17
Der Sommer ging zu Ende, der Herbst kam, und die Welt ließ sie in Ruhe.
Der erste Schnee fiel in der letzten Oktoberwoche. Wolgast war draußen beim Holzhacken, als er aus den Augenwinkeln die ersten Flocken herabschweben sah, dick wie Federn und leicht wie Staub. Er hatte sich beim Arbeiten bis auf das Hemd ausgezogen, und als er innehielt und den Kopf hob und die Kälte auf seiner feuchten Haut spürte, begriff er, was hier geschah: Der Winter war da.
Er schlug die Axt in einen Holzklotz, ging ins Haus und rief nach ihr.
Sie erschien oben an der Treppe. Ihre Haut sah so wenig Sonne, dass sie hellweiß wie Porzellan war.
»Hast du schon mal Schnee gesehen?«
»Ich weiß nicht. Ich glaube schon.«
»Na, jetzt schneit es.« Er lachte, und er hörte die Freude in seiner eigenen Stimme. »Das darfst du dir nicht entgehen lassen. Komm.«
Als er sie angezogen hatte – Mantel, Stiefel, aber auch die Sonnenbrille und die Mütze und eine dicke Schicht Sonnenschutzcreme auf jedem ungeschützten Zollbreit ihrer Haut –, hatte es ernsthaft zu schneien begonnen. Sie trat hinaus in die weißen Wirbel, und ihre Bewegungen waren feierlich wie bei einem Forscher, der den Fuß auf einen neuen Planeten setzt.
»Was sagst du dazu?«
Sie legte den Kopf zurück und streckte die Zunge aus, eine instinktive Gebärde, mit der sie die Schneeflocken einfing und kostete. Sie lächelte ihn an.
»Gefällt mir«, befand sie.
Sie hatten eine Unterkunft, sie hatten zu essen, und sie hatten es warm. Im September war er noch zweimal bei Milton’s gewesen, denn er wusste, dass die Straße im Winter unbefahrbar sein würde, und er hatte alle Lebensmittel mitgenommen, die noch in dem Laden waren. Wenn sie Konserven, Milchpulver, Reis und Trockenbohnen gut einteilten, würden die Vorräte bis zum Frühling reichen. Der See war voller Fische, und in einer der Hütten hatte er einen Eisbohrer gefunden; es wäre also ganz einfach, ein paar Angelschnüre auszuhängen. Der Propantank war noch halb voll. Der Winter also – Wolgast hieß ihn willkommen, und er spürte, wie er sich entspannt seinem Rhythmus überließ. Niemand war gekommen; die Welt hatte sie vergessen. Sie waren zusammen abgeschieden in der Einsamkeit und in Sicherheit.
Am Morgen lag der Schnee dreißig Zentimeter hoch um die Hütten. Gleißend hell brach die Sonne durch die Wolken. Wolgast verbrachte den Nachmittag damit, den Holzstapel auszugraben und einen Weg zwischen der Lodge und dem Stapel und einen zweiten zu einer Hütte freizuschaufeln, die er als Kühlhaus benutzen wollte. Inzwischen spielte sein Leben sich fast nur noch in der Nacht ab – so war es am einfachsten, sich an Amys Zeitplan anzupassen –, und das Sonnenlicht auf dem Schnee blendete ihn wie eine Explosion, vor der er die Augen nicht schließen konnte. Vermutlich empfand sie sogar gewöhnliches Licht ständig so, dachte er. Als es dunkel wurde, gingen sie beide wieder hinaus.
»Ich zeige dir, wie man einen Schnee-Engel macht«, sagte er und legte sich auf den Rücken. Am Himmel über ihm strahlten die Sterne. Von Milton’s hatte er eine Dose Kakaopulver mitgebracht, von der er Amy nichts erzählt hatte; er hatte sich vorgenommen, sie für einen besonderen Anlass aufzuheben. Heute Nacht würde er ihre Kleider am Kachelofen trocknen, und sie würden im Warmen sitzen und heißen Kakao trinken. »Jetzt musst du die ausgestreckten Arme und Beine auf und ab bewegen«, erklärte er. »So.«
Sie legte sich neben ihn in den Schnee. Ihre zierliche Gestalt war leicht und gelenkig wie die einer Turnerin. Sie bewegte ihre flinken Arme und Beine hin und her.
