Welches von unserer kühnen Flucht aus dem Krankenhaus handelt und vom Gespräch mit einem stinkenden Alten, der einen Blechhut auf dem Kopf trägt
Krankenschwestern sind wie kleine Cops. Wenn man sie braucht, sind sie nie da. Aber wenn du ihnen aus dem Weg gehen willst, sind sie überall.
»Wie kommen wir an der Schwesternstation vorbei?«, fragt Gonzo mit Panik in der Stimme, als wir die Tür einen Spalt weit öffnen und den Flur hinunterspähen, der von unserem Zimmer aus an der Schwesternstation vorbei zu den Aufzügen um die Ecke führt.
Er hat nicht ganz unrecht. Der ideale Ort für einen Herzstillstand, wie das immer in TV-Serien passiert. Dann klingelt und pfeift es überall und alle rennen aufgeregt herum. Aber wir sind hier nicht in einer Fernsehserie, wir sind in einem richtigen Krankenhaus mit kranken Menschen, die das tun, was kranke Menschen am besten können, nämlich die meiste Zeit ohne großes Gedöns herumliegen.
»Das ist eine schlechte Idee. Blasen wir das Ganze ab«, sagt Gonzo.
»Jetzt sei nicht so ein Weichei!«
»Bin ich nicht! Es ist nur, ich meine, nun komm schon, Alter. Das geht so nicht.«
Meine Augen suchen den Flur ab. Glory steht an der Schwesternstation und schwatzt mit zwei Frauen, die hinter Computerbildschirmen sitzen. Heute trägt sie ihre malvenfarbene Schwesterntracht. Ich weiß, dass sie das Engelsbändchen um den Hals hat. Irgendjemand sagt etwas Lustiges und Glory lacht. »Mein Gott, Mädchen, hilf mir«, sagt sie in diesem Tonfall, der wie Musik klingt. Rechts von uns hängt ein rotes Schild, Ausgang, das den Weg zum Treppenhaus weist.
»Mach schon«, sage ich und ziehe Gonzo aus dem Zimmer. »Schau nicht hoch. Geh einfach weiter!«
Das helle Flurlicht überflutet uns wie Wellen. Eine Putzfrau schiebt ihr Wägelchen an uns vorbei, ein Arzt schreitet vorüber und zieht einen Rattenschwanz von Assistenten hinter sich her. Besucher mit üppigen Blumengebinden und Luftballons laufen herum. Die Geschenke verschleiern Angst und Kummer, die sich in ihren Augen verbergen.
Hier will ich nicht sterben. Das ist das Einzige, was ich weiß.
Mein rechtes Bein zuckt. Es muss funktionieren. Für den Augenblick hat es die Botschaft verstanden. Wir gehen um die Ecke – und da sind die Treppen.
Aus irgendeinem Grund drehe ich mich um und lasse den Blick ein letztes Mal über den Flur schweifen. Glory hat die Schwesternstation verlassen. Mit einem Klemmbrett in der Hand macht sie sich auf ihre Runde. In höchstens fünfzehn Minuten wird sie in unser Zimmer einbiegen, um Blutdruck/Temperatur/Puls zu messen, und dann wird die Hölle losbrechen. Ich hätte gern einen größeren Vorsprung. Scheiße.
»Was ist los?«, fragt Gonz.
»Los, Beeilung!«, sage ich und dränge uns ins Treppenhaus, auf den langen Weg nach unten.
Als uns die hydraulische Eingangstür von St. Jude’s in die Welt entlässt, wechseln die Himmelsfarben des Sonnenuntergangs gerade von Blau nach Lila. Über den Lampen auf dem Parkplatz, die aussehen wie Gottesanbeterinnen, flimmern scheue Sternchen, als seien sie sich nicht sicher, ob sie ihre ganze Helligkeit jetzt schon zeigen sollen. Die Luft ist warm und süß. Ich atme so tief wie möglich ein. Es tut auf eine gute Weise weh, als ob meine Innereien mächtig gedehnt würden.
»Ah, Scheiße, Mann, koste mal diese Luft. So gut!«
»Ja, ja. Und was nun?«, fragt Gonzo und schaut nach links und nach rechts wie ein Verbrecher auf der Flucht.
