KAPITEL ACHTUNDVIERZIG

In dem der Kojote und der Roadrunner wieder mal ihr Spielchen spielen

 

»Siehst du ihn noch?«

»Ja. Er ist vier Wagen vor uns«, antwortet Gonzo. »Alter, sollten wir uns nicht um Dr. X kümmern und um deine Heilung?«

»Geht nicht«, sage ich. »Was soll das heißen?«

»Ich kümmere mich um Dulcie.«

»Cameron, das ist Wahnsinn!«

»Behalt einfach nur diesen Lkw im Auge.«

Eine Stunde lang fahren wir und schweigen. Kein Gespräch. Keine Musik. Nichts als das weiße Rauschen des Asphalts unter den Rädern. Die Straße scheint in der Nachmittagssonne zu schwanken. Kleine Wellen durchsichtiger Hitzeschlieren tanzen vor mir und bringen alles zum Flimmern. In der Erwartung, Balder auf dem Rücksitz zu sehen, schaue ich immer wieder in den Spiegel. Die Leere bedrückt mich, genauso wie das letzte Bild, das mir von Dulcie im Gedächtnis bleibt. Die Straßenschilder verschwimmen zu großen grün und weiß reflektierenden Farbklecksen, die meinen Augen wehtun. Manchmal sehe ich am Straßenrand Erscheinungen: Mom und Dad, wie sie sich gegenseitig festhalten. Balder, wie er durchs Gras auf eine schimmernde Halle zuläuft. Glory, wie sie den Beutel am Infusionsständer austauscht. Die alte Lady mit ihrer Gartenschere. Sie winkt mir zu. Der Kojote. Der Roadrunner. Die Copenhagen Interpretation, wie sie mit dem Calabi Yau Ball spielen. Aber ich sehe Dulcie nicht, egal wie intensiv ich sie mir herbeiwünsche.

Der Caddy schert über die Mittellinie aus und gerät beinahe unter einen großen Lastwagen, aber das Hupen des Fahrers bringt mich mit einem Ruck wieder in die richtige Spur.

»Heilige Scheiße«, sagt Gonzo und legt die Hände aufs Armaturenbrett.

»’tschuldigung«, sage ich. Ich ziehe den Wagen rüber auf den Seitenstreifen und lege meinen Kopf aufs Lenkrad. Mir ist ganz klamm und meine Muskeln tun weh.

»Bist du okay?«, fragt Gonzo.

»Ja«, lüge ich.

VSG 3111 setzt den Blinker, fährt rechts raus und hält an einem Freedom Waffles-Diner. An einem Schotterweg rechts vom Lokal befindet sich ein Schrottplatz. Ich parke neben dem Maschendrahtzaun und den haushohen Altreifentürmen und schalte den Motor ab.

»Kannst du Wache halten?«, frage ich, und dann erinnere ich mich daran, wie Gonzo uns hat stranden lassen, damals, als er nicht auf den Bus aufpasste. Das scheint Jahre zurückzuliegen. »Vergiss es. Ich werd selbst ein Auge drauf werfen.«

»Nein, Mann. Ist schon okay. Schlaf ein bisschen. Ich bin dran.« Und ich weiß, dass ich ihm vertrauen kann.

»Danke. Für alles, weißt du. Du bist der Beste«, sage ich.

Gonzo grinst. »Ja, nun. Das kriegst du halt, wenn du einen Zwerg des Schicksal anheuerst, cabrón

Ich klettere auf den Rücksitz, schließe die Augen und schlafe ein.