»Was ist ein Engel?«, fragte sie.
Wolgast überlegte. In all ihren Gesprächen war so etwas noch nicht vorgekommen. »Na ja, ich würde sagen, eine Art Geist.«
»Ein Geist. Wie Jacob Marley.« Sie hatten Ein Weihnachtsmärchen gelesen – besser gesagt, Amy hatte es ihm vorgelesen. Seit jenem Abend im Sommer, als er herausgefunden hatte, dass sie lesen konnte – und zwar mit Gefühl und Ausdruck –, saß Wolgast nur noch da und hörte ihr zu.
»Ich nehme es an, ja. Aber nicht so furchterregend wie Jacob Marley.« Sie lagen immer noch Seite an Seite im Schnee. »Engel sind … ja, ich würde sagen, sie sind gute Geister. Geister, die uns vom Himmel aus beschützen. Zumindest glauben das manche Leute.«
»Du auch?«
Wolgast verschlug es kurz die Sprache. Er hatte sich nie ganz an ihre direkte Art gewöhnen können. Amys Unbefangenheit erschien ihm einerseits sehr kindlich, aber oft war das, was sie sagte und fragte, von einer Unverblümtheit, die fast den Eindruck von Weisheit erweckte.
»Ich weiß es nicht. Meine Mutter hat es geglaubt. Sie war sehr religiös, sehr fromm. Mein Vater wahrscheinlich nicht. Er war ein guter Mann, aber er war Ingenieur. Er dachte nicht so.«
Sie schwiegen beide eine Weile.
»Sie ist tot«, sagte Amy dann leise. »Ich weiß es.«
Wolgast richtete sich auf. Amys Augen waren geschlossen.
»Wer ist tot, Amy?« Aber kaum hatte er die Frage gestellt, kannte er die Antwort: meine Mutter. Meine Mutter ist tot.
»Ich erinnere mich nicht an sie«, sagte Amy. Ihre Stimme war leidenschaftslos, als erzähle sie ihm etwas, das er längst wissen musste. »Aber ich weiß, sie ist tot.«
»Woher weißt du das?«
»Ich kann es fühlen.« Amy schaute Wolgast im Dunkeln in die Augen. »Ich fühle sie alle.«
Manchmal, in den frühen Morgenstunden, träumte Amy. Wolgast hörte ihre leisen Schreie aus dem Nachbarzimmer und das Ächzen der Sprungfedern ihrer Pritsche, wenn sie sich unruhig hin und her wälzte. Schreie waren es eigentlich nicht – eher ein Murmeln wie von Stimmen, die sich im Schlaf ihren Weg durch sie bahnten. Manchmal stand sie dann auf und ging die Treppe hinunter in das Hauptzimmer der Lodge, das mit den breiten Fenstern zum See. Wolgast beobachtete sie von der Treppe aus. Sie stand dann immer ein paar Augenblicke lang still im warmen Feuerschein des Ofens, das Gesicht zum Fenster gewandt. Es war offensichtlich, dass sie immer noch schlief, und Wolgast war klug genug, sie nicht zu wecken. Schließlich drehte sie sich um, kam die Treppe herauf und ging wieder ins Bett.
Wie fühlst du sie, Amy?, fragte er. Was fühlst du? Ich weiß es nicht, sagte sie dann, ich weiß es nicht. Sie sind traurig. Es sind so viele. Sie haben vergessen, wer sie waren. Wer waren sie denn, Amy? Und sie sagte: Alle. Sie sind alle.
Wolgast schlief jetzt im ersten Stock der Lodge in einem Sessel an der Tür. Sie sind nachts unterwegs, hatte Carl gesagt, in den Bäumen. Sie haben nur einen Schuss. Was waren sie, diese Wesen in den Bäumen? Waren sie Menschen, wie Carter einmal ein Mensch gewesen war? Was waren sie geworden? Und Amy: Amy, die von Stimmen träumte, Amy, deren Haare nicht wuchsen, und die anscheinend nur selten schlief und nur selten aß. Amy, die lesen und schwimmen konnte, als erinnere sie sich an Leben und Erfahrungen, die nicht ihre eigenen waren: Gehörte sie auch zu ihnen? Das Virus war inaktiv, hatte Fortes gesagt. Und wenn nicht? Würde er, Wolgast, nicht krank werden? Aber er war es nicht. Er fühlte sich wie immer, nämlich einfach ratlos, begriff er, ratlos wie ein Mann in einem Traum, verirrt in einer Landschaft voll sinnloser Wegweiser. Die Welt hatte eine Verwendung für ihn, die er nicht verstand.
