wir könnten doch heute Abend alle zu einem frühen Dinner bei Luigi’s gehen«, verkündet Dad. Er macht solche Ansagen in regelmäßigen Abständen, diese Lasst-uns-doch-wie-eine-Familie-auftreten-Proklamationen. Er verkündet sie zwar oft, aber es geschieht selten, dass wir alle am selben Platz zur selben Zeit zusammen sind, um sie zu vernehmen. Wir sind wie Elektronen, die sich zur gleichen Zeit anziehen und abstoßen.
»Sorry, Daddy. Ich kann nicht«, sagt Jenna. Sie bemüht sich um einen entschuldigenden Ton. »Chet und ich und alle anderen – wir gehen ins Kino.«
»Wann?«, fragt Dad.
»Um acht.«
»Jetzt ist es erst fünf. Du kannst mit uns essen gehen und danach ins Kino.«
Jennas Mund steht offen. »Ich ganz allein? Ich kann dort nicht allein aufkreuzen. Das ist unmöglich. Was ist, wenn sie zu spät dran sind und ich dort ganz allein sitz und wie ein Versager ausseh, wie …«
Cameron, mein Bruder, der Depp.
»Und übrigens, Lisa und Tonya holen mich um sechs ab. Wir wollen mit den Jungs erst ne Pizza essen gehn.«
»Brauchst du Geld?«, fragt Mom.
»Wozu denn das?«, blaffe ich dazwischen. »Sie isst doch eigentlich nichts. Und für eine Diätlimo hat sie sicher genug Kleingeld.«
Jenna blitzt mich an.
»Gut. Beruhigt euch. Dann sind wir also schätzungsweise nur drei.«
»Ich hab keinen Hunger«, sage ich.
»Würde es dich umbringen, ein bisschen Zeit im Kreis deiner Familie zu verbringen, Cameron?«
Ich weiß nicht. Würde es dich umbringen, die fiese Affäre mit deiner Assistentin zu beenden? Warum gibst du nicht zu, dass das der wahre Grund für diese plötzliche Familienkonferenz ist? Den ganzen letzten Monat bist du jeden Abend spät nach Hause gekommen. Hat Raina jetzt etwa Urlaub?
Ich könnte das laut sagen, aber ich tu’s nicht.
»Ich bin mit dem Lesen für Spanglisch ziemlich hinterher. Dieser Don Quijote ist wirklich ein lustiger Kerl. Keine Minute ist da beim Lesen verschwendet.«
»Ihr lest Don Quijote?«, fragt Mutter. »Wusstest du, dass Cervantes als erster Romanschreiber der Neuzeit gilt?«
»Nein. Toll! Gut. Ich mach mich jetzt mal besser dran.« Ich verschwinde nach oben, kann die beiden aber noch in der Küche streiten hören.
»Also, möchtest du zu Luigi’s?«, fragt Dad und seine Stimme klingt ärgerlich.
»Wie du willst«, antwortet Mom.
»Wir könnten Sushi essen gehen.«
»Das wär schön. Dann könnte ich nur einen Salat bestellen.«
»Mary, wenn du keine Sushi möchtest, dann sag es einfach.«
»Nein, nein, ist schon gut. Du weißt doch, ich hasse es, mich zu entscheiden.«
Ich weiß, wie ihr Abend verlaufen wird: wie die Wiederholung einer Show, die du schon tausend Mal gesehen hast. Am Ende landen sie immer bei Luigi’s, wo Dad Hof halten und den großen Macker spielen kann und Mom mit der Entscheidung kämpft, was sie nehmen soll, bis Dad etwas für sie bestellt, was sie nicht mag, sie dann im Essen herumstochert und ihn schließlich auf hundertachtzig bringt. Dann murmelt Dad irgendetwas von dass sie nichts essen müsse, wenn es ihr nicht schmecke, und Mom kontert mit einer großen Show, indem sie einen Bissen kostet und sagt, nein, nein, es schmecke ihr, aber nach all dem sei ihr der Appetit vergangen. Sie werden ihren Gesprächsstoff ausgereizt haben – seine Arbeit, ihre Arbeit, uns Kinder –, bevor die Vorspeise serviert wird, und für den Rest der Mahlzeit werden sie in Schweigen verfallen. Dabei suchen ihre Blicke Bekannte, die an ihren Tisch kommen, um sich vor dem jeweils anderen retten zu lassen.
