6

Lacey wachte auf, allein. Sie hörte nur den Gesang der Vögel und das sanfte Rauschen des Regens, der auf das Laub vor ihrem Fenster wehte.

Amy.

Wo war Amy?

Sofort stand sie auf, warf sich den Bademantel über und lief die Treppe hinunter. Aber als sie unten ankam, hatte die Panik schon nachgelassen. Sicher war das Kind einfach aufgestanden, um sich auf die Suche nach einem Frühstück zu machen, um fernzusehen oder um sich einfach umzuschauen. Lacey fand das Mädchen in der Küche am Tisch, noch im Pyjama und mit einem Teller Frühstückswaffeln vor sich. Schwester Claire saß am Kopfende des breiten Tisches, im Jogginganzug nach ihrem Lauf durch den Overton Park. Sie trank Kaffee und las den Commercial Appeal. Schwester Claire war noch keine richtige Schwester, sondern Novizin. Die Schultern ihres Sweatshirts waren gesprenkelt vom Regen, und ihr Gesicht war feucht und rot.

Sie ließ die Zeitung sinken und lächelte Lacey an. »Schön, du bist wach. Wir haben schon gefrühstückt, nicht, Amy?«

Die Kleine nickte und kaute. Bevor sie in den Orden eingetreten war, hatte Schwester Claire in Seattle Häuser verkauft, und als Lacey sich an den Tisch setzte, sah sie, was die Schwester gelesen hatte: den Immobilienteil der Sonntagsausgabe. Wenn Schwester Arnette das gesehen hätte, wäre sie erzürnt gewesen, das wusste sie, und vielleicht hätte sie sogar eine ihrer spontanen Predigten über die Ablenkungen des materiellen Lebens gehalten. Aber nach der Uhr am Herd war es kurz nach acht: Die anderen Schwestern waren nebenan in der Messe. Lacey verspürte jähe Verlegenheit. Wie hatte sie so lange schlafen können?

»Ich war schon in der Frühmesse«, sagte Claire, als habe sie ihre Gedanken gelesen. Schwester Claire ging oft vor dem Joggen in die Sechs-Uhr-Messe. Ihr tägliches Laufen bezeichnete sie auch als Besuch bei »Unserer Lieben Frau von den Endorphinen«. Anders als die übrigen Schwestern, die nie etwas anderes gewesen waren, hatte Claire früher ein ganz normales Leben geführt, das nichts mit dem Orden zu tun gehabt hatte: Sie war verheiratet gewesen, hatte Geld verdient und Dinge besessen, zum Beispiel eine Eigentumswohnung und einen Honda Accord. Ihre Berufung hatte sie erst verspürt, als sie Ende dreißig und von dem Mann geschieden war, den sie einmal als den »schlimmsten Ehemann der Welt« bezeichnet hatte. Einzelheiten kannte da niemand außer vielleicht Schwester Arnette, und für Lacey war Claires Leben ein Quell des Staunens. Wie konnte ein Mensch zwei Leben haben, die sich so sehr voneinander unterschieden? Manchmal sagte Claire Dinge wie »Die Schuhe da sind süß« oder »Das einzige gute Hotel in Seattle ist das Vintage Park«, und dann verfielen alle Schwestern in ein verdattertes Schweigen, das nur halb aus Missbilligung, halb aber auch aus Neid bestand. Claire war diejenige gewesen, die für Amy einkaufen gegangen war, und unausgesprochen war damit gesagt worden, dass sie die Einzige unter ihnen war, die davon etwas verstand.

»Wenn du dich beeilst, schaffst du es noch zur Acht-Uhr-Messe«, schlug Claire vor. Aber natürlich war es zu spät. Eigentlich meinte Claire etwas anderes, und das wusste Lacey. »Ich kann auf Amy aufpassen.«

Lacey sah die Kleine an. Ihr Haar war zerzaust vom Schlafen, doch ihre Haut und ihre Augen leuchteten ausgeruht. Lacey fuhr ihr mit den Fingerspitzen durch den Pony. »Das ist sehr nett von dir«, sagte sie. »Vielleicht kannst du heute, nur ausnahmsweise, weil Amy hier ist …«

»Sprich nicht weiter«, sagte Schwester Claire und fiel ihr lachend mit erhobener Hand ins Wort. Erleichterung durchströmte Lacey. »Ich spring für dich ein.«

Der bevorstehende Tag nahm in ihrem Kopf Gestalt an, und als sie jetzt am Tisch saß, erinnerte sie sich an ihren Plan mit dem Zoo. Wann öffnete er? Und wie war es mit dem Regen? Am besten, sie ging den Schwestern aus dem Weg, dachte sie. Nicht nur, weil sie sich fragen würden, warum Lacey nicht in der Messe gewesen war – sie würden vielleicht auch anfangen, Fragen wegen Amy zu stellen. Bis jetzt hatte die Lüge funktioniert, aber Lacey spürte, wie mürbe sie war – wie morsche Bodendielen unter ihren Füßen.