Eines Nachts im März hörte er einen Motor. Draußen lag hoch und schwer der Schnee. Der Vollmond schien. Er war im Sessel eingeschlafen. Schon im Schlaf, erkannte er, hatte er das Geräusch eines Motors auf der langen Zufahrt zum Camp gehört. In seinem Traum – einem Alptraum – war dieses Geräusch das Tosen der Waldbrände im Sommer gewesen, die sich den Berg herauffraßen. Er war mit Amy durch den Wald geflüchtet, überall waren Rauch und Feuer gewesen, und er hatte sie verloren.
Grelles Licht fiel durch die Fenster, und Schritte polterten auf der Veranda, schwerfällige, stolpernde Schritte. Wolgast sprang auf. Alle seine Sinne waren hellwach. Die Springfield war in seiner Hand. Er lud sie durch und entsicherte sie. Drei harte Schläge erschütterten die Tür.
»Da ist jemand draußen.« Das war Amys Stimme. Wolgast drehte sich um. Sie stand am Fuße der Treppe.
»Nach oben!«, befahl Wolgast in rauem Flüsterton. »Lauf schnell!«
»Ist jemand da drinnen?« Eine Männerstimme auf der Veranda. »Ich sehe den Rauch! Ich trete ein Stück zurück!«
»Amy, lauf nach oben, sofort!«
Wieder hämmerte es an die Tür. »Um Gottes willen, wenn Sie mich hören können, machen Sie auf! Irgendjemand!«
Amy zog sich nach oben zurück. Wolgast schlich zum Fenster und schaute hinaus. Es war kein Auto, kein Laster, sondern ein Schneemobil. Klobige Behälter waren auf dem Chassis festgezurrt. Am Fuße der Verandatreppe, im Licht der Scheinwerfer, stand ein Mann in Parka und Stiefeln. Er stand vorgebeugt da, die Hände auf die Knie gestützt.
Wolgast öffnete die Tür. »Bleiben Sie, wo Sie sind«, warnte er. »Ich will Ihre Hände sehen.«
Matt hob der Mann die Arme. »Ich bin nicht bewaffnet«, sagte er. Er keuchte, und dann sah Wolgast das Blut – ein leuchtend rotes Band, das an der Seite seines Parkas herunterlief. Die Wunde war an seinem Hals.
»Mir geht’s mies«, sagte der Mann.
Wolgast trat einen Schritt nach vorne und hob die Pistole. »Verschwinden Sie hier!«
Der Mann fiel auf die Knie. »O Gott«, stöhnte er. »Gott im Himmel.« Dann beugte er sich vor und übergab sich in den Schnee.
Wolgast drehte sich um. Amy stand in der Tür.
»Amy, geh ins Haus!«
»Ganz recht, Kleine.« Der Mann hob die blutige Hand und winkte nachlässig. Dann wischte er sich mit dem Handrücken über den Mund. »Tu, was dein Daddy sagt.«
»Amy, ich habe gesagt, du sollst ins Haus gehen, sofort!«
Amy schloss die Tür.