Ja. Ich denke, darauf kann ich dankend verzichten. Aber offensichtlich sieht Dad das anders. Er klopft an meine Tür und öffnet sie gleichzeitig – eine Gewohnheit, die ich mehr als ärgerlich finde. Ist doch wahr, warum klopft er dann überhaupt?
»Cameron, zieh dich an. Wir gehen alle zu Luigi’s.«
»Ich dachte, Jenna hat was vor«, stottere ich. »Wenn Jenna nicht mitkommt, sollte ich auch davon befreit werden.«
»Es geht um die Familie«, sagt Dad. »Niemand wird hier freigestellt.«
Luigi’s wirbt damit, ein Ort »für Familien und Freunde« zu sein. Es fällt mir schwer, beides im selben Satz zusammenzubringen. Luigi ist ein ganz netter Kerl – untersetzt, Glatzkopf, stammt aus New Jersey. Seine Frau Peri ist eine blonde Amazone und spricht einen breiten Slang. Anders als meine Eltern sind Luigi und Peri wirklich ein Pärchen und verrückt aufeinander, und ich frage mich: Warum ist das so, dass die einen verliebt bleiben und die anderen nicht.
»Hallo zusammen! Willkommen bei Luigi’s«, sagt Peri und begrüßt uns bereits an der Eingangstür mit laminierten Speisekarten.
»Hallo, Peri. Seit wann beginnt Ihre Arbeit denn an der Tür?«, scherzt Dad und lässt seinen Charme sprühen.
Peri lacht. »Ich weiß! Könn’ Sie’s glauben, dass mich Lou endlich Hostess spielen lässt? ’n ganzes Jahr hab ich drum gebettelt. Hat mich sogar ne Prüfung machen lassen und so’n Zeugs. Könn’se sich das vorstellen?«
»Das war die einzige Möglichkeit, mit dir mehr Zeit zu verbringen«, sagt Luigi und küsst ihre Wange.
Peri strahlt. »Immer noch der alte Romantiker.«
»Lassen Sie sich’s schmecken«, sagt Luigi.
Peri führt uns hinter die Trompe-l’œil-Wand, die eine italienische Gartenlandschaft zeigt. Die rot-weiß karierten Tischdeckchen sind mit Nelken geschmückt und mit übervollen Körbchen mit Knabbergebäck. Peri platziert uns an einem Tisch direkt neben dem offenen Kamin mit künstlichen Flammen, die so bizarr blauorange flackern, dass sie nicht mal vortäuschen, echt zu sein.
»Ist das nicht nett?«, sagt Dad, öffnet seine Speisekarte und verdrängt uns irgendwie. Mom macht es ihm nach. Jenna sieht miserabel aus, aber sie ist zu sehr das brave Mädchen, als dass sie Dad zu enttäuschen wagt. Deshalb hat sie klein beigegeben. Ich wollte, ich hätte vorher Zeit genug für einen Joint gehabt, damit ich das alles wenigstens irgendwie amüsant finden könnte.
»Wer hat uns was Schönes zu erzählen?«, sagt Dad, nachdem wir bestellt haben und die Knabberzeugkörbchen geplündert sind. Wir brauchen alle etwas zum Kauen, damit das, was uns auf der Zunge brennt, nicht versehentlich aus unseren Mündern springt.
»Ich hab was«, sagt Jenna und lächelt wie bestellt. »Ihr wisst, dass die Frühlingsferien vor der Tür stehen? Und ihr wisst doch, ich wollte immer so gerne Skifahren lernen? Also gut, Chets Kirchengruppe hat einen Skikurs organisiert und sie haben extra einen Platz für mich reserviert.«
»Kirchengruppe?«, sagt Dad.
»Ich weiß nicht, mein Liebling«, fährt Mom dazwischen. »Skifahren ist sehr teuer.«
»So viel wird’s nicht werden. Sie übernehmen einen großen Teil und ich kann ja was von meinen Ersparnissen dazulegen …«
Ooooh, schlechter Schachzug, Jen. Zu erwähnen, dass man die Rücklagen fürs College für irgendwas anderes verwendet als den edlen Zweck, gibt automatisch die Rote Karte – aber danke, dass du mitgespielt hast.
