KAPITEL ACHTUNDZWANZIG

Welches von meinem Besuch auf einer Party handelt und von einer Zufallsbegegnung mit dem grummeligsten Gartenzwerg der Welt

 

Innerhalb von dreißig Sekunden beginnt Gonzo leise zu schnarchen. Es ist null Uhr zwanzig und ich bin aufgedreht. Ich kann den Fernseher nicht anschalten, also ziehe ich meine Schuhe an und tapse hinaus auf den Parkplatz mit seinem prachtvollen Blick auf die Interstate 10. Ein Schwerlaster nach dem anderen donnert vorbei. All diese Lastwagen transportieren Dinge, von denen die Menschen glauben, nicht ohne sie leben zu können – neue Sofas und glänzende Sneakers, Ponchos und zwölf verschiedene Sorten Schmelzkäse, in Würfeln, Streifen, Vierecken oder geraspelt in Beuteln.

Ich laufe die Zufahrtsstraße entlang, auf die gelben Blinklichter der Unterführung zu. Auf der anderen Seite des Freeways steht eine Iss&Trink&Tank-Stelle, hell erleuchtet wie eine fluoreszierende Fata Morgana.

Nur ein Wagen steht auf dem Parkplatz. Leute sind nicht zu sehen, außer dem Typen hinter der Ladentheke, der auf einen kleinen Fernseher neben der Kasse starrt. In meiner Tasche habe ich drei Dollar. Ich werfe alles ins Münztelefon. Meine Finger sind steif. Immer wieder fallen mir Geldstücke runter.

Es tutet ein paarmal, dann hebt Dad ab. »Hallo?«, sagt er mit halb wacher Stimme. Einen Augenblick lang sage ich nichts. Ich lausche nur dem verschlafenen Atmen am anderen Ende der Leitung.

»Dad?«

»Cameron? Bist du das? Bist du … Sag was. Bitte.«

Seine Stimme klingt fremd, so wie sie aus der Ferne, durch Tausende von Meilen dünnem Draht, zu mir vordringt. Sie klingt nicht beleidigt oder beherrscht. In ihr sind andere Töne zu hören. Erschöpfung. Hoffnung. Trauer.

»Cameron?«, flüstert er. »Ich weiß, dass du mich hören kannst. Egal, wo du jetzt im Augenblick steckst, du sollst nur wissen, dass du mein Junge bist. Du bist ein Teil von mir und ich bin ein Teil von dir. Immer.«

»Dad?«

»Cameron?«

»Ich liebe dich«, sage ich, genau in dem Augenblick, als hinter mir auf dem Highway ein Schwerlaster vorbeidonnert.

Mom ist aufgewacht. Ich höre, wie sie Dad fragt, was los ist, mit wem er spricht, ob der Arzt am Apparat ist? Dad antwortet, es ist nichts, schlaf weiter.

»Cameron?«, flüstert Dad. »Kannst du mich hören, Kumpel?«

Die Computer-Stimme des Telefonisten bittet mich freundlich, mehr Münzen einzuwerfen, aber ich habe keine mehr, also hänge ich ein. Ich fühle mich, als ob mir ein Walross auf der Brust sitzt. Außerdem brennen meine Augen. Ich würde in diesem Moment alles drum geben, high zu sein, gut drauf und betäubt.

Ein Mädchen steht am anderen Ende der Tankstelle herum, als warte sie auf irgendetwas. Sie hat Shorts an und eine Jacke aus Kunstpelz, obwohl es schwül ist und mir mein T-Shirt am Körper klebt. Auf dem Weg nach drinnen nicke ich dem Mädchen zu. Sie beachtet mich nicht, was in Ordnung geht, wirklich.

Das unnatürlich helle Licht trifft mich wie ein Faustschlag. Das und der ranzige Nacho-Käse-Gestank machen mir ziemlich zu schaffen. Die Lautsprecherboxen präsentieren dazu die Kaufhausversion eines Songs der Copenhagen Interpretation. Auf die letzten Takte folgt die einschläfernde Stimme des DJs. »Und das waren Words for Snow von der Copenhagen Interpretation aus der Reihe Staunen – was auch immer mit ihnen geschehen ist …«

Ich gehe nach hinten zum Pornoregal und ziehe die Plastikschutzhüllen von den Magazinen. Der Typ hinter der Ladentheke beobachtet mich im Wir-sehen-dich-also-denk-nicht-mal-an-Ladendiebstahl-Spiegel. Scheiße, keine Chance, dass der Typ mir Bier verkauft. Ich verschwende meine Zeit damit, Zeugs in die Hand zu nehmen, das ich nicht kaufen will: billige Spielzeugpistolen. Wegwerfrasierer. Dosenbohnen. Schneekugeln. Schließlich öffne ich den Kühlschrank, lasse mich von der eisigen Luft einhüllen und nehme mir einen Rad Xtra Energy Drink. Wenn ich eh bald nicht mehr richtig ticke, kann ich doch gleich das volle Programm durchziehen. Als ich nach einer Tüte Chips greifen will, spielt meine Koordination total verrückt. Meine Muskeln versteifen sich. Ich packe das Verkaufsgestell, um mich zu stützen, und fege dabei sämtliche Chipstüten hinunter.

»Was glaubst du, was du hier tust?«, ruft der Angestellte in sehr präzisem Englisch, als ob er es eingeübt hat. Auf seinem Namensschild steht MITARBEITER #12, und ich frage mich, ob er einen Namen hat oder ob es seinen Bossen scheißegal ist, wer er ist.