»Gut so«, sagte der Mann. Er lag auf den Knien und sah zu Wolgast herauf. »Sie sollte so was nicht sehen. Mein Gott, mir geht’s beschissen.«
»Wie haben Sie uns gefunden?«
Der Mann schüttelte den Kopf und spuckte in den Schnee. »Ich hab Sie nicht gesucht, wenn Sie das meinen. Wir hatten uns zu sechst verkrochen, ungefähr vierzig Meilen weit westlich von hier. In der Jagdhütte eines Freundes. Da waren wir seit Oktober, nachdem sie Seattle plattgemacht hatten.«
»Wer ist ›sie‹?«, fragte Wolgast. »Was ist mit Seattle passiert?«
Der Mann zuckte die Achseln. »Dasselbe wie überall. Alle sind krank oder sterben und reißen sich gegenseitig in Fetzen, das Militär rollt an, und rumms! Alles geht in Flammen auf. Manche Leute sagen, das sind die UN oder die Russen. Was weiß ich – vielleicht ist es auch der Mann im Mond. Wir sind nach Süden gefahren, ins Gebirge; da wollten wir überwintern und dann versuchen, uns nach Kalifornien durchzuschlagen. Und dann kamen diese Bestien. Keiner von uns hat auch nur einen Schuss abfeuern können. Ich bin abgehauen, aber eine von ihnen hat mich gebissen. Das Biest kam aus dem Nichts auf mich runter. Ich weiß nicht, warum sie mich nicht umgebracht hat wie die andern, aber so machen sie das, hab ich gehört.« Er lächelte matt. »Ich schätze, ich hatte meinen Glückstag.«
»Ist Ihnen jemand gefolgt?«
»Was weiß ich? Ich hab Ihren Rauch gerochen, schon eine Meile von hier. Keine Ahnung, wieso ich das konnte. Einfach so.« Er hob den Kopf, sein Blick war herzbewegend. »Um Gottes willen. Ich flehe Sie an. Ich würde es selbst tun, wenn ich eine Pistole hätte.«
Es dauerte einen Moment, bis Wolgast verstand, worum der Mann ihn bat. »Wie heißen Sie?«
»Bob.« Der Mann fuhr sich mit einer dicken, trockenen Zunge über die Lippen. »Bob Saunders.«
Wolgast wedelte mit der Springfield. »Wir müssen ein Stück weg vom Haus.«
Sie gingen in den Wald. Wolgast folgte dem Mann mit fünf Schritten Abstand. Im tiefen Schnee kam der Mann nur langsam voran. Alle paar Schritte blieb er stehen, stützte die Hände auf die Knie und atmete schwer.
»Wissen Sie, was komisch ist?«, fragte er. »Ich war Versicherungsanalytiker. Leben und Unfallrisiko. Sie rauchen, Sie fahren ohne Sicherheitsgurt, Sie essen jeden Tag einen Big Mac zum Lunch, und ich konnte Ihnen so ziemlich auf den Monat genau sagen, wann Sie sterben.« Er klammerte sich an einen Baum, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. »Aber ich glaube, über das hier hat kein Mensch Tabellen geführt, oder?«
Wolgast antwortete nicht.
»Sie werden’s doch tun, ja?« Bob schaute zwischen den Bäumen hindurch in die andere Richtung.
»Ja«, sagte Wolgast. »Es tut mir leid.«
»Ist schon in Ordnung. Machen Sie sich keine Vorwürfe.« Er atmete schwer und leckte sich die Lippen. Dann drehte er sich um und berührte sein Brustbein, wie Carl es vor all den Monaten getan hatte, um Wolgast zu zeigen, wohin er schießen sollte. »Genau hierhin, okay? Sie können mir zuerst in den Kopf schießen, wenn Sie wollen, aber jagen Sie mir auf jeden Fall eine Kugel hier hinein.«
Wolgast konnte nur nicken. Die Offenheit des Mannes, sein sachlicher Tonfall verschlugen ihm die Sprache. »Es wird schnell gehen«, sagte er dann.
»Sie können Ihrer Tochter sagen, ich hätte eine Waffe gezogen«, fuhr der Mann fort. »Sie darf nichts davon erfahren. Und verbrennen Sie meine Leiche. Benzin, Kerosin, irgendwas Brennbares.«
Sie näherten sich der Böschung oberhalb des Flusses. Vom bläulichen Mondlicht übergossen, war die Landschaft von unirdischer Stille. Unter Schnee und Eis hörte Wolgast das leise Gurgeln des Wassers. Die Stelle ist so gut wie jede andere, dachte Wolgast.
»Drehen Sie sich um«, sagte er. »Sehen Sie mich an.«
Aber Bob schien ihn nicht zu hören. Er ging zwei Schritte weiter durch den Schnee und blieb stehen. Unerklärlicherweise hatte er angefangen, sich auszuziehen. Erst warf er seinen blutigen Parka in den Schnee; dann nahm er die Träger seiner Schneehose ab und zog sein Sweatshirt aus.
