Nachschrift

Roswell Road

Aus dem Tagebuch der Sara Fisher (»Das Buch Sara«)

Vorgelegt auf der Dritten Internationalen Tagung zur Nordamerikanischen Quarantäne-Periode

Zentrum zur Erforschung menschlicher Kulturen und Konflikte

University of New South Wales, Indo-Australische Republik

16. – 21. April 1003 n.V.

Tag 268

Drei Tage, seit wir die Farm verlassen haben. Heute Morgen kurz nach Sonnenaufgang haben wir New Mexico erreicht. Die Straße ist in sehr schlechtem Zustand, aber Hollis ist sicher, dass es die Route 60 ist. Flaches, weites Gelände, aber im Norden können wir Berge sehen. Ab und zu steht ein großes, leeres Schild am Straßenrand, überall sind verlassene Autos, und manche versperren den Weg, sodass wir nur langsam vorankommen. Das Baby ist unruhig und schreit. Ich wünschte, Amy wäre hier, um es zu beruhigen. Die letzte Nacht mussten wir im Freien verbringen, und deshalb sind alle erschöpft und fauchen einander an, sogar Hollis. Allmählich machen wir uns wieder Sorgen wegen des Benzins. Wir haben nur noch das, was im Tank ist, und einen Extrakanister. Hollis meint, bis Roswell sind es noch fünf Tage, vielleicht sechs.

Tag 269

Die Stimmung bessert sich. Heute haben wir das erste Kreuz gesehen, einen großen roten Klecks an einem fünfzig Meter hohen Getreidesilo. Maus war oben auf dem Wagendach und hat es als Erste gesehen. Alle fingen an zu jubeln. Wir verbringen die Nacht in einem Betonbunker direkt dahinter. Hollis vermutet, es war früher eine Art Pumpwerk. Dunkel, klamm, und überall Rohre. In Tonnen lagert dort Dieselöl, wie Greer es gesagt hat. Wir haben welches abgezapft und in den Humvee geschüttet, bevor wir uns für die Nacht eingeschlossen haben. Es gibt keine Schlafgelegenheiten, nur den harten Zementboden, aber wir sind jetzt so nah bei Albuquerque, dass niemand im Freien schlafen möchte.

Seltsam und schön, mit einem Baby in einem Raum zu schlafen und die kleinen Geräusche zu hören, die es macht, selbst wenn es schläft. Ich habe Hollis die Neuigkeit noch nicht erzählt; ich will erst sicher sein. Halb glaube ich, er weiß es schon. Wie kann er es nicht wissen? Es steht mir sicher ins Gesicht geschrieben. Immer wenn ich daran denke, kann ich nicht aufhören zu lächeln. Heute Abend habe ich Maus dabei ertappt, wie sie mich anstarrte, als wir den Sprit zum Wagen brachten. Was ist?, habe ich gefragt. Was starrst du so? Und sie hat gesagt: Nur so. Aber wenn du was brauchst, sagst du es mir, ja, Sara? Ich habe so unschuldig wie möglich geguckt, und das war nicht einfach. Nein, habe ich gesagt, was redest du denn da, und sie hat gelacht und gesagt, na okay, mir soll’s recht sein.

Ich weiß nicht, warum ich das denke, aber wenn es ein Junge ist, will ich ihn Joe nennen, und wenn es ein Mädchen ist, soll sie Kate heißen. Nach meinen Eltern. Seltsam, aber wenn man über etwas glücklich ist, kann einen das genauso traurig über etwas anderes machen.

Wir denken alle an die andern, und wir hoffen, es geht ihnen gut.

Tag 270

Heute Morgen lauter Fußspuren rings um den Humvee. Sieht aus, als wären es drei gewesen. Wieso sie nicht versucht haben, in den Bunker einzudringen, ist uns ein Rätsel. Sie haben uns sicher gewittert. Hoffentlich haben wir noch genug Zeit, uns zu verbarrikadieren, wenn wir heute nach Soccoro kommen.