Er brüllt mich an. »Findest du das witzig? Findest du, das ist ein lustiger Scherz? Los, raus hier!« Er schiebt mich durch die Tür. »Du bist bekifft. Hau ab, bevor ich die Bullen rufe.«

Unter dem diffusen Licht der Parkplatzlampen schnappe ich nach Luft und versuche mich zu beruhigen. Mein E-Ticket flackert und verfärbt sich. Als ich genauer hinschaue, ist Frontierland komplett gelöscht. Ich bin zwei Gesundheitsstufen runtergefallen, wie Gonzo sagen würde. Ich hätte gern meine Limo. Die Schnecke in der Pelzweste steht noch da und hat einen Lutscher im Mund. Das ganze Make-up lässt sie älter aussehen. Sie ist vielleicht fünfzehn, sechzehn. Bei Mädchen kann man das schlecht sagen.

»Waswarnlos?«, fragt sie.

»Ich hab seine Bestmarke bei Captain Carnage geschlagen. Jetzt ist er sauer.«

Sie lacht nicht und das bedrückt mich.

Sie nimmt den Lolli aus dem Mund. »Wenn du was mitgehen lassen willst, musst du erst was auf die Theke legen. Du deponierst dort zum Beispiel ein paar Schokoriegel und fragst, ob du sie liegen lassen kannst, bis du den Rest geholt hast. Sie sagen immer ›Klar‹, glauben dann, dass du sie nicht bescheißen willst, und hören auf, dich zu überwachen.«

Ich bin nicht sicher, was ich von diesem Tipp halten soll, deshalb sage ich nur: »Cool. Danke.«

Irgendein Typ fährt mit einem aufgemotzten Geländewagen vor. »Tara, wo zur Hölle hast du gesteckt?«, ruft er durchs offene Seitenfenster.

Sie nimmt den Lutscher aus dem Mund und schreit zurück. »Das geht dich einen Scheiß an!«

»Warum sprichst du so mit mir? Komm, lass uns zur Party fahren.«

Tara schleudert den Lutscher auf den Parkplatz. »Ich hab keine Zigaretten mehr.«

»Ich hab welche. Wer is’n das?«, fragt er und nickt in meine Richtung.

Toll. Der hat mir gerade noch gefehlt.

»Wasgehtsndichan«, sagt sie. »Vielleicht ist er mein neuer Freund.«

»Ich wollt mir nur ne Limo kaufen«, sage ich.

»Ja? Und, wo ist sie?«, stichelt der Typ im Geländewagen.

Wenn das ein Film wäre, würde ich jetzt eine zuvor versteckte Bombe in die Luft fliegen lassen, die den Parkplatz dem Erdboden gleichmachen würde. Und dann, bevor ich davonschlendere und in der Nacht verschwinde, würde ich noch einen eleganten letzten Satz sagen wie: »Und vergiss meine Limo nicht, du Drecksack!« Aber das ist kein Film, und so stopfe ich meine zuckenden Hände nur in die Hosentaschen, ganz der große rinderwahnsinnige Schisser, der ich nun mal bin.

»Du bist nicht mein Boss!«, schreit Tara den Kerl an. »Ich kann machen, was ich will. Falls du’s vergessen hast, wir haben Schluss gemacht, Jus-tin!« Sie unterstreicht das Wort mit einer effektvollen Kopfdrehung und legt den Arm um meine Hüfte, was im Prinzip nichts anderes bedeutet, als mir eine Zielscheibe auf die Brust zu malen.

»Ich sollte besser noch mal reingehen«, sage ich und trete einen Schritt zu Seite.

Jus-tin! schaltet seine Innenbeleuchtung ein. Ich sehe, dass er einen ungepflegten braunen Bart hat, eine blaue Truckermütze trägt und ein Footballtrikot in Übergröße. Außerdem steckt ein fetter Brilli im rechten Ohrläppchen. »Hey, komm schon, Tara. Das ist doch nicht dein Ernst, Baby.«

Sie dreht sich zu mir. »Haste Zigaretten?«

»Leider nicht.«

»Kannst du welche holen?«, fragt sie und macht sich an mich ran. Mit zunehmender Sorge registriere ich, dass der Justin-Typ aussieht, als ob er mich ernsthaft vermöbeln könnte.

»Dieser Typ wird mich nicht mehr reinlassen«, sage ich mit einer entschuldigenden Geste.

Mitarbeiter #12 steht mit verschränkten Armen in der Nähe der Tür und zeigt uns damit, dass wir an dieser Iss&Trink&Tank-Stelle nicht willkommen sind. Es ist so eine Ich-werd-die-Polizei-rufen-Haltung, eine Ich-bin-der-Actionheld-von-der-Tankstelle-Pose. Ich frage mich, wie er wohl klingen würde, wenn er sagt: »Und vergiss meine Limo nicht, du Drecksack!«

»Verdammt«, sagt Tara und kaut an einem lädierten Fingernagel. Sie schlendert rüber zum offenen Seitenfenster des Geländewagens. »Gib mir was zu rauchen.«

Eine brennende Zigarette wird durchs Fenster gereicht. Tara nimmt einen tiefen Zug, pustet den Rauch aus, öffnet mir nichts, dir nichts die Autotür und krabbelt hinein. Sie küssen sich leidenschaftlich und Justin schaltet die Beleuchtung aus.

