KAPITEL DREIUNDDREISSIG

In dem ich eine notwendige Rolle spiele

 

Ich weiß nicht, wie lange ich mit Dulcie zusammensitze. Hier unter dem Wunschbaum scheint die Zeit dehnbar zu sein. Wir machen Scharaden – eine gute Übung in total unverständlicher und unfreiwilliger Komik. Meistens hüpft Dulcie auf und nieder und wirbelt herum und zieht Grimassen, was – wie ich feststellen muss – für alles stehen kann, von der bolschewistischen Revolution bis zum Polarlicht. Vom vielen Lachen fühlt sich mein Körper ganz leicht und entspannt an. Ein paar Schritte von mir entfernt torkelt Dulcie umher wie eine Katze, der irgendwas an den Schwanz gebunden wurde.

»Ne besoffene Ballerina!«, rufe ich, und sie rollt mit den Augen. »Ein Kugelfisch in der Todesspirale! Der Grund, warum Dinos aussterben mussten!«

Sie hält inne, stemmt die Hände in die Hüften und bläst sich eine Haarlocke aus der Stirn. »Sternschnuppe!«

»Wow. Von Amts wegen bist du bei dem Spiel ’n Versager. Ich hab gerade nen Engel besiegt. Los, ich bin dran!«

Zwei der Blätter fallen zu Boden. Die Ränder rollen sich zusammen und das Papier zerbröselt.

»Was ist da passiert?«, frage ich.

Dulcie lässt sich neben mir auf den Boden plumpsen. »Diese Wünsche sind in Erfüllung gegangen. So ungefähr.«

Da gibt es was, das mich die ganze Zeit beunruhigt.

»Dulcie …«, fange ich an. »Was passiert eigentlich, wenn ich Dr. X gefunden habe, wenn er mich geheilt hat und das Wurmloch geschlossen ist?«

Ihre Augen sind geschlossen, den Kopf hat sie nach hinten geneigt. »Die Welt ist gerettet und du bist geheilt. Heißaaah!«

»Ja, ich weiß. Aber, äh, was passiert mit dir? Bleibst du hier, oder gehst du wieder dorthin, wo du herkommst, wo immer das auch ist? Werd ich dich jemals wiedersehn?«

Sie springt plötzlich auf. »Hey, willste sehn, wie ich so tu, als ob ich ne Eisskulptur bin? Das kann ich wirklich gut. Pass auf.« Sie steht absolut still, Hände aneinandergepresst, linker Fuß an der Innenseite des rechten Knies. »Du musst dir den Kaviar vorstellen, in kleinen Schüsseln um meinen Fuß drapiert.«

»Du weichst meiner Frage aus.«

»Nein«, sagt sie und beendet ihre Pose. »Ich weiche der Antwort aus.«

»Ich wollte ja nur wissen, was als Nächstes passiert«, sage ich.

»Ihr Menschen bringt mich noch um«, sagt sie lachend, mit einem scharfen Unterton in der Stimme. »Immer in Sorge, ›Was wird passieren? Was kommt als Nächstes?‹. Immer seid ihr irgendwo, nur nicht da, wo ihr wirklich gerade seid. Ihr versteht das einfach nicht.«

»Verstehen was nicht?«

»Hier. Jetzt. Das.« Sie macht eine ausladende Handbewegung und dreht sich im Kreis. »Das ist es, Cowboy, die ganze Fahrt. Sei aufmerksam!«

»Danke dafür, dass du mich mit deiner fortgeschrittenen Engelsweisheit erleuchtest«, schieße ich zurück.

»Immer zur Stelle, wenn’s denn sein muss«, sagt sie ohne eine Spur von Sarkasmus.

Es fängt wieder an zu tröpfeln. Von einem Augenblick zum andern hat sich Dulcie auf einen Ast über mir geschwungen und hält mit einem Flügel den Regen von mir ab.

»Hübscher Regenschirm«, sage ich.