Als Amy ihre Waffeln und ein großes Glas Milch vertilgt hatte, ging Lacey mit ihr zurück nach oben und zog sie rasch an: eine frische Jeans, ganz steif, weil sie so neu war, und ein T-Shirt mit dem von Pailletten umrahmten Aufdruck »Frechdachs«. Nur Schwester Claire konnte die Kühnheit besitzen, so etwas auszusuchen. Schwester Arnette würde das T-Shirt überhaupt nicht gefallen. Wenn sie es sähe, würde sie wahrscheinlich seufzen und den Kopf schütteln, und die Luft im Zimmer würde sich mit einem sauren Geruch erfüllen. Doch Lacey wusste, dass das Shirt perfekt war – genau das, was ein kleines Mädchen gern tragen würde. Die Pailletten machten es zu etwas Besonderem, und sicher würde Gott wollen, dass ein Kind wie Amy so etwas bekam: ein bisschen Glück, und sei es noch so klein. Im Bad wusch sie ihr den Sirup von den Wangen und bürstete ihr das Haar, und dann zog sie sich selbst an: den üblichen grauen Faltenrock, die weiße Bluse und die Haube. Der Regen draußen hatte aufgehört; warmer Sonnenschein breitete sich gemächlich im Garten aus. Es würde ein heißer Tag werden, vermutete Lacey; eine Hitzewelle folgte von Süden her auf die Kaltfront, die während der ganzen Nacht den Regen über das Haus getrieben hatte.

Sie hatte ein bisschen Bargeld, genug für Eintrittskarten und etwas Süßes, und zum Zoo konnten sie natürlich zu Fuß gehen. Sie traten hinaus in eine Luft, die sich allmählich mit Wärme und dem süßen Duft des nassen Grases füllte. Die Kirchenglocken hatten angefangen zu läuten; die Messe würde jeden Augenblick vorbei sein. Schnell führte sie Amy durch das Gartentor, durch den würzigen Duft der Kräuter – Rosmarin, Estragon und Basilikum –, die Schwester Louise so sorgsam pflegte, und hinaus in den Park, wo sich schon jetzt die Leute sammelten, um den ersten warmen Frühlingstag zu genießen und die Sonne zu kosten und auf der Haut zu spüren: junge Leute mit Hunden und Frisbees, Jogger, die keuchend auf den Wegen entlangliefen, und Familien, die Klapptische und Grills aufstellten. Der Zoo lag am Nordende des Parks, flankiert von einer breiten Hauptstraße, die das Viertel zerschnitt wie eine Klinge. Die großen Häuser und die weiten, majestätischen Rasenflächen der alten Midtown auf der anderen Seite waren vergessen; an ihrer Stelle standen ärmliche Einfamilienhäuser mit eingestürzten Veranden und halb zerlegten Schrottautos, die langsam im Lehm der Vorgärten versanken. Junge Männer lungerten dort wie Tauben auf den Straßen herum, ließen sich an dieser oder jener Ecke nieder und gingen dann weiter, und über allem lag eine betäubende Langeweile von unbestimmter Bedrohlichkeit. Lacey hätten die Leute dort eigentlich mehr ans Herz gehen müssen, aber die Schwarzen, die in dieser Gegend wohnten, waren anders als sie, die nie arm gewesen war, zumindest nicht auf diese Weise. In Sierra Leone hatte ihr Vater beim Ministerium gearbeitet; ihre Mutter hatte einen Wagen und einen Fahrer gehabt, der sie zum Einkaufen nach Freetown oder zu Polo-Spielen gefahren hatte, und einmal waren sie auf einer Party gewesen, wo angeblich der Präsident persönlich mit ihr einen Walzer getanzt hatte.

Am Rande des Zoos veränderte sich die Luft; sie roch jetzt nach Erdnüssen und Tieren. Am Eingang hatte sich schon eine Schlange gebildet. Lacey kaufte die Eintrittkarten und zählte das Wechselgeld sorgfältig ab, und dann nahm sie Amy wieder bei der Hand und ging mit ihr durch das Drehkreuz. Amy trug ihren Rucksack mit Peter, dem Hasen. Als Lacey vorgeschlagen hatte, ihn zu Hause zu lassen, hatte sie an dem kurzen Aufblitzen im Auge des Mädchens sofort erkannt, dass dies nicht in Frage kam. Diesen Rucksack würde die Kleine niemals irgendwo zurücklassen.

»Wohin möchtest du zuerst?«, fragte Lacey. Ein paar Schritte hinter dem Eingang stand ein Kiosk mit einem großen Lageplan, auf dem unterschiedliche Farben anzeigten, wo sich die verschiedenen Gehege und Tierarten befanden. Ein weißes Paar studierte den Plan. Der Mann trug eine Kamera an einer Kordel um den Hals, und die Frau bewegte einen Kinderwagen sanft hin und her. Das Baby lag unter einem Berg von rosa Decken begraben und schlief. Die Frau sah Lacey und musterte sie einen Moment lang argwöhnisch: Was tat eine schwarze Nonne mit einem weißen Mädchen? Aber dann lächelte sie – ein bisschen gezwungen, ein Lächeln der Entschuldigung, des Rückzugs –, und das Paar ging weiter.

Amy spähte zu dem Plan hinauf. Lacey wusste nicht, ob das Mädchen lesen konnte, neben der Schrift gab es jedoch auch Bilder.

»Ich weiß nicht«, sagte Amy. »Zu den Bären?«

»Was für welche?«

Die Kleine überlegte kurz, und ihr Blick wanderte über die Bilder. »Eisbären«, entschied sie, und dabei trat ein erwartungsvolles Leuchten in ihre Augen. Sie würden gemeinsam durch den Zoo gehen und sich die Tiere ansehen, ganz so, wie Lacey es erhofft hatte. Während sie noch dastanden, kamen immer mehr Leute durch das Drehkreuz, und bald wimmelte es im Zoo von Besuchern. »Und dann weiter zu den Zebras und Elefanten und Affen.«

»Wunderbar.« Lacey lächelte. »Wir werden uns alles anschauen.«

An einem Verkaufsstand kauften sie eine Tüte Erdnüsse und gingen weiter in den Zoo hinein, in eine dichte Wolke von Gerüchen und Geräuschen gehüllt. Als sie sich dem Eisbärengehege näherten, hörten sie Lachen und Planschen und laute Schreie, ein Gewirr von jungen und alten Stimmen, begeistert und entsetzt zugleich. Amy ließ Laceys Hand los und rannte voraus.