»Okay, bis später«, sage ich und verschwinde im Schatten der Interstate.

»Warte!«, ruft Tara. Sie lehnt sich mit dem Oberkörper aus dem Fenster, ihre Zigarette zwischen Zeige- und Mittelfinger geklemmt. »Willste mit auf ne Party?«

 

Wir fahren durch die schlafende Stadt. Die Ampeln sind auf gelbes Blinklicht geschaltet und die Straßen glitzern noch vom letzten Regen. Tara erzählt mir die Fünf-Minuten-Version ihres Lebens. Sie ist fünfzehn, lebt bei ihrer Mom, die als Kosmetikerin arbeitet und gratis Nagellack und Gurkenlotion mit nach Hause in den Wohnwagen bringt, den sie sich mit vier Katzen teilen. »Die ganze verdammte Toilette stinkt nach Gurken und Katzenkacke, echt wahr«, sagt sie und bietet mir eine Zigarette an, die ich dankend ablehne. Tara hasst die Schule, aber sie liebt eine Supermodelshow und möchte auch eins sein.

»Sie hat nur mal bei einer Bootsausstellung mitgemacht«, erzählt mir Justin, halb stolz, halb skeptisch. Als ob er nur damit angeben will, dass er mit einer heißen Braut zusammen ist, aber niemand die heiße Braut selbst registrieren soll. Justin ist achtzehn, aber noch in der elften Klasse. Auch er lebt bei seiner Mutter und ihrem »jammerärschigen Vollidioten von Freund«, in einer »beschissenen Zwei-Zimmer-Wohnung neben dem Enormo Markt«. Für Geld packt er Lebensmittel ein und verkauft gelegentlich ein bisschen Gras und deshalb ist die Party von Brian Kinner fürs Geschäft »absolut notwendig«.

Schließlich wollen sie was über mich wissen. Für gewöhnlich würde ich meine Geschichte zensieren und so wenig wie möglich von mir preisgeben. Immer schön knapp unterm Radar bleiben. Aber heute Nacht bin ich so müde, dass ich ihnen einfach alles erzähle. Es tut mir gut, mich nicht unter Kontrolle zu halten.

»Rinderwahnsinn?«, sagt Tara und bläst eine Rauchwolke in die Luft. »Kriegt man das vom Sex?«

»Nein«, sage ich, »es ist nicht ansteckend.«

»Wow«, sagt Tara. »Das ist ja so traurig. Justin, denkst du nicht auch, dass das furchtbar traurig ist?«

»Ja. Wirklich traurig. Hey, willst’n Joint?«

Justin lenkt den Geländewagen auf einen Parkplatz und wir rauchen einen Joint. Nach dem dritten oder vierten Zug wippt mein Kopf auf meinem Hals wie einer dieser Wackeldackel. Willkommen zurück in Betäubingen, Einwohnerzahl: eins.

»Kann’s nicht erwarten, aus diesem Kaff rauszukommen«, murmelt Tara. Sie hat die Augen geschlossen und räkelt sich in ihrem Sitz.

Justin kratzt sich in seinem Versuch eines Bartes. Unter der Truckermütze quillt sein Haar in langen, zotteligen Strähnen hervor.

»So schlecht isses hier nich.«

Tara schaut ihn an, als ob er gerade gesagt hätte, alle Babys sollten eingeschläfert werden. »Doch, isses, is Kacke.«

»Ich bin doch hier«, sagt er ruhig.

Tara drückt den Joint aus. »Mann, bin ich dicht.«

»Biste wieder cool da hinten?«, fragt mich Justin.

»Hmmm« ist alles, was ich in meinem benommenen Zustand von mir geben kann.

»Zeit für’n bisschen Spaß«, sagt Justin.

Er gibt kräftig Gas, und wir durchqueren ein Viertel mit riesigen Villen, einige mit eigenen Türmchen. Die Fußgängerwege werden von elektrischen Bodenfackeln beleuchtet und Warnschilder markieren die Rasenkanten.

»Tara, übernimm das Steuer.«

Tara legt die linke Hand ans Lenkrad und wir bewegen uns ganz langsam auf den Bordstein zu. Justin holt einen Baseballschläger unterm Sitz hervor und lehnt sich zum Fenster hinaus. Mit einem kräftigen Schlag haut er einen Briefkasten vom Sockel.

»Boah«, sage ich. Oder wenigstens denke ich, dass ich das sage. Ich bin high. Möglicherweise könnte ich gesagt haben: »Bringt die Kühe in den Stall! Wir sind da, um eure Ringelblumen zu versklaven!« Das bringt mich zum Lachen. Auf meiner Rückbank kichere ich in mich hinein.

Justin haut weiter gegen die Briefkästen. Einen oder zwei verfehlt er, was er Taras Fahrstil in die Schuhe schiebt.

»Gut. Fahr doch selbst«, sagt sie und schmollt. Aber sie gibt das Lenkrad nicht aus der Hand. Beim nächsten Ziel ist er wieder erfolgreich und schlägt den Briefkasten komplett vom Pfosten. Der hüpft Funken sprühend und mit grellem Scheppern über die Straße. In den Häusern gehen die Lichter an. Ein Hund bellt. Tara kichert laut und schrill, ein typisches Kiffergelächter. Justin verstaut den Schläger wieder unterm Sitz und düst davon. Wir kurven ziellos Straßen rauf und runter, die High Court heißen, Royal Acres, Imperial Lane, King’s Row. Jeder Straßenname wetteifert darum, bedeutender als der andere zu klingen. Selbst die Straßen hier streben nach Höherem.

