In dem ich von den unsagbaren Freuden der Kernspintomografie erzähle und vom hinten offenen Krankenhaushemd
»Okay, Cameron, halt nur für eine Sekunde still.«
Ich liege auf dem Förderband eines Kernspintomografen und spüre, wie der kalte Edelstahlboden gegen meinen Arsch drückt. Sie haben mir dieses lächerliche, hinten offene Krankenhaushemd angezogen, von dem ich schwören könnte, dass es aus Seidenpapier gemacht ist. Meine Pobacken sind arschkalt. Die Socken darf ich anbehalten, vermutlich weil sie glauben, dass ich mich dadurch besser fühle.
Das ist der dritte Arztbesuch in vier Tagen. Fragen wurden gestellt, Blut abgenommen, die Reflexe überprüft, Kernspintomografien ausgewertet und eine Biopsie ins Labor geschickt. Ich wurde in Körperteile gestoßen und gestochen, die ich bisher stolz für diese ganz spezielle Ärztin aufgehoben habe, die mir eines Tages einen Ring und ein Versprechen geben würde. »Wir wollen nur ein paar Dinge ausschließen.« Das sagen sie alle – der Ärztecode für »Gehirntumor/Krebs/Meningitis, die TV-Filmkrankheit der Woche«.
Das Förderband zieht mich durch den Metallring, bis ich fast ganz in der Röhre stecke. Mein Körper zittert, und ich weiß nicht, ob das etwas mit meiner Was-auch-immer-Krankheit zu tun hat oder damit, dass ich seit Stunden nahezu nackt bin. Die körperlose Stimme vom MRT-Kontrollstand hallt in der Röhre nach. »Du musst absolut still liegen, Cameron, okay?«
»Okay«, antworte ich, aber meine Stimme bleibt schon an der Metallverkleidung über meinem Kopf hängen.
Das Ding setzt sich in Gang und macht ein paar Schnappschüsse fürs Fotoalbum irgendeines Doktors. Niemand hat mich vor den Geräuschen gewarnt. Kerrtschang-kerrtschang-kerrtschang – wie ein gigantischer Tacker, der mir über den Schädel fährt. Scheiße. Ich kann es nicht erwarten, aus dem Ding rauszukommen. Nach einer halben Ewigkeit kommt ein Assistent und zieht die Infusionsnadel aus meinem Arm.
»Das war’s«, sagt er. »Du kannst dich anziehen.«
Ich sitze auf meinem Bett und lese Don Quijote, als Dad nach Hause kommt. Er klopft und tritt ein, ohne meine Antwort abzuwarten.
»Hey, Kumpel.« Das letzte Mal hat mich Dad Kumpel genannt, als ich acht war und die Masern hatte.
Ich gucke kurz hoch. »Hey.«
»Wie fühlst du dich?«
»Okay.«
»Ja?« Er fragt, als ob er es wirklich wissen will.
»Ja. Ähm. Okay.«
»Gut.« Er nickt, nimmt eine Great Tremolo-LP in die Hand und tut so, als ob er den Covertext liest. »Ist der Typ gut?«
Ich zucke mit den Schultern.
»Deine Mutter hat mir von dem, äh, dem Arztbesuch erzählt. Ich schwör dir, diese Kerle können ihren Arsch nicht von ihrem Ellbogen unterscheiden. Egal, Stan aus meinem Büro – du kennst Stan Olsen? –, er hat mir die Nummer eines Spezialisten in Dallas gegeben. Ich hab einen Termin für Dienstag ausgemacht.«
»Okay.«
»Ich bin sicher, es ist nichts, Cam. Viren können alle möglichen Dinge vortäuschen. Wahrscheinlich wird uns der Arzt rausschmeißen, weil wir seine Zeit verschwenden.« Dad legt die Great Tremolo-LP aus der Hand. Er betrachtet den von Müll übersäten Fußboden, ganz so, als ob eigentlich der ihm Schmerzen bereitet, aber er räuspert sich nur. »Was hast du gesehen, Cameron, als der Toaster Feuer fing? Deine Mutter hat irgendetwas von Feuerriesen gesagt.«
»Ich glaub, mir ging’s einfach nicht gut.«
Dad denkt kurz nach und nickt. »Wenn wir schon von Feuer sprechen, vielleicht mach ich uns heute Abend eins. Wir könnten Marshmallows grillen und uns einen Film ansehen.«
Es scheint mir nicht der richtige Zeitpunkt zu sein, ihn darauf hinzuweisen, dass wir draußen fünfzehn Grad haben. Nicht gerade ein kuscheliges Lagerfeuerwetter. »Klar.«
»Gut. Also. Ich werde, äh, mal eben … ein bisschen Holz hacken. Okay, Kumpel?«
Ich höre, wie sich die Schiebetür zum Garten öffnet und schließt. Als ich aus dem Fenster gucke, steht Dad unten, Hände in den Hüften, und schaut sich um, als ob er unseren Garten noch nie wirklich gesehen hat. Er nimmt die Axt und haut mit halbherzigem Schwung auf einen mickrigen Holzklotz ein. Dann fällt er auf die Knie und schließt eine Minute lang seine Augen. Ich könnte fast schwören, dass er betet. Aber mein Vater ist ein Wissenschaftler. Er ist kein gläubiger Mensch. Er springt wieder hoch und haut mit ganzer Kraft auf den Klotz, immer und immer wieder, bis nichts übrig bleibt als ein Haufen Spreißel.