»Ich habe gesagt, Sie sollen sich umdrehen.«
»Wissen Sie, was mir stinkt?«, sagte Bob. Er hatte sein Thermo-Unterhemd abgelegt und kniete sich hin, um seine Stiefel aufzubinden. »Wie alt ist Ihre Tochter? Ich wollte immer Kinder haben. Wieso hab ich mir keine angeschafft?«
»Das weiß ich nicht, Bob.« Wolgast hob die Springfield. »Drehen Sie sich um, und sehen Sie mich an. Sofort.«
Bob stand auf. Irgendetwas passierte mit ihm. Er fasste sich an die blutige Wunde an seinem Hals. Ein neuerlicher Krampf schüttelte ihn, aber sein Gesichtsausdruck war lustvoll, beinahe sexuell erregt. Im Mondschein schien seine Haut beinahe zu leuchten. Er krümmte den Rücken wie eine Katze, und seine Augen waren halb geschlossen vor Behagen.
»Wow, das ist gut«, sagte er. »Das ist wirklich … gut.«
»Tut mir leid«, sagte Wolgast.
»Hey, warten Sie!« Erschrocken riss Bob die Augen auf und streckte die Hände aus. »Moment mal!«
»Tut mir leid, Bob«, wiederholte Wolgast und drückte ab.
Der Winter endete im Regen. Tagelang strömte er herunter, durchtränkte den Wald, ließ den Fluss und den See anschwellen und schwemmte davon, was von der Straße noch übrig war.
Er hatte den Leichnam verbrannt, wie Bob es ihm aufgetragen hatte. Er hatte ihn mit Benzin übergossen, und als die Flammen erloschen waren, hatte er die Asche mit Wäschebleiche bestreut und alles unter einem Hügel aus Steinen und Erde begraben. Am nächsten Morgen durchsuchte er das Schneemobil. Die Behälter, die darauf festgezurrt waren, erwiesen sich als leere Benzinkanister, aber in einem Lederbeutel am Lenker fand er Bobs Brieftasche. Ein Führerschein mit Bobs Foto und einer Adresse in Spokane, die üblichen Kreditkarten, ein paar Dollar in bar, ein Bibliotheksausweis. Ein Foto war auch dabei; es war in einem Atelier aufgenommen: Bob trug einen dicken Winterpulli und posierte neben einer hübschen blonden Frau, unübersehbar schwanger, und zwei Kindern, einem kleinen Mädchen in einem grünen Samtkleid und einem Baby im Strampelanzug. Alle lächelten breit, selbst das Baby. Auf der Rückseite des Fotos stand in Frauenhandschrift: »Timothys erstes Weihnachten«. Warum hatte er gesagt, er habe keine Kinder gehabt? Hatte er mitansehen müssen, wie sie starben? War das so schmerzhaft gewesen, dass sein Hirn es einfach aus dem Gedächtnis gelöscht hatte? Wolgast vergrub die Brieftasche am Hang und markierte die Stelle mit einem Kreuz aus zwei mit einer Schnur zusammengebundenen Stöcken. Es sah nicht sehr eindrucksvoll aus, aber etwas anderes fiel ihm nicht ein.
Wolgast wartete darauf, dass noch andere kamen; er nahm an, dass Bob nur der Erste gewesen war. Er verließ die Lodge nur noch, um die notwendigsten Arbeiten zu erledigen, und nur bei Tag. Die Springfield hatte er immer bei sich, und Carls .38er lag geladen im Handschuhfach des Toyota. Alle paar Tage startete er den Motor und ließ ihn eine Weile laufen, damit die Batterie sich nicht entlud. Bob hatte etwas von Kalifornien gesagt. War es dort noch sicher? War es irgendwo noch sicher? Gern hätte er Amy gefragt: Hörst du sie kommen? Wissen sie, wo wir sind? Er hatte keine Landkarte, um ihr zu zeigen, wo Kalifornien lag. Stattdessen stieg er eines Abends kurz nach Sonnenuntergang mit ihr auf das Dach. Siehst du diesen Bergkamm?, fragte er und deutete nach Süden. Folge meinem Zeigefinger, Amy. Die Cascades. Wenn mir irgendetwas passieren sollte, musst du diesem Bergkamm folgen. Lauf weg, und lauf immer weiter.