Justin biegt in die Westminster Lane ein. Er schaltet die Lichter seines Wagens aus und schleicht sich in die Auffahrt zu einem im Dunkel liegenden Haus.

»Ist das nicht das Haus der McNultys?«, fragt Tara.

»Ja«, antwortet Justin. »Sie sind nicht zu Haus.«

»Woher willst’n das wissen?«, stichelt sie.

»Der frühere Liebhaber meiner Mutter macht ihren Pool sauber. Er hat gesagt, sie sind in Spanien oder Portugal oder so ner Scheiß-Stadt.«

»Charlie McNulty ist Präsident der Schülermitverwaltung an unserer Schule. Er ist so was von smart«, erklärt Tara wie eine Touristenführerin. Das kommt mir komisch vor und ich kichere in mich hinein.

»Hier entlang«, sagt Justin und führt uns zur Rückseite des Hauses, die von einem Holzzaun begrenzt wird. Justin öffnet das Gartentor. Der Garten ist verdammt groß, mit einer hübschen Terrasse und einem riesigen Gasgrill, Gartenmöbeln aus Teakholz und einem Glastisch, aus dessen Mitte ein Sonnenschirm ragt. Und da ist der Swimmingpool, von dem Justin gesprochen hat, mit klarem blauem Wasser.

Justin zieht sich aus, bis auf seine schlabbrige Unterhose. Ich befürchte, dass er die auch noch abschüttelt, tut er aber nicht. Er gleitet ins Wasser und stößt sich in Rückenlage vom Beckenrand weg. Tara kämpft mit ihrer Kleidung, aber bald steht sie in BH und Slip da. Ich kann die Konturen ihres dunklen Schamhaares sehen, das sich unter dem dünnen rosa Stoff ihres Schlüpfers abzeichnet. Ich kriege einen Ständer. Auf keinen Fall ziehe ich mich jetzt aus.

»Was ist los, Cameron? Bist du schüchtern?« Sie nimmt meine Hand und zieht.

»Nein«, protestiere ich und hoffe, dass sie keinen heimlichen Blick nach unten wirft. »Meine Krankheit. Ich kann nicht schwimmen. Ist nicht gut für mich.«

»Mist«, sagt sie, bevor sie einen Riesensatz ins Wasser macht. Gute fünf Sekunden später schwappt das Wasser immer noch über den Beckenrand. »So’n Auftritt mag ich«, sagt sie, »sonst wirst du nämlich nicht beachtet.«

Schließlich ziehe ich meine Schuhe aus, halte die Füße ins Becken und lass das lauwarme Wasser meine Fußknöchel umspielen. Das fühlt sich gut an, nicht nur, weil ich noch bekifft bin. Das werde ich mir merken, um es Dulcies Liste der lebenswerten Dinge hinzuzufügen. Aus irgendeinem Grund sehe ich sie noch vor mir, wie sie die Augen verdreht, mit diesem breiten albernen Grinsen. Auf meiner persönlichen Liste werde ich noch ihr Lächeln notieren. Wissen muss sie das nicht.

»Das gefällt mir«, sagt Tara. »Wenn ich mal Model bin, kauf ich genau so ein Haus wie dieses. Vielleicht werd ich sogar genau dieses Haus von den McNultys kaufen, und jeder, der zu mir gemein war, kann mich am Arsch lecken, wenn ich mal richtig berühmt sein werd und so.«

»Baby, du kannst dir dein eigenes Haus bauen«, sagt Justin.

»Ja, kann ich, oder? Besser als das«, kichert Tara.

Sie schwimmt zu Justin rüber und umklammert ihn wie eine Spinne. So lassen sie sich auf dem Wasser treiben und küssen sich. Ich schaue mich derweil im Garten um und tu so, als ob ich an der Landschaft interessiert bin.

Tara lacht. »Ich glaub, wir machen Cameron ganz verlegen«, sagt sie mit Singsangstimme.

Justin löst sich sanft von Tara und streckt sich zum Beckenrand.

»Hey!«, sagt Tara, »wo willst’n du hin?«

»Ich muss noch was Geschäftliches erledigen.«

Sie klettern aus dem Pool, trocknen sich mit ein paar Handtüchern ab, die sie von einem sauberen Stapel in einem Schrank an der Hintertür genommen haben. Dann ziehen sie die nasse Unterwäsche aus. Ich schaue weg und tu so, als ob ich nicht noch mal einen Ständer kriege bei dem Gedanken, gleich mit einem Mädchen in einem Geländewagen zu fahren, das keinen Slip trägt.

»Gehen wir«, sagt Tara, als sie sich wieder angezogen hat.

»Eine Sekunde noch.« Justin durchwühlt die Anrichte beim Grill. Er steckt sich ein paar Beutel Barbecuesoße ein und einen Korkenzieher.

»Willst du das wirklich mitnehmen?«, frage ich. Mein Hirn klart ein bisschen auf und fühlt sich nicht mehr so flaumig an.