Dad setzt sein Oh-du-dummes-Mädchen-Lächeln auf und will damit zeigen, was er für ein grundgütiger Mensch ist. Aber da ihm jede Grundgüte fehlt, kommt das meist ziemlich fies rüber. »Diese Ersparnisse sind fürs College.«
»Dad«, sagt Jenna, schnauft tief und richtet die Augen zur Decke.
»Nein. Du kennst die Abmachung, mein Liebling.«
»Nie darf ich was.«
»Du kannst meine Ersparnisse haben«, sage ich und beiße in ein mit Butter bestrichenes Zwiebelbrot. »Ich glaub nicht, dass mich irgendein College nehmen wird.«
Dad unterdrückt einen Seufzer und versucht zu lächeln. »Also, wir werden uns diesen Sommer den Zulassungstests widmen. Auf die Weise wirst du auf das vorbereitet sein, was nächstes Jahr auf dich zukommt.«
»Die Hoffnung stirbt zuletzt«, sage ich und drücke die Daumen.
»GutgesachtgutgebelltheppheppfürnDepp«, stimmt Jenna den Singsang an, der einmal unsere ganz persönliche Zwillingssprache war. Damals, als wir noch befreundet waren.
Mein Vater nimmt einen Schluck Scotch. »Das hat nichts mit Hoffnung zu tun, Cameron. Das ist harte Arbeit. Wenn Wünsche auf Bäumen wachsen würden, wären wir alle reich.«
»Das ergibt keinen Sinn, Dad.«
»Genauso wenig, wie jemand mit deinem IQ an der Highschool scheitert«, sagt er, und das klingt gar nicht eingebildet. Er sieht wirklich gequält aus.
»Hab ich euch erzählt, dass ich im nächsten Semester einen Kurs über die Jüngere und die Ältere Edda gebe?«, sagt Mom und versucht damit, das Thema zu wechseln. »Könnt ihr euch dran erinnern, wie sehr ihr Kinder diese Wikingersagen geliebt habt, als ihr klein wart? Odin und Freya, Balder und Frigg.«
Dads Augen ruhen noch auf mir, wie auf etwas, aus dem er keine Formel ableiten kann. »Ich weiß, Cameron, du willst, dass ich dich aufgebe. Aber so bin ich nun mal nicht gestrickt.«
Ich könnte Danke sagen. Das Wort liegt schon auf meiner Zunge. Aber offensichtlich bin ich nun mal nicht so gestrickt. Er kümmert sich um mich und dann dreht er mir wieder seinen Rücken zu.
»Kannst du mir das Salz rüberreichen?«, sage ich, und dann bestreue ich meine Spaghetti mit Salz, obwohl das wirklich nicht nötig ist.
Nach dem Essen bummeln wir durch die Einkaufsstraße. Die Läden werden bald schließen. Die Leute erledigen die letzten Einkäufe. Mom und Jenna gehen in den Buchladen, Dad steuert das Sportschuhgeschäft drei Türen weiter an. Ich stehe auf dem Gehweg rum. Am Horizont zucken Blitze wie kosmische Morsecodes. Flack-flack-flamm.
Ein obdachloser Alter mit einem Hut aus Stanniolpapier auf dem Kopf schiebt einen quietschenden Einkaufswagen über die fast leere Parkfläche und sammelt herumliegende Dosen ein. Er bleibt vor mir stehen und nickt Richtung Himmel.
»Da braut sich was zusammen. Spürstes nich?«
»Regen«, antworte ich.
»No, Sir. Viel mehr als Regen.« Er zeigt auf seinen Hut. »Besser, du trägst so’n Ding.«
»Das werd ich.«
»Die Welt geht zum Teufel. Das Ende naht.« Er zeigt noch einmal auf seinen Hut. »Besorg dir so einen.«
Er angelt eine flach gedrückte Limodose unter einem Gulligitter hervor. Ein Lastwagen rauscht vorbei, die Strahlen seiner Scheinwerfer stoßen gegen die Finsternis. Der Wind dreht und trägt einen schwachen Geruch von Rauch mit sich. Der Alte schiebt seinen Karren den Gehweg entlang und die Räder quietschen in einem fort.