Lacey drängte sich zwischen den Schultern der Menschen vor der Eisbärenanlage hindurch. Amy stand mit dem Gesicht dicht vor der Glasscheibe, die eine Unterwasseransicht des Bärenbassins ermöglichte – ein kurioser Anblick in der Hitze von Memphis: Steinblöcke, die so angestrichen waren, dass sie wie Eisschollen aussahen, in einem tiefen, arktisch blauen Becken. Drei Eisbären lagen in der Sonne hingestreckt wie große Kaminvorleger, und ein vierter paddelte mit seinen gewaltigen Pranken im Wasser. Er schwamm geradewegs auf Amy und Lacey zu und stieß mit der Nase an die Scheibe. Lacey hörte sich selbst aufschreien, und ein angenehmer Schreck fuhr durch ihre Wirbelsäule bis in ihre Füße und Fingerspitzen. Amy streckte die Hand aus und berührte das beschlagene Glas dicht vor dem Gesicht des Eisbären. Der Bär riss die Schnauze auf. Man sah seine rosarote Zunge.

»Vorsicht«, warnte ein Mann hinter ihnen. »Die sehen vielleicht niedlich aus, aber für sie bist du nur ein Mittagessen, Kleine.«

Erschrocken drehte Lacey sich um und suchte nach dem Sprecher. Wer war dieser Mann, der einem Kind solche Angst einjagen wollte? Aber keins der Gesichter hinter ihr erwiderte ihren Blick; alle lachten und beobachteten die Bären.

»Amy«, sagte sie leise und legte dem Kind eine Hand auf die Schulter, »vielleicht ist es besser, sie nicht zu reizen.«

Amy schien sie nicht zu hören. Sie drückte die Nase an die Glasscheibe. »Wie heißt du?«, fragte sie den Bären.

»Langsam, Amy«, sagte Lacey. »Nicht so nah.«

Amy streichelte die Scheibe. »Er hat einen Bärennamen. Ich kann ihn nicht aussprechen.«

Lacey zögerte. War das ein Spiel? »Der Bär hat einen Namen?«

Das Mädchen schaute blinzelnd zu ihr auf, und ein wissendes Leuchten lag auf ihrem Gesicht. »Natürlich hat er einen Namen.«

»Und den hat er dir gesagt.«

In diesem Augenblick erhob sich ein mächtiges Platschen im Becken. Ein Aufschrei ging durch die Menge. Ein zweiter Bär war ins Wasser gesprungen, und er – sie? – paddelte durch das Blau auf Amy zu. Jetzt waren es zwei Tiere, so groß wie Autos, die nur eine Handbreit vor dem Mädchen an die Scheibe stießen. Ihr weißes Fell kräuselte sich in der Strömung unter Wasser.

»Sieh dir das an«, sagte jemand. Es war die Frau, die Lacey am Kiosk gesehen hatte. Sie stand neben ihnen und hielt ihr Baby wie eine Puppe an die Glasscheibe. Ihr langes Haar war straff nach hinten gebunden, sie trug Shorts, ein T-Shirt und Flip-Flops. Durch das T-Shirt konnte Lacey den immer noch schlaffen Bauch der Frau erkennen. Das kam bestimmt von der Schwangerschaft. Der Mann stand hinter ihr. Er bewachte den leeren Kinderwagen und hielt seine Kamera in der Hand.

»Ich glaube, die mögen dich, Süße«, sagte die Frau zu Amy. »Sieh doch, Mäuschen«, sang sie und ließ das Baby auf und ab wippen, sodass es mit den Armen flatterte wie ein Vogel. »Da sind die Eisbären. Da sind die Eisbären, mein Mäuschen. Schatz, knips uns. Knips … uns … doch.«

»Ich kann nicht«, sagte der Mann. »Du schaust in die falsche Richtung. Du musst sie umdrehen.«

Die Frau seufzte genervt. »Na los, jetzt knips schon, solange sie lacht. Ist das so schwer?«

Lacey beobachtete das alles, und dann geschah es: ein zweites Klatschen und, ehe sie sich umdrehen konnte, ein drittes. Das Glas vor ihr schien sich zu wölben. Eine Welle schwappte über die Scheibe hinweg und ergoss sich auf die Zuschauermenge. Alle sahen, was passierte, aber niemand konnte etwas tun.

»Vorsicht!«

Das eiskalte Wasser traf Lacey wie ein Schlag und füllte Nase, Mund und Augen mit Salzgeschmack. Sie fuhr zurück. Schreie ertönten wie im Chor um sie herum. Neben ihr hörte sie das Baby weinen, und dann die Mutter: Weg hier, weg! Lacey wurde angerempelt, und sie merkte, dass sie die Augen geschlossen hatte, um sie vor dem brennenden Salzwasser zu schützen. Sie taumelte rückwärts, stolperte und fiel auf ein Knäuel von Menschen. Sie wartete auf das Krachen des berstenden Glases, auf das Rauschen des entfesselten Wassers.