»Sie haben alles und werden’s nicht vermissen.«

Als wir zurück zum Wagen kommen, öffnet Justin das Handschuhfach und wirft den Korkenzieher rein. Er gesellt sich zu drei weiteren Korkenziehern, einem Zigarettenetui, einigen Familienfotos, Schlüsseln und einem Hundehalsband.

»Hast du das alles mitgehen lassen?«

»Ja.«

»Warum?«

»Ich mag ihr Zeugs, und ich mag es zu wissen, dass sie nicht immer die Gewinner sind.«

»Justin«, quengelt Tara, »wir kommen zu spät zur Party.«

»Nerv mich nicht«, sagt er ganz leise und ruhig.

Tara verdreht die Augen und quetscht das Wasser aus ihrem Pferdeschwanz. »Gib mir ne Zigarette.«

Wir verlassen das Villenviertel, durchqueren ein Gutesaber-nicht-so-Teures, kommen in ein Ganz-Ordentliches, fallen die ganze Hierarchie von Stadtvierteln runter, bis wir in einem heruntergekommenen Stadtteil landen.

Justin parkt seinen Wagen am Ende einer langen Reihe von Autos. Wir folgen ihm die Sackgasse hinunter zu einem hell erleuchteten Haus. Aus dem Garten dringt Partylärm. Zwei Fässer Bier sind alles, was dort an Mobiliar herumsteht. Irgendeine Art Metal-Rap-Mix plärrt aus den Lautsprechern, die durch die Schiebetüren herausgezerrt und ziemlich wacklig auf der unebenen Betonterrasse platziert wurden. Ein dicker Typ im schwarzen Wrestling-T-Shirt grüßt Justin mit einem komplizierten Handschlag, der damit endet, dass sie sich beide gegenseitig auf die Brust schlagen. »Justin. Wasgehtab?«

Justin zuckt mit den Schultern, Hände in den Hosentaschen. »Nich viel, Bruder. Und wie läuft’s hier?«

Der dicke Typ schaut sich um. »So lala. Zu viele Kerle, zu wenig Bräute. Hey, Tara.«

»Hey, Carbine«, sagt Tara und staubt eine neue Zigarette ab. »Das ist Cameron. Er stirbt bald am Rinderwahn.«

Carbine nickt mir zu. »Cool. Willst’n Bier?«

»Nein, ist schon gut.«

Er reicht mir einen vollen Becher. »Bitte sehr.«

»Danke«, sage ich und nehme ihn.

Carbine verpasst Justin ein paar neckische Faustschläge und sagt: »He, Justin, können wir ein Geschäftchen machen?«

»Zeig mir, wo’s langgeht, Bruder«, sagt Justin und beide verschwinden.

Ein Typ kommt auf mich zu, nimmt mir das Bier aus der Hand, trinkt es aus und gibt mir den leeren Becher zurück. Tara entdeckt ein paar Mädchen, die sie kennt, und rennt zu ihnen rüber. Sie stecken die Köpfe zusammen und flüstern, wie Mädchen das eben tun. Das liegt in ihrer DNA.

Ich schlendere im Haus umher. Die Küche wurde zur Strip-Poker-Bar umfunktioniert. Eins der Mädchen trägt nur noch BH und Jeans. Ein Kerl sitzt da in seinen kleinen Weißen. Ich grapsche mir eine Handvoll Chips und steuere das Wohnzimmer an. Die Typen stehen in Gruppen herum und beäugen die Mädels, die auf den Sofas sitzen, trinken und quatschen und darauf warten, dass die Typen sie anmachen und abschleppen. Und die, die es geschafft haben, verschwinden in den Hinterzimmern und kommen nicht mehr heraus. Ein armer Kerl liegt bewusstlos auf der Couch und seine Freunde schreiben ihm mit Permanentmarker WICHSER quer über die Stirn. Im Fernsehen laufen Nachrichten. Wie gelähmt verfolge ich Bilder von Bränden, die irgendeine Stadt heimsuchen. Ich wünschte, ich könnte hören, was der Nachrichtensprecher sagt. Ich sehe nur den beschissenen Tickertext, der was von mussmaliger Brennschichtung bringt, was wahrscheinlich »mutmaßliche Brandstiftung« bedeuten soll. Auf dem Bildschirm tauchen schnauzbärtige Typen mit verspiegelten Sonnenbrillen auf, die sich Notizen machen. Dann schaltet irgendjemand zum Wrestlingkanal um.

Ich drücke die Fliegengittertür auf und trete hinaus in den Garten, wo es überwiegend ruhig zugeht. Von hier aus kann man die Sterne sehen. Ein lächelnder Gartenzwerg – so einer wie auf Dads Fotos – bewacht einen Steingarten. Dieser Zwerg ist fast einen Meter groß, hat weißes Haar und einen weißen Bart, rote Wangen und trägt einen Wikingerhelm, braune Hosen und ein Kettenhemd.

Ich habe keine Ahnung, wo ich bin oder wie, verdammt noch mal, ich zum Motel zurückkommen werde. Gut, dass Gonzo ein robuster Tiefschläfer ist, denn wenn er aufwachen und bemerken würde, dass er allein im Zimmer ist, wäre eine ausgewachsene Panikattacke die Folge. Ich trete zurück und werfe dabei versehentlich den Gartenzwerg um.

»’tschuldigung, kleiner Kerl«, sage ich und richte ihn wieder auf.