Aber Monate vergingen, und sie waren immer noch allein. Der Regen hörte auf, und eines Morgens trat Wolgast aus der Lodge, es roch und schmeckte nach Sonne, und er fühlte, dass sich etwas geändert hatte. Vögel sangen in den Bäumen, und als er zum See hinüberschaute, sah er offenes Wasser, wo eine massive Eisschicht gewesen war. Ein milder grüner Dunst hing in der Luft, und am Fundament der Lodge ragte eine Reihe von Krokussen aus dem Boden. Die Welt mochte sich selbst in die Luft sprengen, doch hier kam wieder der Frühling, der Frühling in den Bergen. Aus allen Himmelsrichtungen konnte man das Leben hören und riechen. Wolgast wusste nicht einmal, welcher Monat war. War es April oder Mai? Aber er hatte keinen Kalender, und die Batterie in seiner Uhr, die er seit dem Herbst nicht mehr getragen hatte, war längst leer.
Als er in dieser Nacht mit der Springfield in der Hand in seinem Sessel bei der Tür saß, träumte er von Lila. Halb wusste er, dass es ein Sextraum war, ein Traum, in dem er mit ihr schlief, aber trotzdem war es anders. Lila war schwanger, und sie spielten Monopoly. Der Traum hatte keine besondere Umgebung; der Bereich hinter dem Tisch, an dem sie spielten, lag im Dunkeln wie die verborgenen Bereiche einer Bühne. Wolgast überkam die irrationale Angst, dass es dem Baby schaden könnte, was sie taten. »Wir müssen aufhören«, sagte er eindringlich, »es ist gefährlich.« Aber sie schien ihn nicht zu hören. Er würfelte, schob seine Figur weiter und landete auf dem Feld mit dem Polizisten, der in seine Trillerpfeife stieß. »Gehen Sie ins Gefängnis«, sagte Lila und lachte. »Gehen Sie direkt dorthin.« Dann stand er auf und fing an, sie auszuziehen. »Das ist okay«, sagte sie. »Du kannst mich küssen, wenn du willst. Bob wird nichts dagegen haben.« »Warum wird er nichts dagegen haben?«, fragte er. »Weil er tot ist«, sagte Lila. »Wir sind alle tot.«
Er schreckte aus dem Schlaf und spürte, dass er nicht allein im Zimmer war. Er drehte sich um und sah Amy, die mit dem Rücken zu ihm vor dem breiten Fenster zum See stand. Im Schein des Ofens sah er, wie sie die Hand hob und die Scheibe berührte. Er stand auf.
»Amy? Was ist?«
Er wollte zu ihr gehen, als ein blendendes Licht, gewaltig und rein, das Fenster erfüllte, und der Augenblick gefror: Wie ein Fotoapparat empfing sein Gehirn ein Bild von Amy und hielt es fest, als sie die Hände gegen das Licht hob, den Mund aufriss und vor Entsetzen schrie. Ein Windstoß ließ das Haus erzittern, und mit einem alles erschütternden Krachen barst die Fensterscheibe ins Zimmer. Wolgast wurde von den Beinen gerissen und zurückgeschleudert.
Eine Sekunde später, fünf, zehn: Die Zeit fügte sich wieder zusammen. Wolgast kauerte auf Händen und Knien an der Wand. Überall lag Glas auf dem Boden, tausend Scherben, deren Kanten funkelten wie verstreute Sterne in dem fremdartigen Licht, das den Raum durchflutete.
»Amy!«
Sie lag auf dem Boden. Er sprang auf und lief zu ihr.
»Hast du dich verbrannt? Geschnitten?«
»Ich kann nichts sehen, ich kann nichts sehen!« Sie schlug wild um sich und fuchtelte in formloser Panik mit den Armen vor ihrem Gesicht herum. Sie war übersät von glitzernden Glassplittern, ihr Gesicht und ihre Arme waren voll davon. Blut durchtränkte ihr T-Shirt, als er sich über sie beugte und versuchte, sie zu beruhigen.
»Bitte, Amy, halt still! Ich muss sehen, ob du verletzt bist.«
Sie entspannte sich in seinen Armen. Behutsam wischte er die Glassplitter weg. Er konnte keine Schnittwunde entdecken. Das Blut, begriff er, war sein eigenes. Woher kam es? Er schaute an sich herunter und sah eine lange Scherbe, gebogen wie ein Krummsäbel, die in seinem linken Bein steckte, auf halber Höhe zwischen Knie und Leiste. Er zog daran und das Glas glitt sauber und schmerzlos heraus. Drei Zoll Glas in seinem Bein. Warum hatte er nichts davon gespürt? Adrenalin? Aber kaum hatte er daran gedacht, als der Schmerz kam – wie ein verspäteter Zug, der donnernd in den Bahnhof einfuhr. Lichtpunkte tanzten vor seinen Augen, und eine Woge der Übelkeit rollte über ihn hinweg.