»Amy!«

Sie riss die Augen auf und sah, dass ein Mann sie anstarrte, nur eine Handbreit von ihrem Gesicht entfernt. Es war der Mann mit der Kamera. Dann war alles still. Das Glas hatte gehalten.

»Verzeihung«, sagte der Mann. »Alles in Ordnung, Schwester? Ich muss gestolpert sein.«

»Verdammt noch mal!«, schrie die Frau. Sie stand vor ihnen, Kleider und Haare durchnässt. Das Baby schrie an ihrer Schulter, und ihr Gesicht war wütend. »Was hat Ihre Göre getan?«

Lacey begriff, dass sie mit ihr sprach.

»Es tut mir leid …«, begann sie. »Ich habe nicht …«

»Sehen Sie doch, was sie macht!«

Die Menge war vor der Glasscheibe zurückgewichen, und alle Blicke waren auf das kleine Mädchen mit dem Rucksack gerichtet, das davor kniete und die Hände an die Scheibe gelegt hatte. Die vier Eisbären drängten sich vor ihr zusammen.

Lacey rappelte sich auf und trat rasch neben sie. Amy hielt den Kopf gesenkt, und das Wasser tropfte ihr von den Haaren auf die Knie. Lacey sah, dass sie die Lippen bewegte wie im Gebet.

»Amy, was ist denn?«

»Das Kind spricht mit den Eisbären!«, rief jemand, und ein erstauntes Raunen ging durch die Menge. »Seht euch das an, seht euch das an!«

Kameras klickten. Lacey hockte sich neben Amy und strich ihr die dunklen Haarsträhnen aus dem Gesicht. Tränen liefen über Amys Wangen und mischten sich mit dem Wasser aus dem Becken. Irgendetwas ging hier vor sich. »Sag’s mir, Kind.«

»Sie wissen es«, sagte Amy leise und drückte die Hände an die Scheibe.

»Was wissen die Eisbären?«

Das Mädchen sah sie an. Lacey war wie vom Donner gerührt; noch nie hatte sie so viel Trauer im Blick eines Kindes gesehen, so viel leidvolles Wissen. Aber als sie ihr forschend in die Augen schaute, sah sie keine Angst. Was immer Amy hier erfahren hatte, sie hatte es akzeptiert.

»Was ich bin«, sagte sie.

Schwester Arnette saß in der Küche im Konvent der Barmherzigen Schwestern, und sie hatte beschlossen, etwas zu unternehmen.

Es wurde neun Uhr, neun Uhr dreißig, zehn. Lacey und das Mädchen waren immer noch nicht zurück von dort, wohin sie gegangen waren. Schwester Claire hatte die Geschichte letztlich preisgegeben: Lacey habe die Messe geschwänzt, die beiden seien kurz danach weggegangen, und das Kind habe seinen Rucksack mitgenommen. Claire habe vom Fenster aus gesehen, wie sie durch das Gartentor in Richtung Park gegangen waren.

Lacey führte irgendetwas im Schilde. Arnette hätte es wissen müssen.

An der Geschichte mit dem Kind stimmte etwas nicht, das hatte sie sofort gewusst – vielleicht nicht gewusst, aber doch gespürt, und aus dem Saatkorn des Argwohns war über Nacht die Gewissheit gewachsen, dass hier etwas nicht in Ordnung war. Schwester Arnette wusste es einfach.

Und jetzt war ein kleines Mädchen verschwunden.

Keine der anderen Schwestern wusste Bescheid über Lacey. Selbst Schwester Arnette hatte die ganze Geschichte erst erfahren, als das Büro der Generaloberin den psychiatrischen Bericht geschickt hatte. Arnette erinnerte sich, dass sie in den Nachrichten etwas darüber gehört hatte, vor all den Jahren, aber passierte so etwas nicht immer irgendwo, vor allem in Afrika? In diesen furchtbaren kleinen Ländern, wo ein Menschenleben anscheinend nichts wert war und Sein Wille seltsamer und undurchschaubarer war als irgendwo sonst? Es war herzzerreißend, entsetzlich, doch der Verstand konnte solche Geschichten letztlich nur in begrenzter Zahl fassen. Arnette hatte das alles wieder vergessen, und jetzt war Lacey hier, in ihrer Obhut, und niemand sonst kannte die Wahrheit. Lacey war, das musste sie zugeben, in fast jeder Hinsicht eine vorbildliche Schwester, wenn auch ein bisschen verschlossen, vielleicht ein wenig zu mystisch in ihrer Frömmigkeit. Lacey behauptete – und zweifellos glaubte sie es auch –, ihre Eltern und ihre Schwestern seien noch in Sierra Leone, wo sie zu Bällen im Palast gingen und ihre Polo-Pferde ritten. Seit dem Tag, an dem sie von UN-Friedenstruppen in ihrem Versteck auf einem Feld gefunden und zu den Schwestern gebracht worden war, hatte sie nie etwas anderes gesagt. Das war natürlich eine Gnade; es war Gottes Barmherzigkeit, die sie vor der Erinnerung an das Geschehene beschützte. Denn nachdem die Soldaten ihre Familie ermordet hatten, waren sie nicht einfach weggegangen. Sie waren bei Lacey auf dem Feld geblieben, Stunden um Stunden, und das kleine Mädchen, das sie dann für tot gehalten hatten, hätte ebenso gut tot sein können, wenn Gott sie nicht beschützt hätte, indem er diese Ereignisse aus ihrem Kopf getilgt hatte. Dass Er beschlossen hatte, sie in diesem Augenblick nicht zu Sich zu nehmen, war nur ein Ausdruck Seines Willens, den Arnette nicht in Frage zu stellen hatte. Es war eine Bürde, dieses Wissen und die Sorge, die es begleitete, und Arnette musste sie schweigend tragen.