»Ich ziehe es vor, nicht als ›kleiner Kerl‹ bezeichnet zu werden.«

Das Gras muss besser gewesen sein, als ich dachte, weil ich schwören könnte, dass der Gartenzwerg eben etwas gesagt hat. »Entschuldige, hast du gerade –«

»Es verletzt meine Würde. Bezeichne ich dich etwa als Bohnenstange? Nun, was ist?«

Heilige Scheiße. Ich unterhalte mich mit einem Gartenzwerg.

Irgendjemand brettert viel zu schnell die Straße entlang und rasiert dabei den Seitenspiegel eines Autos ab. Ich schaue mich um, aber niemand ist da, der mir das bestätigen kann.

»Hast du das gesehen? Er hat nicht einmal angehalten«, sagt der Gartenzwerg, ohne sein munteres Lächeln zu verlieren. »Dieses Viertel geht den Bach runter.«

»Wer … wer bist du?«, krächze ich.

»Mein Entführer – der Mann, der mich aus einem Verbindungshaus gestohlen hat – nennt mich Grumpy. Natürlich, er gehört auch zu der Sorte des gebildeten Gentlemans, der dich anpinkelt, wenn er besoffen nach Hause kommt, wenn du verstehst, was ich meine.«

»Okay. Du magst den Namen Grumpy nicht. Wie möchtest du denn dann genannt werden?«, frage ich.

»Ah, das ist eine Frage der Identität, ágœtr. Wer würdest du sein, wenn du nicht wüsstest, wer du bist? Wie gibst du deiner Seele einen Namen, deinen eigentlichen sjálfr

»Schau mich nicht an. Meine Eltern haben mich Cameron genannt, nach einem Schauspieler, den sie mochten.«

»Genau. Dir ist mit der Geburt eine Identität zugewiesen worden. Dann läufst du den Rest deines Lebens mit dieser Identität herum und versuchst herauszufinden, ob sie wirklich zu dir passt. Du probierst die verschiedenen Identitäten an und lässt genauso viele wieder fallen. Aber in der Tat, es ist höchste Zeit, all diese falschen Rüstungen abzustreifen, um zu sehen, was wirklich darin steckt.«

»Und was ist das?«

»Ich weiß es nicht«, sagt er und klingt erschöpft. »Aber ich kann dir sagen, was es nicht ist: nämlich lächelnd im Garten von jemand anderem zu stehen, wo dich die Hunde beschnüffeln und dann an dir ihr Geschäft verrichten. Und mit Teenagern zu tun zu haben, die dich in der Nacht stehlen und dich mit in die Ferien nehmen, wo sie Fotos von dir machen, vor dem Matterhorn oder vor dem Eiffelturm oder vor einem Campingplatz, einfach nur so zum Spaß. Das ist es nicht!«

»Es tut mir leid. Ich hab mich auf einer Party noch nie mit einem Gartenzwerg unterhalten. Eigentlich bin ich davon überzeugt, dass du nicht mehr bist als eine Halluzination.«

»Ich gebe dir mein Wort, dass ich so wirklich bin wie du. Du hast nach meinem Namen gefragt.« Seine Stimme klingt jetzt tiefer und majestätischer. »Ich bin Balder, Sohn des Odin, Bruder des Hör und Freund aller.«

»Balder, war das nicht ein nordischer Gott?«, sage ich und erinnere mich an die Gutenachtgeschichten meiner Mutter.

»In der Tat.« Er klingt erfreut. »Das bin ich. Oder das war ich. Einstmals, in einer anderen Zeit in einer anderen Welt. Aber Loki, dieser Betrüger, hat mich verflucht«, knurrt er. »Und ich fand mich selbst in dieser falschen Gestalt wieder und werde gezwungen, im Besitz anderer endlos durch die neun Welten des Weltenbaums Yggdrasil zu reisen, bis ich jemanden finde, der mich versteht und meine wahre Natur erkennt. Du bist dieses Wesen und wirst mich jetzt zur Ringhorn führen.«

Ich frage mich langsam, ob ich nicht vielleicht sofort ein paar stärkere Medikamente einnehmen sollte.

»Ringhorn heißt mein Schiff, das auf mich wartet. Wenn ich es bis ans Meer schaffe, zur Ringhorn, wird der Fluch aufgehoben und ich werde frei sein. Endlich spüre ich, dass sich der Wind des Schicksals gedreht hat – dank den Göttern.«

Ein Hund nähert sich und schnüffelt im Gras. Er überprüft Balder kurz, hebt das Bein, macht ihn von Kopf bis Fuß nass und trottet wieder davon.

»Könntest du bitte den Wasserschlauch aufdrehen?«, fragt er und seufzt dabei schwer.

Ich finde den Wasserhahn für den Schlauch, stelle ihn auf »mittel« und folge der grünen Gummischlange zurück zu Balder. Ich verpasse dem Gartenzwerg eine schöne Dusche, indem ich den Finger auf die Düse halte. Schließlich stottert er, er habe genug, und ich drehe den Hahn wieder zu.

»Warte einen Moment«, sage ich zu ihm und renne ins Haus. »Geh nirgendwohin.«

»Du bist ein richtiger Witzbold«, murrt er.

In der Küche kämpfen einige Jungs miteinander. Ein paar halb bekleidete Mädchen stehen herum. Carbine schreit: »Aufhören! Aufhören, Kumpels!«, und zerrt die Kampfhähne auseinander. Keiner bemerkt mich, als ich eine Rolle Küchenpapier nehme und wieder nach draußen sprinte.