 

Ich bin ein Roadrunner. Ich schaue an mir herunter und sehe diese großen Vogelfüße. Ab da weiß ich, dass ich träume. Ich stehe mitten in einer Trickfilmwüstenlandschaft. Um mich herum alles zweidimensional. Über meinem Kopf keinerlei Amboss. Und keine falschen Löcher in der Kulisse. Keine mit einem Zünder verbundene Bombe. Nichts dergleichen. Ich bin hier draußen ganz alleine. Nur ich. Und dann sehe ich den Kojoten. Er sitzt in einem Sessel, schaut fern, und seine Pfote liegt in einer großen Schüssel Popcorn, als ob ihm alles schnurzegal ist. Zuerst vermute ich eine Falle, aber dann wird mir bewusst, dass er wirklich kein Interesse hat, mich zu jagen. Ich sage »Miepmiep« und er zappt sich mit seiner Fernbedienung weiter durchs Programm. Schließlich gebe ich es auf und hüpfe zu ihm rüber.

»Willst du mich nicht jagen?«, frage ich.

Er schaut mich an. Seine gelben Augen wirken müde. »Warum sollte ich?«

Dazu fällt mir nichts ein. »Ich weiß nicht«, sage ich und setze mich auf den Sesselrand. »Weil es das ist, was wir immer tun.«

»Hä?«, antwortet er und bietet mir Popcorn an. Ich picke in der Schüssel herum, weil ich ja jetzt ein Vogel bin.

Wir sitzen da und gucken Cartoons. Ein Steppenroller weht vorüber. Es ist wirklich nur ein Haufen wilder Bleistiftstriche, die so aussehen sollen, als ob sich was bewegt – eine Illusion. Vermutlich ist das, was wir hier machen, ganz nett, eigentlich jedoch will ich rennen. Wenn mich der Kojote aber nicht jagt, gibt es auch keinen Grund, loszurennen. Erst das Wissen, dass er mich fangen will, setzt meine Glieder in Bewegung; und ihn reizt es, mich zu verfolgen, weil er weiß, dass ich ihm immer ein Stückchen voraus bin. Ohne den anderen können wir wirklich nicht leben. So läuft das.

»Mach schon«, flüstere ich mit meiner Vogelstimme, »jag hinter mir her. Nur noch einmal.«

 

»Aufwachen, Alter, aufwachen!« Gonzos Gesicht rückt über mir ins Blickfeld. »Es tut sich was.«

Ich wische mir den Schlaf aus den Augen. Durch die Windschutzscheibe sehe ich, wie Mitarbeiter #457 und #458 den Laderaum ihres Lkws öffnen und einen Karton auf eine Sackkarre hieven. Zwei Minuten später kommen die beiden mit der leeren Karre aus dem Diner, steigen ins Führerhaus und kehren auf die Interstate zurück.

»Folgen wir ihnen, Alter?«, fragt Gonzo.

»Wir müssen zuerst das Diner checken«, sage ich und gehe auf die Tür zu. Meine Beine werden wirklich immer steifer.

Eine strahlende, fröhlich lächelnde Hostess begrüßt uns an der Tür und hat ein paar Speisekarten in der Größe von Atlanten in der Hand. »Frühstück gefällig? Möchtet ihr einen Raucher- oder einen Nichtrauchertisch?«

»Tut mir leid«, sage ich. »Wir sind ziemlich in Eile. Wir sind nur da wegen der Schneekugeln, die gerade geliefert wurden. Könnten wir den Karton bitte überprüfen?«

Ihr Daumen schwebt über dem Alarmknopf neben der Kasse. Buddha Burger hat auch so einen. »Bevor die Schneekugeln nicht inventarisiert sind, lassen wir sie von niemandem einfach so überprüfen.«

»Inventarisiert?« Gonzo formt das Wort mit den Lippen.

Die Botschaft ist angekommen. Aber ich muss wissen, ob Dulcie in diesem Karton ist. »Tut mir leid. Ich komme von der Qualitätskontrolle. Es könnte sein, dass Sie eine unserer verunreinigten Lieferungen erhalten haben.«

»Verunreinigt?«, wiederholt die Bedienung und ihr Lächeln ist verschwunden. »Was heißt das?«

»Mit der Lieferung könnte etwas nicht in Ordnung sein, wirklich nicht in Ordnung. Nicht in Ordnung im Sinne von gifthaltig.«

Sie hält die Hand vor den Mund. »Ohmeingott. Dann rufen wir lieber die Polizei.«

»Nein!«, sage ich, zu schnell.