»Wie ich schon sagte: Immer zur Stelle, wenn’s denn sein muss.«

 

Meine Träume verschwimmen ineinander wie die Bilder eines Kaleidoskops. Ich liege im Bett und höre dem Surren des Beatmungsgerätes zu, während Glory irgendetwas auf meinem Krankenblatt notiert. Dann bin ich in diesem Haus am Meer und lausche der Brandung der Flut, während die alte Dame ihre Lilien in einer Vase arrangiert. Im Krankenhauszimmer läuft der Fernseher, Parker Day moderiert gerade eine Spielshow, Mom und Dad aber sitzen da und lesen. Dann wieder das Haus der alten Dame, eine geschlossene Tür. »Willst du mal reingucken?«, fragt sie und hat die Hand bereits am abgewetzten Türknopf. Ich schüttle den Kopf. Sie lächelt, nimmt ihre Hand weg. »Ein andermal.«

Dulcie ist bei mir. Ich kann nicht hören, was ich gesagt habe, aber sie lacht. Sie ist einfach wundervoll.

Etwas läuft schief. Der Große Abrechner greift nach mir. Dulcie streckt mir ihre Hände entgegen, aber ich kann sie nicht fassen. Am Himmel öffnet sich ein schwarzes Loch und zieht mich hinein.

Die Feuerriesen legen alles in Schutt und Asche, was ihnen im Weg ist. Dann reißen sie ein letztes Mal ihre Mäuler auf und pusten, bis mich die Flammen verschlungen haben.

Als ich aufwache, sehe ich die Bäume über mir, windstill und leise. Die Luft ist voll von süßem Kiefernduft. Dulcie ist verschwunden. Auf meinem Oberschenkel liegt eine Feder. Auf ihr findet sich keine Botschaft. Sie ist weiß und jung wie frischer Schnee. Ich halte sie vor meine Nase und atme ihren Duft ein.

 

Als ich zum Caddy zurückkehre, hat es aufgehört zu regnen. Gonzo und Balder sind immer noch im Tiefschlaf und schnarchen vor sich hin. Der alte Mann sitzt in seinem Schaukelstuhl auf der Veranda und ruft mich. »Hab dein’ Wagen wieder flottgemacht. Muss jezz ’n büschen verschnaufn.«

»Danke schön. Äh, wie viel …?«

»Vergisses, junger Mann. Hab was, was du brauchst. Komm ma rein hier.«

Er humpelt in den Laden und der Stuhl schaukelt allein weiter. Mir bleibt nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Eine zentimeterdicke Staubschicht liegt auf den Oberflächen. Die Wände sind mit Schubkästen und Kisten vollgestellt, die nicht zueinander passen. Über jedem einzelnen Behältnis ist ein Schild angebracht, auf dem steht NEU oder GEBRAUCHT oder, noch geheimnisvoller, NOTWENDIG. Der alte Mann schlurft an den Sachen vorbei, schaut sich die Aufschriften genau an und sucht etwas. Gelegentlich murmelt er vor sich hin – »hmmm« oder »neinnein« oder einmal ein verärgertes »Nein, das isses auch nich«.

Die Sonne bricht hinter den Wolken hervor. Durch das Fenster dringen Strahlen in den dunklen Gang und beleuchten die wirbelnden Staubpartikelchen. In diesem zauberhaften Licht glitzern sie so, als ob sie aufwärtsschweben und sich zusammentun, um ihre eigene klitzekleine Milchstraße zu erschaffen. Der Staub bewegt sich so, als hätte er eine Absicht – ein Ziel, auf das er zustrebt.

»Da hammers ja«, sagt der alte Mann. Er steht vor einem Kasten karteikartengroßer Schubladen mit winzigen Griffen. Auf dem Schild darüber steht NOTWENDIG. Seine knorrigen Finger streifen von Lade zu Lade, bis er schließlich die eine findet, die er sucht.