Aber jetzt war das Mädchen da. Diese Amy. Äußerst höflich, still wie ein Geist – aber war es nicht offensichtlich, dass die ganze Sache nicht stimmte? Sie war völlig unglaubwürdig. Jetzt, da sie darüber nachdachte, war Laceys Geschichte alles andere als plausibel. Sie war eine Freundin der Mutter? Unmöglich. Außer zur Morgenmesse verließ Lacey kaum jemals das Haus. Wie sie Kontakt zu einer solchen Frau hätte finden sollen – zumal zu einer Frau, die ihr ihre Tochter anvertraute –, das wusste Arnette nicht. Es war auch nicht zu erklären, denn die Geschichte war erlogen. Und jetzt waren die beiden verschwunden.

Als es halb elf war, wusste Schwester Arnette, was sie zu tun hatte.

Aber was sollte sie sagen? Wo sollte sie anfangen? Bei Amy? Keine der anderen Schwestern wusste anscheinend mehr über das Kind. Als es abgegeben wurde, war Lacey allein im Haus gewesen, wie so oft. Arnette versuchte immer wieder, sie hinauszulocken, in die Volksküche oder in den Supermarkt oder sonstwohin, aber Lacey lehnte stets ab, und in solchen Momenten strahlte ihr Gesicht eine so fröhliche Leere aus, dass die Frage augenblicklich erledigt war. Nein danke, Schwester. Vielleicht ein andermal. Drei, vier Jahre lang, und jetzt erschien von nirgendwoher ein Kind, und Lacey behauptete es zu kennen. Wenn sie die Polizei anriefe, würde die Geschichte also dort beginnen müssen, begriff sie: bei Lacey und der Geschichte von dem Feld.

Arnette griff zum Telefonhörer.

»Schwester?«

Sie drehte sich um: Schwester Claire. Claire, die soeben in die Küche gekommen war, immer noch im Jogginganzug, obwohl sie sich längst für die Tagesarbeit hätte umziehen müssen. Claire, die Immobilien verkauft hatte, die nicht nur verheiratet gewesen, sondern geschieden war, und die immer noch ein paar hochhackige Schuhe und ein schwarzes Cocktailkleid in ihrem Schrank aufbewahrte. Aber das war ein ganz anderes Problem, über das sie jetzt nicht nachdenken konnte.

»Schwester«, sagte Claire in sorgenvollem Ton, »da ist ein Auto in der Einfahrt.«

Arnette legte den Hörer wieder auf. »Wer ist es?«

Claire zögerte. »Es sieht aus wie … die Polizei.«

Arnette war schon an der Haustür, als es klingelte. Sie zog die Gardine am Fenster daneben zur Seite, um hinauszuschauen. Zwei Männer, der eine in den Zwanzigern, der andere älter, aber immer noch ein junger Mann für sie, und beide trugen dunkle Anzüge und Krawatten. Polizei, wenngleich nicht ganz. Etwas Ernsthaftes, Offizielles zweifellos. Sie standen in der Sonne am Fuße der Treppe, in einigem Abstand zur Tür. Der Ältere sah sie und lächelte freundlich, sagte jedoch nichts. Er sah nett, aber wenig bemerkenswert aus, schlank und sportlich, mit einem sympathischen, wohlgeformten Gesicht. Ein bisschen grau an den Schläfen, die in der Sonne schweißfeucht glänzten.

»Sollen wir aufmachen?«, fragte Claire hinter ihr. Schwester Louise hatte die Türglocke gehört und war ebenfalls heruntergekommen.

Arnette atmete tief durch. »Selbstverständlich, Schwestern.«

Sie öffnete die Tür, hielt aber die Fliegentür verriegelt. Die beiden Männer kamen die Stufen herauf.

»Kann ich Ihnen helfen, Gentlemen?«

Der Ältere griff in seine Brusttasche und zog ein kleines Mäppchen heraus. Er klappte es auf, und die Buchstaben blitzten ihr kurz entgegen: FBI.

»Ma’am, ich bin Special Agent Wolgast, und das ist Special Agent Doyle.« Im Handumdrehen war das Mäppchen wieder in der Innentasche seines Jacketts verschwunden. Sie sah eine Schramme an seinem Kinn; er hatte sich beim Rasieren geschnitten. »Tut mir leid, dass wir Sie an einem Samstagmorgen einfach so stören …«

»Es geht um Amy«, sagte Arnette. Sie konnte es nicht erklären. Sie war einfach damit herausgeplatzt. Als er nicht antwortete, fuhr sie fort: »Es stimmt doch, oder? Es geht um Amy.«

Der ältere Beamte – seinen Namen hatte sie schon wieder vergessen – schaute an ihr vorbei zu Schwester Louise und lächelte ihr kurz und beruhigend zu, bevor er sich wieder an Arnette wandte.

»Ja, Ma’am. Das ist richtig. Es geht um Amy. Wäre es Ihnen recht, wenn wir hereinkommen. Um Ihnen und den anderen Damen ein paar Fragen zu stellen?«

Und so kam es, dass sie im Wohnzimmer des Konvents der Barmherzigen Schwestern standen: zwei große Männer in dunklen Anzügen, die nach Männerschweiß rochen. Ihre massige Anwesenheit schien den Raum zu verändern, ihn kleiner zu machen. Abgesehen von gelegentlichen Handwerkern oder Father Fagan, der aus dem Pfarrhaus zu Besuch kam, betrat kein anderer Mann jemals dieses Haus.