»Hier«, sage ich und tupfe Balder trocken. Ich kann nicht glauben, dass ich einen Gartenzwerg abtrockne! Er ist zwar immer noch feucht, aber nicht mehr so nass wie vorher.

»Ich danke dir«, sagt er. »Du bist äußerst gütig.«

Niemand hat mich je gütig genannt. Selbstsüchtig. Schräg. Unzuverlässig. Enttäuschend. Aber nicht gütig. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.

»Keine Ursache.«

Ein paar Kerle drängen sich durch die Fliegengittertür und versammeln sich unterm Fenster. Ich weiß, dass sie uns von dort nicht hören können.

»Wie kommt es, dass du hier, an diesem Ort, bist? Welche List des Schicksals hat unser Treffen herbeigeführt?«, fragt Balder.

Ich zucke mit den Schultern. »Jemand hat mich zu einer Party eingeladen. Und jetzt weiß ich nicht, wie ich zurück ins Motel komme.«

»Hast du Geld?«

»Nicht viel«, sage ich.

»Hmmm. Also gut, normalerweise würde ich nicht dafür plädieren zu stehlen«, sinniert er. »Aber der Idiot, der hier wohnt, versteckt sein Drogengeld in einem Glas unter dem Bett.«

»Ich weiß nicht. Carbine sieht so aus, als ob er mich mühelos killen könnte. Ich glaube nicht, dass ich mich mit ihm anlegen möchte.«

»Ich werde das tun«, sagt der Zwerg.

»Ich möchte dich nicht beleidigen, aber wie genau willst du das anstellen?«

»Ich bin an den gebunden, der mich besitzt, und nehme jede Gestalt an, die er für notwendig hält. Falls du mich in Besitz nimmst, bin ich dir zur Treue verpflichtet. Du kannst mir erlauben, dir alle meine Begabungen zur Nutzung zu übertragen.«

»Okay«, sage ich. »Und was muss ich tun?«

»Lege deine Hand auf mein Herz und sprich dabei die Worte, die dir in den Sinn kommen.«

Ich lege meine Hand an seine Brust. Sie ist kalt, nass und aus Keramik, und ich fühle mich wie ein Idiot erster Klasse. »Ich, Cameron Smith, gewähre diesem Gartenzwerg Schrägstrich möglicherweise deplatziertem Wikingergott Balder den Gebrauch all seiner Talente, wo und wie es ihm angemessen erscheint. Und so.«

Sofort spüre ich ein Klopfen an meiner Hand, gefolgt von einem zweiten – zweifellos ein Herzschlag, der stärker wird –, und schon erwärmt sich Balders Brust. Die aufgemalte Farbe wirft Blasen, löst sich ab und verschwindet in den Poren. Anstelle des Anstrichs kommt eine sonnengebräunte Haut zum Vorschein. Balders Barthaar wird weicher; Bartlöckchen berühren den Kragen seines Kettenhemdes und lassen ihn wie den exzentrischen Gitarristen einer texanischen Bluesband aussehen. Seine Wangen leuchten rot und das aufgemalte Lächeln verwandelt sich in ein sehr reales und sehr breites. Die graublauen Augen funkeln voller Staunen, zwei dünne Tränenströme sickern über die roten Wangen und verschwinden im dichten Bart. Der Gartenzwerg ist so lebendig, wie ich es bin.

»Du heilige Scheiße, Götterdämmerung!«, keuche ich.

»Edler Cameron, ich stehe immer in deiner Schuld«, sagt er mit einer kleinen, steifen Verbeugung und wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. Schon blitzt der Schalk in seinen Augen. »Und jetzt helfen wir dir. Carbines Schlafzimmerfenster ist um die Hausecke zu meiner Rechten. Wenn du mir gibst, was ihr einen Schubs nennt, werde ich durch das Fenster klettern, Beute machen und mit dem Geld zurückkehren. Es wird das Beste sein, wenn du mich an den anderen vorbeiträgst und mir dabei erlaubst, ›toter Mann‹ zu spielen, damit wir keinen Verdacht erregen. Sputen wir uns!«

 

Als Kind habe ich mir für mein Leben eine ganze Menge Szenarien vorgestellt. Ich würde Astronaut werden. Vielleicht Comiczeichner. Ein berühmter Forscher oder ein Rockstar. Nicht ein einziges Mal habe ich mich unter dem Fenster des Hauses eines Junkies namens Carbine stehen und auf einen Gartenzwerg warten sehen, der gerade dessen verstecktes Geld raubt, damit ich ein Taxi rufen kann, das mich zurück in ein billiges Motel bringt, in dem mein Freund wartet, ein neurotischer, von Todesgedanken gequälter Knirps, auf dass wir uns zusammen wieder auf den Weg machen zu einem unbekannten Ort und zu einem mysteriösen Dr. X, der mich vom Rinderwahnsinn heilen wird, und außerdem noch ein Bündel dunkler Energie davon abhalten, die Welt zu zerstören.

Fünf Minuten nachdem ich ihm reingeholfen habe, erscheint der Zwerg wieder am Fenster, mit einem großen Bündel zerknitterter Geldscheine in der Hand. »Ich fürchte, ich bin noch ein bisschen eingerostet. Pack mal meine Beine!«, flüstert er. Ich bringe ihn in Sicherheit und er drückt mir die Scheine in die Hand. »Ich habe alles genommen, dreitausend Dollar. Sicher ist sicher.«

»Boah.« Ich muss unablässig auf die Scheine starren.