Die Bedienung kneift ihre Augen zusammen. Sie sieht mich an, dann Gonzo, dann wieder mich. »Ist das eine Art Streich? Seid ihr von einer Studentenverbindung?«

Ich grinse. »Du hast uns überführt. Es ist ein Streich« – ich werfe einen heimlichen Blick auf ihr Namensschildchen –, »Freedom LaToya. Tatsächlich casten wir für eine neue Reality-TV-Show.

Freedom LaToyas Augen werden sehr groß. »Ist das wahr?«

»Und ob! Eigentlich sollte ich dir das nicht verraten, aber …« Ich ziehe eine Schau ab, recke den Hals und blicke nach links und nach rechts. »Das Ganze spielt in einem Restaurant, und es geht darum, die perfekte Hostess zu finden. Die Show heißt nämlich The Hostess. Die Vereinigten Schneekugel-Großhändler sind der Sponsor. Du wärst eine großartige Kandidatin, weißt du. Ich werde das unsere Geldgeber wissen lassen.«

»Wow. Danke. Fernsehen. Oh, wow!«

»Ja. Aber wir müssen ein paar Filmaufnahmen von mir machen, wie ich den Karton durchsehe. Für die Show.«

»Oh, natürlich. Also, kommt mit!«

Freedom LaToya führt uns zum Lagerraum. »Dann lass ich euch mal machen.«

»Prima. Danke.«

Wir schneiden das Klebeband durch, öffnen den Karton und lösen die Luftpolsterfolie von allen zehn Schneekugeln. In keiner von ihnen ist Dulcie.

»Los!«, rufe ich und renne zum Wagen.

»Das war stark, Alter!«, sagt Gonzo und legt den Sicherheitsgurt an. »Wie kommst du nur auf so was Bescheuertes wie eine Realityshow über Restauranthostessen?«

Ich lasse den Motor aufheulen. »Das willst du gar nicht wissen.«

 

Ungefähr zehn Minuten fahren wir wie ein geölter Blitz, dann ist der Lkw wieder in Sichtweite. Wir verfolgen ihn zu jedem Lieferpunkt – Tankstellen, Restaurants, Souvenirshops, Kirchen –, bis es am späten Nachmittag unserer Rosinante zu viel wird und sie wieder diesen beißenden Ölgeruch absondert. Scheiße. Reiß dich zusammen, alte Freundin. Das könnte ich genauso gut zu mir selbst sagen. Die Zuckungen sind wieder da, und ich weiß wirklich nicht, wie lange ich das Steuer noch halten kann, bevor meine Hände einen Breakdance beginnen. Wir passieren grünweiße Hinweistafeln, die uns sagen, wo wir sind und worauf wir zusteuern.

ORLANDO. INTERSTATE 4. NORTH EXIT 62. OSCEOLA PKWY.

Die grünen Rastalocken der Palmen tanzen im Wind. Straßenlampen recken die Hälse über den Asphalt wie Flamingos aus Metall.

536 EAST. TO INTERNATIONAL DR S. LAKE BUENA VISTA. CENTRAL FLORIDA PKWY. Die Farbe der Hinweisschilder wechselt von grün-weiß zu blau-rot. MAGIC KINGDOM. WORLD DRIVE. Weiter vorne steht ein riesiger Torbogen, an dem die beliebteste Maus der Welt befestigt ist.

»Nee, ne!«, ruft Gonzo, als der Lkw darauf zusteuert.

Jede Zelle meines Körpers befindet sich in höchster Alarmbereitschaft.

»Willkommen in Disney World«, sage ich.