»Verzeihen Sie, Officers«, sagte Arnette, »könnten Sie mir Ihre Namen noch einmal nennen?«

»Selbstverständlich.« Wieder dieses Lächeln: selbstbewusst, einschmeichelnd. Bisher hatte der Jüngere noch kein Wort gesagt. »Ich bin Agent Wolgast, und das ist Agent Doyle.« Er sah sich um. »Und – ist Amy hier?«

Schwester Claire schaltete sich ein. »Was wollen Sie von ihr?«

»Leider darf ich Ihnen nicht alles sagen, aber Sie sollten – um Ihrer eigenen Sicherheit willen – wissen, dass Amy eine Zeugin des FBI ist. Wir sind hier, um sie unter unseren Schutz zu stellen.«

Das Zeugenschutzprogramm des FBI! Panik spannte sich wie ein Ring um Arnettes Brust. Das war schlimmer, als sie gedacht hatte. FBI-Zeugin! Wie im Fernsehen, in diesen Kriminalserien, die sie nicht gern sah, aber trotzdem manchmal anschaute, weil die anderen Schwestern es wollten.

»Was hat Lacey getan?«

Der Agent zog interessiert die Brauen hoch. »Lacey?«

Er tat, als wisse er Bescheid: Er gab ihr Gelegenheit zum Reden, um ihr Informationen zu entlocken, das sah Arnette sofort. Aber natürlich hatte sie genau das gerade getan: Sie hatte ihnen Laceys Namen gegeben. Niemand außer ihr hatte etwas von Lacey gesagt. Hinter sich spürte sie das drückende Schweigen der anderen Schwestern.

»Schwester Lacey«, erklärte sie. »Sie hat uns gesagt, Amys Mutter sei eine Freundin.«

»Ah ja.« Er warf seinem Kollegen einen Blick zu und nickte dann. »Tja, vielleicht sollten wir auch mit ihr sprechen.«

»Sind wir denn in Gefahr?«, fragte Schwester Louise ängstlich.

Schwester Arnette drehte sich um und brachte sie mit einem Stirnrunzeln zum Schweigen. »Schwester, ich weiß, du meinst es gut. Aber überlass diese Sache mir, bitte.«

»Ich würde nicht sagen, in Gefahr. Das nicht gerade«, sagte der Mann. »Aber ich glaube, es wäre am besten, wenn wir sie kurz sprechen könnten. Ist sie da?«

»Nein.« Das war Schwester Claire. Trotzig hielt sie die Hände vor der Brust verschränkt. »Sie sind weggegangen. Vor über einer Stunde.«

»Wissen Sie, wohin?«

Einen Moment lang sagte niemand etwas. Dann klingelte im Haus das Telefon.

»Bitte entschuldigen Sie mich, Gentlemen«, sagte Arnette.

Sie ging in die Küche. Ihr Herz klopfte.

Sie war dankbar für die Unterbrechung; sie gab ihr Gelegenheit zum Nachdenken. Als sie den Hörer abnahm, erkannte sie die Stimme am anderen Ende nicht.

»Ist da das Kloster? Ich weiß, dass diese Ladies da drüben wohnen. Sie müssen entschuldigen, dass ich einfach so anrufe.«

»Wer spricht da?«

»Sorry.« Er sprach hastig und klang abgelenkt. »Mein Name ist Joe Murphy. Ich bin der Sicherheitsbeauftragte im Zoo von Memphis.« Im Hintergrund kam Unruhe auf, und er sprach kurz mit jemand anderem. Machen Sie einfach das Tor auf, sagte er. Los, machen Sie schon.

Er sprach wieder mit ihr. »Wissen Sie etwas über eine Nonne, die mit einem kleinen Mädchen hier sein könnte? Eine schwarze Lady, gekleidet wie Sie alle da?«

Eine summende Schwerelosigkeit erfüllte Schwester Arnettes Kopf wie ein Bienenschwarm. An diesem wunderschönen Morgen war etwas passiert, etwas Schreckliches. Die Küchentür öffnete sich, und die beiden FBI-Agenten kamen herein, gefolgt von Schwester Claire und Schwester Louise. Alle schauten sie an.

»Ja, ja, ich kenne sie.« Arnette bemühte sich, die Stimme zu senken, doch sie wusste, dass es sinnlos war. »Was gibt’s denn? Was ist denn los?«

Einen Moment lang kamen nur gedämpfte Geräusche aus dem Hörer; der Mann im Zoo hatte die Hand auf die Sprechmuschel gelegt. Als er sie wieder wegnahm, hörte sie Geschrei, weinende Kinder und dahinter noch etwas anderes: Tierstimmen. Affen und Löwen und Elefanten und Vögel kreischten und brüllten. Arnette brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass sie diese Laute nicht nur durch das Telefon hörte. Sie kamen auch durch das offene Fenster, sie hallten quer durch den Park bis in die Küche.

»Was ist denn passiert?«, fragte sie flehentlich.