»Ich kann nichts sehen, Brad! Wo bist du?«
»Ich bin hier, ich bin hier.« Ihm war schwindlig vor Schmerzen. Konnte man an einem solchen Schnitt verbluten? »Du musst versuchen, die Augen zu öffnen.«
»Ich kann nicht! Es tut weh!«
Verblitzt, dachte er. Eine Netzhautverbrennung, weil sie ins Zentrum der Explosion geschaut hatte. Nicht Portland oder Salem, nicht mal Corvallis. Die Explosion hatte genau im Westen stattgefunden. Ein verirrter Nuklearsprengkopf, dachte er, aber von wem? Und wie viele gab es noch davon? Was konnten sie bewirken? Nichts, dachte er; es war nur eine weitere krampfhafte Zuckung einer Welt, die unter Qualen unterging. Er begriff plötzlich, dass er sich in der falschen Hoffnung gewiegt hatte, das Schlimmste liege hinter ihnen, und es würde doch noch alles gut werden – das hatte er gedacht, als er in die Sonne hinausgetreten war und den Frühling gerochen hatte. Wie töricht er gewesen war.
Er trug Amy in die Küche und zündete die Lampe an. Die Fensterscheibe über der Spüle hatte irgendwie gehalten. Er setzte sie auf einen Stuhl und band ein altes Geschirrtuch um sein verletztes Bein. Amy weinte und presste die Handflächen an die Augen. Die Haut in ihrem Gesicht und an den Armen, die dem Blitz ausgesetzt gewesen war, war leuchtend rosa und fing schon an, sich zu schälen.
»Ich weiß, es tut weh«, sagte er, »aber du musst die Augen aufmachen. Ich muss sehen, ob Glassplitter hineingekommen sind.« Er hatte eine Taschenlampe auf dem Tisch bereitgelegt, damit er ihr in die Augen leuchten könnte, wenn sie sie öffnete. Ein Überfall – aber was blieb ihm übrig?
Sie schüttelte heftig den Kopf und wich vor ihm zurück.
»Amy, es muss sein. Du musst tapfer sein. Bitte.«
Sie sträubte sich noch ein Weilchen, aber schließlich gab sie nach. Er konnte ihre Hände herunterziehen, und sie öffnete die Augen einen winzigen Spaltbreit, schloss sie jedoch gleich wieder.
»Es ist so hell!«, weinte sie. »Es tut weh!«
Er schlug ihr eine Abmachung vor: Er würde bis drei zählen, und dann würde sie die Augen öffnen und sie offen halten, bis er noch einmal bis drei gezählt hätte.
»Eins«, fing er an. »Zwei … drei«!
Sie öffnete die Augen, und jeder Muskel in ihrem Gesicht war angespannt vor Angst. Wolgast begann zu zählen und leuchtete ihr ins Gesicht. Kein Glas, keine Spur einer sichtbaren Verletzung: Ihre Augen waren unversehrt.
»Drei!«
Sie schloss die Augen wieder, zitternd und schluchzend.
Er bestrich ihr Gesicht mit einer Brandsalbe aus dem Erste-Hilfe-Kasten, verband ihr die Augen mit einer elastischen Binde und trug sie hinauf in ihr Bett. »Deine Augen sind bald wieder in Ordnung«, versprach er ihr, ohne zu wissen, ob es stimmte. »Ich glaube, das ist nur vorübergehend, weil du in den Blitz geschaut hast.« Eine Zeitlang blieb er noch bei ihr sitzen, bis sie gleichmäßig atmete und er wusste, dass sie eingeschlafen war. Sie sollten verschwinden, dachte er, und ein bisschen Abstand zwischen sich und die Explosion bringen. Aber wohin sollten sie gehen? Zuerst der Waldbrand, dann der Regen – die Straße, die vom Berg hinunterführte, war fast vollständig weggespült. Sie konnten es zu Fuß versuchen, doch wie weit würden sie kommen? Er konnte selbst kaum gehen und musste ein blindes Mädchen durch den Wald führen. Da blieb nur die Hoffnung, dass die Explosion klein oder weiter entfernt gewesen war, als er annahm, und dass der Wind den radioaktiven Fallout in die andere Richtung treiben würde.