»Umm-hmm. Ummm-hmmm«, murmelt er, öffnet die Schublade und späht hinein. Er zieht eine lange angerostete Schraube hervor. »Das Zeugs taucht immer irgendwie auf, wenn du’s brauchst«, sagt er in seiner langsamen, schleppenden Art. Er humpelt zur Ladentheke rüber, nimmt einen Putzlumpen und gibt ein bisschen Schmierfett aufs Schraubengewinde. »Haste schon ma was vonner Zauberschraube gehört?«

Ich verkneife mir ein Lachen. »Nein. Nein, Sir.«

»Jeeenuuun, du siehst grad eine. Das kleine Ding hat das Zeug dazu, ’n Leben zu verändern.« Er hält die Schraube ins Licht, um sie zu untersuchen. »Ganz gut beinander.«

Das Ding sieht aus wie eine Einladung zum Wundstarrkrampf. Todsicher hat es nichts Magisches an sich.

»Streck ma die Hand aus, Junge«, sagt er.

Oh, verdammt, wie bin ich nur in diese Scheiße geraten? Werde ich blutend auf einer Trage enden, während freundliche Krankenschwestern die Köpfe schütteln und gackern? »Oh ja, das war Pops der Pfähler. Wir wissen alles über ihn.« Ist der Alte einer dieser kranken Typen mit einem Keller voller eingezogener Zwischendecken und in Gurkengläsern eingelegter menschlicher Organe? Seine Brillengläser lassen die Augen riesig erscheinen, wie die eines Urzeitinsekts.

»Warum?«

»Wennde die Hand nich ausstreckst, wirste es nich rausfindn.« Er klingt nicht ärgerlich oder ungeduldig, einfach nur sachlich.

Langsam strecke ich meine Hand aus und öffne sie.

»Und jezz mach die Augen zuuu«, sagt er und zieht die Worte lang.

Meine Hand schnellt zurück. »Augen zu? Warum?«

»Funktioniert nich, wennde se nich zumachst. So isses nu ma.«

Genau. Es wäre für dich viel einfacher, diese Schraube in meinen Schädel zu bohren, wenn ich auch noch die Augen schließen würde. Meine Füße legen den Rückwärtsgang ein. »Das war wirklich sehr nett von Ihnen, aber ich sollte jetzt wohl losfahren …«

Pops schüttelt den Kopf. »Wennde den Leuten nich ’n büschen vertraust, Junge, wie willstn je hinkomm, wode hinmusst?«

»Hören Sie, Mister, ist nicht bös gemeint, aber ich kenn Sie nicht …«

»Ohne Scheiß, Junge. Auch ich kenn dich nich.« Er reibt mit dem Lappen noch mal über die Schraube. »Drum nennt man’s Vertrauen. Also, biste jezz dabei oder nich?«

Ich sollte einfach rausgehen, in den Wagen steigen und zurück auf die Straße fahren, anstatt mit einem alten Knacker in einem heruntergekommenen Eisenwarenladen über den Sinn von Vertrauen zu debattieren. Aber dann denke ich an das Federsymbol auf dem Wegweiser. Ich gehe wieder auf den Mann zu, strecke noch einmal den Arm aus, schließe die Augen, und Pops legt mir die Schraube behutsam in die offene Hand. Dann schließt er seine Hand um meine. Seine Haut fühlt sich ledrig und warm an. Er murmelt etwas vor sich hin – ich weiß nicht, was. Das Gemurmel hört auf.

»Das ist ein notwendiges Teilchen deines Schicksals. Jetzt liegt es in deiner Hand. Geh sorgsam damit um, mein Sohn. Kannst die Augen wieder aufmachn.«

Ich tue, was er sagt. Der alte Mann ist verschwunden und in meiner Hand liegt eine alte Schraube. Sie glänzt nicht, sie glitzert nicht und macht auch keinen seltsamen Firlefanz. Ich verstehe nicht, wie das ein notwendiges Teilchen von irgendwas sein kann, außer vielleicht von einem Bücherregal oder einem CD-Ständer.

Zeichen. Zufälliges Zusammentreffen. Vertrauen.

Ich stecke die Schraube in die Hosentasche und gehe raus zum Wagen.