»Kommen Sie lieber her, Schwester«, sagte der Mann. »Das ist das Verrückteste, was ich je gesehen habe.«

Lacey war atemlos, bis auf die Haut durchnässt. Sie trug Amy auf dem Arm, drückte die Kleine an ihre Brust und lief durch den Zoo, verirrt im Labyrinth der Wege. Das Mädchen weinte und schluchzte in ihre Bluse – was mache ich denn?, fragte sie, was mache ich denn? –, und auch alle anderen Leute rannten. Angefangen hatte es mit den Eisbären, die immer wilder geworden waren, bis Lacey das Kind von der Scheibe weggerissen hatte, und dann hatten sich die Seelöwen dahinter in manischer Raserei ins Wasser gestürzt und waren wieder herausgeschossen. Lacey hatte daraufhin kehrtgemacht und war hastig zur Mitte des Zoos gelaufen, und da waren die Steppentiere, Gazellen und Zebras und Okapis und Giraffen, wie wild im Kreis herumgaloppiert und gegen die Zäune gerannt. Amy war es, die sie dazu brachte, dass wusste Lacey – irgendetwas an Amy. Was immer mit den Eisbären passiert war, passierte jetzt mit allem, nicht nur mit den Tieren, sondern auch mit den Menschen: ein Chaos, das sich ringförmig über den ganzen Zoo verbreitete. Sie kamen an den Elefanten vorbei, und sofort spürte sie ihre Größe und Kraft; sie stampften mit ihren massigen Füßen auf den Boden, hoben die Rüssel und trompeteten durch die Hitze von Memphis. Ein Nashorn attackierte den Zaun seines Geheges, dass es krachte wie bei einem Autounfall, und fing wütend an, mit seinem gewaltigen Horn dagegenzustoßen. Die Luft war erfüllt von diesen Geräuschen, laut, schrecklich und schmerzhaft. Die Leute rannten umher und riefen nach ihren Kindern, sie drängten und schoben und stießen einander, und die Menge teilte sich vor Lacey, die immer weiterlief.

»Das ist sie!«, rief eine Stimme, und die Worte trafen Lacey von hinten wie ein Pfeil. Sie fuhr herum und sah den Mann mit der Kamera. Er stand neben einem Zoowärter in einem pastellgelben Hemd und zeigte mit dem Finger auf sie. »Und das ist das Kind!«

Sie drückte Amy noch fester an sich, drehte sich um und rannte weiter, vorbei an Käfigen mit kreischenden Affen, an einem Teich, auf dem Schwäne schrien und mit den großen, nutzlosen Flügeln schlugen, und an hohen Käfigen, aus denen das Kreischen von Urwaldvögeln gellte. Eine entsetzte Menschenmenge strömte aus dem Reptilienhaus. Eine Gruppe panischer Schulkindern in roten T-Shirts kam ihr in die Quere; sie schlängelte sich um sie herum und wäre beinahe gefallen, aber irgendwie gelang es ihr, sich aufrecht zu halten. Der Boden vor ihr war übersät von Hinterlassenschaften der Flüchtenden – Broschüren, Kleidungsstücken, zerlaufenden Eiskugeln, die noch am Papier klebten. Eine Gruppe von keuchenden Männern stürmte vorüber; einer trug ein Gewehr. Von irgendwoher verkündete eine Stimme mit roboterhafter Ruhe: »Der Zoo ist geschlossen. Bitte begeben Sie sich sofort zum nächst gelegenen Ausgang. Der Zoo ist geschlossen …«

Lacey lief jetzt im Kreis. Sie suchte einen Ausgang und fand keinen. Löwen brüllten, und dazwischen gellten die Schreie von Pavianen, Meerkatzen und den Stummelaffen, die sie in Sommernächten vor ihrem Fenster gehört hatte. Die Geräusche kamen aus allen Himmelsrichtungen und erfüllten ihren Kopf wie ein Chor, schwirrten hin und her wie Gewehrschüsse, wie die Schüsse auf dem Feld, wie die Stimme ihrer Mutter, die aus der Tür schrie: Lauft weg, lauft weg, lauft, so schnell ihr könnt.

Sie blieb stehen. Plötzlich fühlte sie es. Fühlte ihn. Den Schatten. Den Mann, der nicht da war und doch da war. Er war hinter Amy her, das wusste Lacey jetzt. Der dunkle Mann würde Amy auf das Feld bringen, wo die Äste waren, die Lacey Stunde um Stunde angestarrt hatte, während sie dalag und in die Höhe schaute, wo am Nachthimmel langsam der Morgen graute, und sie Geräusche hörte, die Geräusche dessen, was mit ihr passierte, die Schreie, die aus ihrem Mund kamen. Aber sie hatte ihren Geist aus dem Körper entlassen und hoch hinaufgeschickt, durch die Äste hinauf zum Himmel, wo Gott war; das Mädchen auf dem Feld war jemand anders, niemand, an den sie sich erinnern konnte, und die Welt war umhüllt von einem warmen Licht, das sie für alle Zeit beschützen würde.

Ein bitterer Salzgeschmack war in ihrem Mund, aber das war nicht nur das Wasser aus dem Bassin. Sie weinte jetzt auch; sie sah den Weg vor sich durch einen Tränenschleier und hielt Amy fest umschlungen, als sie weiterrannte. Dann sah sie ihn: den Erdnussstand. Er tauchte vor ihr auf wie ein Leuchtfeuer, der Stand mit dem großen Sonnenschirm, wo sie die Erdnüsse gekauft hatte, und dahinter, wie ein offenes Maul, das breite Ausgangstor. Wärter in gelben Hemden bellten in ihre Walkie-Talkies und winkten die Leute hektisch durch. Lacey holte tief Luft, drückte Amy an sich und stürzte sich ins Gedränge.

Sie war nur noch ein paar Schritte vom Ausgang entfernt, als eine Hand ihren Arm packte. Jäh fuhr sie herum: ein Wärter. Mit der freien Hand winkte er über ihren Kopf hinweg jemand anderem zu, und sein Griff wurde fester.