»Wir müssen hier raus. Hast du dein Handy?«
Er klopft auf seine Tasche. »Ja.«
»Großartig. Ruf ein Taxi.«
»Was für ne Nummer?«
»Weiß nicht. Ruf die Auskunft an.«
»Das macht einen Dollar fünfundsiebzig, ungefähr. Meine Mutter wird mich umbringen.«
»Gonzo, sie wird dich umbringen, weil du aus dem Krankenhaus getürmt bist und mit mir auf eine außerplanmäßige Geschäftsreise gehst. Glaubst du nicht, dass ein Anruf bei der Auskunft irgendwie nebensächlich ist?«
»Ich wusste, dass das eine schlechte Idee war«, grummelt Gonzo, tippt aber trotzdem die drei Ziffern ein, und zehn Minuten später gabelt uns ein ramponiertes Taxi in der Eldorado Street auf, zwei Blocks vom Krankenhaus entfernt.
»Wohin?«, fragt der Typ und klopft auf das Taxameter.
»Gute Frage.« Gonzo starrt mich wütend an.
Das wäre ein guter Zeitpunkt für Dulcie. Sie könnte sich zeigen, ein bisschen himmlisch intervenieren und ihr Geld dorthin stecken, wo ihr »Es gibt keine Zufälle, mein Freund«-Mund ist.
Das Taxameter springt wieder fünfzehn Cent weiter und wir sind noch nicht einmal losgefahren. Ich warte auf ein Zeichen. So weit ist es gekommen: Ich glaube jetzt an übernatürliche Erscheinungen von Punkrockengeln, an allerletzte Versuche, die Welt/mein Leben zu retten, und an zufällige Zeichen, die uns den Weg weisen. Genau. Ich bin fast dabei zu sagen: »Okay, ihr habt mich erwischt – das Spiel ist aus. Fahren wir zurück zum Krankenhaus und lachen darüber bei einem hübschen Cafeteriatablett mit rätselhaftem Rindfleisch in Aspik.« Aber in dem Moment sehe ich etwas über den Dächern glitzern. Ein Zeichen, okay. Eine große schäbige Plakatwand, die für die Roadrunner Bus Company wirbt: Der lächelnde Roadrunner in voller Fahrt, so schnell, dass er eine Feder verliert. FOLGE DER FEDER ZUR BIFROST ROAD, sagt das Zeichen.
Folge der Feder.
Keine Trompeten, keine Donnerschläge, aber für den Augenblick genau das Richtige.
»Busdepot«, sage ich schließlich und hoffe, dass die Prionen in meinem Hirn richtigliegen.
Das Busdepot besteht aus dreckigen Fliesen, alten Plastikbänken, halb leeren Süßigkeitenautomaten und überquellenden Abfalleimern. Hier arbeiten Leute, denen die Chance auf einen Job in der Hölle oder im Busdepot geboten wurde und die beim Münzwurf verloren haben. Außerdem stinkt’s nach Pisse.
Ein grauhaariger Mann in Hausmeisterkittel schrubbt schmutziges Wasser mit einem noch versiffteren Wischmopp über den Boden. Eine leere Informationstafel hängt von der niedrigen Decke des nahezu verwaisten Raums. Keine Busse. Keine Info. Nichts los.
»Was jetzt?«, fragt Gonzo.
Der Mann hinterm Fahrkartenschalter schiebt nicht mal die kleine Trennscheibe beiseite, als wir davortreten.
»Hi«, sage ich, »ähm, auf der Informationstafel steht nichts.«
»Ach ja.« Er blättert die Seite seines Comichefts um, ohne hochzugucken.
»Großartig. Vielen Dank für die Auskunft«, brummelt Gonzo.
»Wann geht der nächste Bus?«, frage ich.
»Nich vor fünf nach siebn morgen früh. Aber hierbleibn könnt ihr nich. Zehn Minuten, dann wird geschlossen. Öffnen erst wieder ab sechs.«
»Okay, danke.« Ich gehe weg und lasse mich auf eine Bank fallen.
»Ich hab dir gesagt, dass das Scheiße ist.« Gonzo zieht sich einen Sprühstoß Asthmamittel rein.