Die Praxis des Facharztes liegt in einem riesigen Komplex aus Glas und Stein in der Nähe des Krankenhauses. Langsam glaube ich dran, dass es eine Innenarchitektin gibt, die auf Einrichtungen von Arztpraxen spezialisiert ist. Eine, die für die Auswahl der Pflanzen verantwortlich ist, die so falsch sind, dass sie fast wie echt aussehen, und für die beige gestreiften Tapeten in jedem Wartezimmer, in dem ich in jüngster Zeit gewesen bin. Wahrscheinlich legt sie sogar die Zeitschriften auf den Beistelltischen aus, Magazine, die niemand liest, wie Angeln und Freizeit und Rätsellabyrinthe für Kids oder Das Auto Vierteljahresheft.
»Wie fühlst du dich, mein Schatz?«, fragt mich Mom das vierte Mal an diesem Nachmittag und hält dabei meine Hand.
»Gut.«
Dad trommelt mit den Fingern auf seinem Knie. »Vielleicht könnten wir danach bei Sancho’s Enchiladas essen. Hättest du Lust?«
»Sicher.«
Mom starrt geradeaus. »Sie haben einen guten Avocado-Dip.«
»Einen ausgezeichneten Avocado-Dip«, sekundiert Dad.
Nur um ein Gespräch zu vermeiden, nehme ich mir ein Exemplar von Das Auto Vierteljahresheft und tu so, als ob ich einen Artikel über einen Mann lese, der einen Gebrauchtwagenpark besitzt und sich aufs Aufpolieren alter Cadillacs spezialisiert hat.
Eine Arzthelferin steckt den Kopf durch die Tür. »Mr und Mrs Smith? Der Doktor würde gerne zuerst mit Ihnen sprechen.«
Eine Viertelstunde dauert es, bis ich ins Sprechzimmer des Dr. Spezialist gerufen werde. Irgendwelche Röntgenaufnahmen hängen an einem Leuchtkasten hinter seinem Kopf. Ich weiß nicht, ob es meine sind. In diesem Augenblick sehen sie fast so aus, als ob sie ein Dekorationselement der Praxiseinrichtung von der ganz speziellen Innenarchitektin sein könnten. Dad sitzt in einem der Sessel. Sein Gesicht ist grau. Mom umklammert ein Papiertaschentuch.
»Hi, Cameron. Ich habe gerade mit deinen Eltern hier gesprochen und musste hören, dass du ne ziemlich stressige Woche hattest«, sagt der Spezialist, was wohl witzig und vertraulich klingen soll. Leck mich doch. Ich versuche meine Arme über der Brust zu verschränken, aber sie wollen nicht mitmachen, also lasse ich sie an den Seiten herunterhängen. Nur ein Virus. Viren stellen alle möglichen Sachen an.
»Dein Fall ist sehr ungewöhnlich, Cameron.« Der Spezialist klopft mit dem Füller gegen eine Aktenmappe auf seinem Schreibtisch. Hast du jemals von der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit gehört?«
»Nein. Was ist das?«
»Das ist eine neurologische Krankheit, betrifft also das Gehirn. Vielleicht hast du gehört, dass sie dem Rinderwahnsinn bei Tieren entspricht.«
Ich werfe einen Blick auf Dad, der aussieht, als ob er für die Mount Rushmore-Gedenkstätte Modell sitzt. Kein klitzekleines Augenzwinkern.
»Rinderwahnsinn«, wiederhole ich. »Betrifft das nicht … Kühe?«
»Ja, also, hier haben wir es mit der menschlichen Ausprägung zu tun. Aber größtenteils verläuft die Krankheit gleich.«
Ich erinnere mich schwach daran, eine Nachrichtensendung über Rinderwahnsinn gehört zu haben. Einige Kühe wurden durch schlechtes Futter verrückt, daher »Rinderwahn«. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ich keinerlei schlechtes Futter gemampft habe, sofern man nicht den Fraß dazuzählt, den sie in der Calhoun Cafeteria servieren. Also ist mir schleierhaft, wie ich zum Creutzfeldt-Jakob-Irgendwas gekommen sein könnte. Klingt wie der Markenname von Super-Lautsprecherboxen.