Lacey. Lacey.

»Ma’am, bitte kommen Sie mit …«

Sie zögerte nicht lange, nahm ihre ganze Kraft zusammen und riss sich mit einem Ruck los. Hinter sich hörte sie das Murren und Schimpfen von Leuten, die sie zur Seite gedrängt hatte, und der Wärter schrie ihr nach, sie solle stehen bleiben, aber Lacey rannte immer weiter, Richtung Parkplatz, den näher kommenden Sirenen entgegen. Sie schwitzte und keuchte und wusste, dass sie jeden Augenblick stürzen konnte. Sie wusste nicht, wohin sie rannte, aber das war egal. Weg, dachte sie, nur weg. Lauft, so schnell ihr könnt, Kinder. Sie musste mit Amy von hier weg.

Dann hörte sie hinter sich, irgendwo im Zoo, einen Gewehrschuss. Der Knall durchschnitt die Luft, und Lacey blieb wie angewurzelt stehen. In der plötzlichen Stille danach kam ein Van herangefahren und hielt mit kreischenden Bremsen vor ihr. Es war ihr Van, sah Lacey, der Wagen, den die Schwestern benutzten, der große blaue Van, mit dem sie zur Volksküche fuhren und ihre Besorgungen erledigten. Einen Augenblick lang fragte sie sich, woher sie wussten, was hier passierte. Schwester Claire, immer noch im Jogginganzug, saß am Steuer. Ein zweites Auto, ein schwarzer Personenwagen, hielt hinter ihnen an, als Schwester Arnette zur Beifahrertür heraussprang. Leute strömten an ihr vorbei, und Autos jagten vom Parkplatz.

»Lacey, was um alles in der Welt …«

Zwei Männer stiegen aus dem zweiten Auto. Dunkelheit umgab sie. Laceys Herz krampfte sich zusammen, und ihre Stimme versagte. Sie brauchte nicht näher hinzuschauen, um zu sehen, was sie waren. Zu spät! Alles war verloren!

»Nein!« Sie wich zurück. »Nein, nein, nein!«

Arnette packte sie beim Arm. »Schwester, nimm dich zusammen!«

Leute zerrten an ihr. Hände wollten ihr das Kind entreißen. Mit aller Kraft, die sie noch hatte, drückte Lacey die Kleine an die Brust. »Nein!«, schrie sie. »Helft mir!«

»Schwester Lacey, diese Männer sind vom FBI! Bitte tu, was sie sagen!«

»Nehmt sie nicht weg!« Jetzt lag Lacey am Boden. »Nehmt sie nicht weg! Nehmt sie nicht weg!«

Es war also Arnette. Schwester Arnette wollte Amy wegnehmen. Es war wie damals auf dem Feld: Lacey trat und schlug um sich und schrie.

»Amy! Amy!«

Ein heftiges Schluchzen schüttelte sie, und die letzten Kräfte verließen ihren Körper. Amy wurde aus ihren Armen gehoben. Sie hörte ihre dünne Stimme, Lacey, Lacey, Lacey, und dann das dumpfe Zuschlagen der Autotüren, als Amy im Wagen eingesperrt wurde. Sie hörte Motorengeräusch, Reifen auf dem Asphalt, einen Wagen, der mit hohem Tempo wegfuhr. Sie vergrub das Gesicht in den Händen.

»Nehmt mich nicht mit, nehmt mich nicht mit«, schluchzte sie. »Nehmt mich nicht mit, nehmt mich nicht mit, nehmt mich nicht mit.«

Claire war an ihrer Seite. Sie legte ihr einen Arm um die bebenden Schultern. »Schwester, es ist schon gut«, sagte sie, und Lacey hörte, dass sie auch weinte. »Es ist alles gut. Du bist in Sicherheit.«

Aber das war sie nicht. Niemand war in Sicherheit, nicht Lacey, nicht Claire, nicht Arnette, nicht die Frau mit dem Baby und nicht der Wärter in dem gelben Hemd. Das wusste Lacey jetzt. Wie konnte Claire sagen, es sei alles gut? Nichts war gut. Das war es, was die Stimmen all die Jahre zu ihr gesagt hatten, seit jener Nacht auf dem Feld, als sie noch ein Mädchen gewesen war.

Lacey Antoinette Kudoto. Hör zu. Schau.

Vor ihrem geistigen Auge sah sie es, sah endlich alles: die wogenden Armeen und die Flammen der Schlacht, die Gräber und Gruben und die Todesschreie von hundert Millionen Seelen, die Dunkelheit, die sich über die Erde ausbreitete wie ein schwarzer Flügel, die letzten, bitteren Stunden voller Grausamkeit und Leid und letzter, furchtbarer Fluchten, die machtvolle Herrschaft des Todes über alles, und zum Schluss die leeren Städte, erstarrt in der Stille von hundert Jahren. Das alles hatte bereits begonnen. Lacey weinte, und dann weinte sie noch mehr. Denn während sie in Memphis auf dem Randstein kauerte, sah sie vor ihrem geistigen Auge auch Amy, ihre Amy, die Lacey nicht retten konnte, wie sie sich selbst damals nicht hatte retten können. Amy, wie sie in Ewigkeit durch die vergessene, lichtlose Welt wanderte, allein und ohne Stimme außer dieser:

Was mache ich denn, was mache ich denn, was mache ich denn.

Passage Trilogie Bd. 1 - Der Übergang
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