Zeichen, Zeichen. Dulcie sagte, wir sollten nach »scheinbaren Zufällen« suchen. Wie sucht man nach einem Zufall? Gewöhnlich findet doch der Zufall uns und ist gerade deswegen zufällig.
Ein graugesichtiger Typ mit ausgehöhlten Wangen, der nach Pisse riecht, sitzt neben uns. Es ist derselbe Kerl, den ich am Abend, als wir bei Luigi’s waren, auf dem Parkplatz gesehen habe. Er trägt immer noch seinen Blechhut. »Was macht’n ihr Jungs?«
»Die Welt retten«, sagt Gonzo und wendet sich ab.
»Ah. Gut. Es geht zu Ende, wisst ihr. Alles geht den Bach runter. Deshalb hab ich mir so ein Ding aufgesetzt.« Er zeigt auf seine zerknautschte Silberkappe.
»Hank, lass die Jungs in Ruhe, sofort.« Der Typ mit dem Mopp hat uns erreicht.
»Verpiss dich«, bellt der alte Mann. Er holt eine Tasche hervor und inspiziert den Inhalt.
»’tschuldigung«, sagt der Hausmeistertyp. »Könnt ihr mal bitte eure Füße heben? Muss diesen Fleck wegwischen.«
Pflichtbewusst heben Gonz und ich die Beine wie eine Zugbrücke und er wischt unter uns durch.
»Es fährt kein Bus mehr heut Nacht, Alter«, sagt Gonzo. »Gib’s auf!«
Der alte Penner hört auf, in seiner Tasche herumzuwühlen. »Doch. Es fährt einer. Er wartet unten.«
Fragend schaue ich den Mopptypen an. Er unterbricht die Arbeit gerade so lange, dass er sich mit dem Arm über die schweißnasse Stirn wischen kann. »Na ja, da fährt noch einer heut Nacht, aber er steht nicht auf dem offiziellen Fahrplan. Ist ne private Linie, Die Fleur-de-Lys.«
»Das klingt wie ein Porno«, flüstert Gonzo nervös. »Klingt das für dich nicht wie’n Porno?«
Ich beachte ihn nicht. »Wo geht’s hin?«
»Wo denkst du, dass es hingeht?«, sagt der Penner. »New Orleans. Das da ist der Mardi-Gras-Bus, mein Sohn. Wir haben bald Mardi Gras.«
»Danke.«
»Keine Ursache«, sagt er. »Wenn schon die Welt untergeht, kann man ebenso gut Spaß haben.«
»Gonz«, sage ich und wühle in meiner Tasche nach Geld, »was hältst du von New Orleans?«
»Was? Du weißt nicht sicher, ob das der richtige Bus ist?«
»Nein, weiß ich nicht. Aber es ist der einzige Bus. Schau mal, ich weiß, dass scheint alles ein bisschen bescheuert …«
»Nein, Alter. Ich würde mich wahnsinnig freuen, wenn dieser Plan bescheuert wäre. Aber er ist einfach nur absolut irrsinnig.«
»Du hast recht. Es ist das absolut Irrsinnigste, was ich jemals in meinem Leben getan habe. Also kaufe ich zwei Fahrkarten oder eine?«
Gonzo reibt seine Spraydose wie einen Talisman. »Okay. Ich bin dabei. Aber wenn wir diesen Dr. X in New Orleans nicht finden und erfahren, was er für mich tun kann, sitz ich im ersten Bus zurück.«
»In Ordnung.«
Ich öffne mein Portemonnaie. Meine Kreditkarte – die, die mir mein Vater gegeben hat, um meine finanzpolitische Verantwortung zu schulen –, meine Kreditkarte ist noch da. Mein Kreditlimit liegt bei satten fünfhundertfünfzig Dollar.
Ich renne zum Schalterfenster und klopfe an die kugelsichere Scheibe. Der Mann dahinter schaut kaum hoch. »Ja?«
»Was kosten zwei Tickets für den Fleur-de-Lys?«
Mit einem Seufzer legt der Mann sein Buch beiseite. »Mit Steuern macht das zweihundertachtundsiebzig Dollar und zweiundfünfzig Cent«, sagt er.
Er liest die Kreditkarte ein, lässt mich unterschreiben, gibt uns die Tickets, und Gonzo und ich rennen zum letzten Bus der Nacht.