Tag 270 (noch einmal)

Soccoro. Hollis ist ziemlich sicher, dass die Bunker Teil einer alten Gas-Pipeline sind. Wir haben für die Nacht alles dicht gemacht. Jetzt warten wir [unleserlich]

Tag 271

Sie waren wieder da. Mehr als drei, viel mehr. Wir haben die ganze Nacht gehört, wie sie an den Wänden des Bunkers gescharrt haben. Heute Morgen überall Spuren, zu viele, um sie zu zählen. Die Frontscheibe des Humvee war eingeschlagen und fast alle Seitenfenster. Was wir im Wagen gelassen hatten, war überall auf dem Boden verstreut, zerschlagen und zerfetzt. Ich fürchte, es ist nur eine Frage der Zeit, wann sie versuchen, in einen der Bunker einzudringen. Ob die Riegel an den Türen dann halten? Caleb schreit die halbe Nacht, egal, was Maus mit ihm anstellt. Wo wir sind, ist kein Geheimnis. Was mag sie hindern?

Jetzt ist es ein Wettrennen. Das wissen alle. Heute fahren wir quer durch das Raketentestgelände White Sands zu dem Bunker in Carrizozo. Ich möchte es Hollis erzählen, aber ich tue es nicht. Ich kann es einfach nicht, nicht so. Ich werde warten, bis wir in der Garnison sind. Das soll uns Glück bringen.

Ob das Baby weiß, wie viel Angst ich habe?

Tag 272

Heute Nacht keine Sichtung. Alle sind erleichtert. Hoffentlich haben wir sie abgehängt.

Tag 273

Der letzte Bunker vor Roswell. Ein Ort namens Hondo. Ich fürchte, das wird mein letzter Eintrag werden. Den ganzen Tag über sind sie uns gefolgt, im Schutz der Bäume. Wir hören sie draußen, und dabei wird es gerade erst Abend. Caleb will einfach nicht still sein. Maus hält ihn nur noch auf dem Arm, und er schreit und schreit. Sie wollen Caleb, sagt sie immer wieder. Sie wollen Caleb.

Oh, Hollis. Es tut mir so leid, dass wir die Farm verlassen haben. Ich wünschte, wir hätten es haben können, dieses Leben. Ich liebe dich ich liebe dich ich liebe dich.

Tag 275

Ich sehe mir an, was ich zuletzt geschrieben habe, und ich kann nicht fassen, dass wir noch leben, dass wir diese furchtbare Nacht irgendwie hinter uns gebracht haben.

Die Virals haben nicht angegriffen. Als wir heute Morgen die Tür aufmachten, lag der Humvee auf der Seite in einer Lache von Flüssigkeit. Er sah aus wie ein großer Vogel, der mit gebrochenen Flügeln auf die Erde gestürzt war. Der Motor ist irreparabel zerschmettert. Die Haube lag hundert Meter weiter weg. Sie hatten die Reifen abgerissen und zerfetzt. Wir hatten Glück, dass wir die Nacht überstanden haben, aber jetzt hatten wir kein Fahrzeug mehr. Nach der Karte waren es noch fünfzig Kilometer bis zur Garnison. Möglich – aber Theo würde es niemals schaffen. Maus wollte bei ihm bleiben, aber natürlich hat er nein gesagt, und keiner von uns hätte es zugelassen. Wenn sie uns letzte Nacht nicht umgebracht haben, sagte Theo, dann stehe ich sicher auch noch eine durch, wenn es sein muss. Marschiert los, und nutzt das Tageslicht aus, und wenn ihr da seid, schickt ein Fahrzeug her. Aus einem Stück Seil und einem Fetzen von einem Sitzpolster hat Hollis eine Schlinge für Caleb gemacht, in der Maus ihn tragen kann, und dann hat Theo die beiden zum Abschied geküsst und die Tür zugeschlagen und die Riegel vorgeschoben, und wir sind losmarschiert. Wir haben nur Wasser und unsere Gewehre mitgenommen.