»Schnell jetzt«, mahnt Balder.

Ich stopfe das Geld tief in die Taschen. »Irgendwie fühl ich mich dabei schlecht.«

»Musst du nicht«, sagt der Zwerg. Er wackelt auf zittrigen Beinen in den Garten. »Sein Reichtum ist unrechtmäßig erworben. Und einmal hat er mich als Schlampe angezogen und Fotos von mir ins Internet gestellt, auf eine Fetischseite namens Unanständige Zwerge. Ich kann den seelischen Schmerz, den ich dadurch erlitten habe, gar nicht richtig in Worte fassen. Also. Das Telefon ist im Wohnzimmer neben dem Fernseher. Ich habe hier schon mal Taxis gesehen – County Cab, 1 - 800 - 333 - 1111. Wenn du so oft wie ich entführt wurdest, dann hilft es, die Augen offen zu halten.«

»Danke«, sage ich.

»Keine Ursache.«

Nachdem ich angerufen habe, gehe ich raus und sehe, wie sich die Typen, die den Joint geraucht hatten, um Balder drängen. »Hey, Mann, ich wette, dass dieser kleine Kerl einen guten Fußball abgibt oder ne Zielscheibe.«

»Ich würde das nicht tun«, warne ich.

Der Typ, der Balder am nächsten steht, ruft: »Ja? Warum nicht? Versohlst du mir dann den Popo?«

Na großartig. Wow, ich hoffe, wir werden Freunde fürs Leben. »Nö, Mann. Ich hab nur gesehen, wie dieser große Hund ihn angepisst hat.«

Er springt schnell zurück, die anderen Typen lachen und klatschen sich gegenseitig ab. »Auuuu, Alter! Das war knapp. Hundepisse!«

Jemand steckt den Kopf aus der Tür. »Hey, sie zeigen Das Motel der lebenden Kettensägen im Nachtprogramm! Setzt eure Ärsche in Bewegung und kommt rein!«

»Geht klar! Kannibalen!«, kreischen die Typen und stolpern ins Haus.

Balder atmet erst einmal tief aus, dann verbeugt er sich: »Gut gemacht. Du bist in der Tat ein edler Mensch.« Mit seinem Kettenhemd und dem Helm erinnert er mich an einen verschrobenen, vornehmen kleinen Ritter. »Bitte erlaube mir, dein Schicksal aus den Runen zu lesen.«

»Woraus?«

»Aus den Runen«, sagt er und zieht einen kleinen Lederbeutel aus der Tasche. »Wir aus dem Norden benützen sie zu unserem Schutz und für Prophezeiungen. Hier.« Er reicht mir den Beutel. »Nimm eine.«

Ich ziehe einen geschmeidigen Stein mit einem seltsamen eingravierten »R« heraus.

»Ah«, sagt Balder und sein Gesicht leuchtet auf. »Raido. Die Rune der Reisenden. Sie bedeutet, dass jemand eine Reise unternimmt. Es ist eine wichtige Reise und man wird nicht um sie herumkommen.« Er steckt den Beutel wieder ein. »Du könntest die Dienste eines Kriegers benötigen. Ich würde mich glücklich schätzen, mit dir in die Schlacht zu ziehen, falls du dich entscheidest, mich auf deine Reise mitzunehmen.« Er wirft mir einen hoffnungsvollen Blick zu.

Wie zum Teufel soll ich das Gonzo erklären? Mein Taxi fährt am Gehsteig vor. Der Fahrer hupt einmal. Ich stehe auf und streife mir das Gras von der Jeans. »Okay, machen wir’s so: Ich reise mit einem Freund, Gonzo. Du musst auch mit ihm sprechen, weil er mich allein schon für wahnsinnig hält und ich das nicht unbedingt weiter forcieren will. Verstehst du?«

»Gewiss.«

»Wir sind auf dem Weg nach Florida. Dort gibt es einen Strand. Ich weiß nicht, ob dein Schiff dort auf dich wartet oder nicht – ich mein damit, dass ich nichts versprechen kann, aber es ist ein Versuch.«

Dieses Mal verbeugt er sich tiefer. »Die Götter haben mir wahrlich einen klugen Mann gesandt. Ich werde deine Wünsche in Ehren halten, und ich werde eine Bedingung stellen, die mich betrifft.«

»Und die wäre?«

»Dass du und dein Freund keinerlei Fotografien von mir macht, die ich nicht genehmigt habe. Ich möchte nicht auf deiner Internetseite zur Schau gestellt werden. Weder vor irgendeinem nationalen Monument noch in der Nähe einer dubiosen Werbetafel mit einer widerwärtigen Bildunterschrift. Ich hab die Nase voll davon.« Sein Gesichtsausdruck lässt keinen Zweifel daran.

»Alles klar«, sage ich.

Ich nehme ihn wie ein Baby in die Arme. Auf dem Weg zum Taxi wirft Balder einen letzten Blick zurück – auf das unkrautüberwucherte Anwesen, auf den mit Zigarettenkippen vermüllten Steingarten, auf die schrottreifen Autos. Er winkt einmal kurz, und ich denke, vielleicht wird er diesen Ort am Ende doch vermissen, aber dann krümmt er seine Finger langsam, bis nur noch der mittlere in die Höhe ragt.