Meine rechte Hand zittert. Ich krieg es nicht in den Griff und fühle mich, als ob sich meine Haut wie ein Reißverschluss öffnet und ich aus ihr herauskrieche.
»Weißt du, da gibt es diese infektiösen Proteine, Prionen genannt, die normalerweise nicht gefährlich sind, manchmal jedoch geht’s schief. Und wenn das passiert, gibt’s Probleme. Zum Beispiel …« Er zieht eine Büroklammer hervor. »So eine Büroklammer hält Papiere sehr gut zusammen. Aber wenn ich sie aufbiege, etwa so« – er biegt ein Ende hoch –, »funktioniert sie nicht länger wie gewohnt.« Dr. Spezialist schubst einen Stoß Papier in die verkorkste Klammer und die Blätter verstreuen sich über den Schreibtisch. »Und dann reproduzieren sich diese Prionen – die verbogenen Büroklammern –, ergreifen die Macht über dein Gehirn und zerstören es mit der Zeit.«
»Oh. Ah-jaa«, sage ich, weil ich nichts von dem wirklich aufnehmen kann, was er sagt.
»Das ist Unsinn. Wo könnte er sich infiziert haben? Sie erzählen mir, dass ein normaler sechzehnjähriger Junge an Creutzfeldt-Jakob erkrankt?«, blafft Dad ihn an.
»Es könnte alles gewesen sein«, sagt der Spezialmann und zuckt wenig überzeugend mit den Schultern, »verdorbenes Rindfleisch oder sogar ein genetischer Defekt. Die Wahrheit werden wir wahrscheinlich nie erfahren.«
»Inakzeptabel. Das ist reine Spekulation«, faucht Dad, und in den nächsten paar Minuten unterhalten sich er und Dr. Spezialist in irgendeiner Geheimsprache. Im Prinzip teilt Dad Dr. Spezialist mit, dass er nur Scheiße labere, und der Doktor liefert Argumente, warum er es nicht tut. Ich verstehe nicht viel davon, weil ich Kopfschmerzen habe. Es fühlt sich an, als ob unter meiner Kopfhaut eine Armee von Ameisen eine Aerobicstunde absolviert. Ich will hier nicht länger bleiben.
»Also, wie sieht die Behandlung aus?«, frage ich.
Dr. Spezialist klopft mit seinem Füller leicht gegen die Tischplatte. Dad wird still. Mom zerknüllt ihr Taschentuch. In mir steigt eine schreckliche Ahnung auf.
»Ich kann doch geheilt werden?«
Für ein paar Augenblicke sagt niemand etwas und das fühlt sich an wie die längsten Sekunden meines Lebens. Dr. Spezialist setzt sich etwas aufrechter und verwandelt sich vom Menschen zur Arztmaschine. »Zurzeit erforschen wir noch verschiedene Möglichkeiten«, sagt er mit dieser ruhigen Stimme, die sie einem, neben einer beschissenen Handschrift, an medizinischen Hochschulen beibringen.
»Aber, was – die anderen Menschen, die diese Kräh … diese Kreuz…«
»Creutzfeldt-Jakob-Krankheit …«
»… den, die, ähm, dieses Rinderwahndings bekommen haben, was ist mit denen passiert?«
Der Doktor räuspert sich. »Das hängt davon ab, wie weit die Krankheit fortgeschritten ist. Aber es gibt ein paar Dinge, die du wissen musst, Cameron.«
Dr. Spezialist findet schließlich seine Stimme wieder. Jetzt aber möchte ich ihm einfach nur sagen, dass er seinen Mund halten soll. Die Nachricht braust wie eine große Welle über mich. Ich kann mich nur an ein paar Worten und Sätzen festhalten. »Zunehmender Muskelschwund«, »schwankender Gang«, »Demenz und Wahnvorstellungen«, »vier bis sechs Monate«, »Krankenhaus«, »Behandlung im Versuchsstadium«.
Niemand spricht davon, dass mich das Ganze töten wird. Wahrscheinlich weil im Grunde niemand mit der Wahrheit rausrücken will. Tatsache ist, dass Dr. Spezialist alles tut, was er kann, um es nicht zu sagen.
Das ist der Augenblick, in dem ich erkenne, dass ich tief in der Scheiße sitze.