Wie sich herausstellte, waren es mehr als fünfzig Kilometer, viel mehr. Die Garnison war auf der anderen Seite der Stadt. Aber das machte nichts, denn kurz nach Halbtag wurden wir von einer Patrouille aufgelesen. Es war ausgerechnet Lieutenant Eustace. Er war so was von verblüfft, als er uns sah. Sie haben jetzt einen Humvee zurück zum Bunker geschickt, und wir sind alle heil und gesund hinter den Mauern der Garnison.

Ich schreibe dies im Essenszelt für Zivilisten (es gibt drei Messen, eine für Mannschaften, eine für Offiziere und eine für zivile Arbeiter). Alle andern sind schon ins Bett gegangen. Der Kommandant hier heißt Crukshank. Ein General wie Vorhees, aber damit hört die Ähnlichkeit auch schon auf. Bei Vorhees konnte man sehen, dass hinter all der militärischen Strenge ein fröhlicher Mensch steckte, aber Crukshank sieht aus wie ein Mann, der in seinem Leben noch kein Lächeln zustande gebracht hat. Außerdem habe ich den Eindruck, dass Greer einen ziemlichen Ärger hat, und das scheint Auswirkungen auf uns alle zu haben. Morgen früh um sechs sind wir zur Nachbesprechung bestellt, und dann können wir die ganze Geschichte erzählen. Im Vergleich zur Garnison Roswell erscheint die in Colorado mickrig. Ich schätze, sie ist fast so groß wie die Kolonie, und sie hat gigantische Betonmauern mit Stahlstreben, die in den Exerzierplatz hineinreichen. Wenn ich sie beschreiben soll, kann ich nur sagen, sie sieht aus wie eine nach innen gestülpte Spinne. Ein Meer von Zelten und festen Gebäuden. Den ganzen Abend über sind Fahrzeuge hereingekommen – riesige Tanklaster und Fünftonner mit Männern und Gewehren und Kisten und mit Reihen von Scheinwerfern auf den Kabinendächern. Die Luft ist erfüllt von Motorengedröhn, Dieselqualm und den sprühenden Funken der Fackeln. Morgen werde ich das Krankenrevier suchen und sehen, ob ich mich dort nützlich machen kann. Es sind noch andere Frauen hier, nicht viele, aber ein paar, und die meisten gehören zum Sanitätskorps. Solange wir uns in den zivilen Bereichen aufhalten, können wir uns frei bewegen.

Der arme Hollis. Er war so geschafft, dass ich keine Gelegenheit hatte, es ihm zu erzählen. So wird dies die letzte Nacht sein, in der ich mit meinem Geheimnis allein bin, bevor jemand davon erfährt. Ich frage mich, ob es hier jemanden gibt, der uns verheiraten kann. Vielleicht der Kommandant. Aber Crukshank scheint mir nicht der Typ zu sein, und vielleicht sollte ich auch besser warten, bis Michael mit uns zusammen in Kerrville ist. Er sollte derjenige sein, der mich meinem Mann übergibt. Es wäre nicht fair, es ohne ihn zu tun.

Ich müsste erschöpft sein, aber ich bin es nicht. Ich bin viel zu aufgedreht, um zu schlafen. Wahrscheinlich bilde ich es mir ein, aber wenn ich die Augen schließe und ganz still sitze, dann könnte ich schwören, ich fühle das Baby in mir. Nicht dass es sich bewegt – so nicht, dazu ist es noch viel zu früh. Es ist nur eine warme und hoffnungsvolle Anwesenheit, diese neue Seele, die ich in meinem Körper trage und die darauf wartet, zur Welt zu kommen. Ich fühle mich … wie sagt man? Glücklich. Ich fühle mich glücklich.

Draußen wird geschossen. Ich werde nachsehen.

*******************ENDE DES DOKUMENTS***************

Geborgen auf dem Gelände Roswell (»Roswell-Massaker«)

Abschnitt 16, Marker 267

33,39 N, 104,53 W

2. Schicht, Tiefe 2,1 Meter

Katalognummer BL 1894.02

Passage Trilogie Bd. 1 - Der Übergang
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