Im Erste-Hilfe-Kasten fand er eine kleine Nähnadel und eine Rolle schwarzes Garn. Eine Stunde vor dem Morgengrauen ging er die Treppe hinunter in die Küche. Er setzte sich an den Tisch, und im Schein der Lampe entfernte er das verknotete Geschirrtuch und seine blutgetränkte Hose. Die Schnittwunde war tief, aber bemerkenswert sauber. Die Haut sah aus wie das aufgerissene Wachspapier an einem blutroten Steak. Er hatte schon Knöpfe angenäht und einmal auch eine Hose gesäumt. Wie schwierig konnte es sein? Aus dem Schrank über der Spüle holte er die Flasche Scotch, die er vor all den Monaten bei Milton’s gefunden hatte, und goss sich ein Glas ein. Dann setzte er sich hin und stürzte den Whisky herunter; er legte den Kopf in den Nacken und trank, ohne etwas zu schmecken. Er schenkte sich ein zweites Glas ein und trank es aus. Dann stand er auf, wusch sich am Spülbecken in aller Ruhe die Hände und trocknete sie mit einem Lappen ab. Er setzte sich wieder hin, knüllte den Lappen zusammen und klemmte ihn zwischen die Zähne. Er fädelte das Garn ein, nahm die Scotchflasche in die eine Hand und die Nadel in die andere. Wenn er nur mehr Licht hätte. Er holte tief Luft und hielt den Atem an. Dann goss er den Scotch auf die Wunde.
Wie sich herausstellte, war dies der schlimmste Teil. Danach war das Nähen der Wunde fast gar nichts.
Er wachte auf und stellte fest, dass er mit dem Kopf auf der Tischplatte geschlafen hatte. Es war eisig kalt in der Küche, und ein merkwürdiger, chemischer Geruch hing in der Luft, wie von brennenden Autoreifen. Draußen fiel grauer Schnee. Mit seinem verbundenen, vor Schmerzen pochenden Bein humpelte Wolgast hinaus auf die Veranda. Es war kein Schnee, sah er – es war Asche. Er stieg die Stufen hinunter. Asche fiel auf sein Gesicht und in sein Haar. Seltsam, aber er hatte keine Angst, nicht um sich und nicht einmal um Amy. Es war ein Wunder. Er hob das Gesicht, um sie zu empfangen. Die Asche war voller Menschen, wusste er. Es regnete die Asche von Seelen.
Er hätte mit ihr in den Keller ziehen können, aber das kam ihm sinnlos vor. Die Strahlung würde überall sein – in der Luft, die sie atmeten, in dem Essen, das sie zu sich nahmen, in dem Wasser, das aus dem See in die Pumpe floss. Sie blieben im oberen Stockwerk, wo zumindest die Sperrholzplatten vor den Fenstern ein wenig Schutz boten. Nach drei Tagen, als er Amy den Verband abnahm – und sie konnte wieder sehen, wie er es versprochen hatte –, fing Wolgast an, sich zu übergeben, und konnte nicht mehr aufhören. Er würgte noch lange, als schon nichts mehr herauskam als dünner Schleim, schwarz wie Teer. Sein Bein war entzündet, aber vielleicht kam auch das von der Strahlung. Grünlicher Eiter sickerte aus der Wunde und durchtränkte den Verband. Das Sekret roch faulig, aber der Geruch war auch in seinem Mund, in seinen Augen und seiner Nase. Anscheinend war er überall in seinem Körper.
»Das wird schon wieder«, sagte er zu Amy, die nach allem, was passiert war, wieder ganz die Alte war. Ihre versengte Haut hatte sich abgeschält, und darunter war eine neue zutage getreten, weiß wie Milch im Mondschein. »Nur ein paar Tage liegen, und ich bin wieder fit.«
Er legte sich auf seine Pritsche in dem Zimmer unter dem Dach neben Amys. Er spürte, wie die Tage um ihn herum und durch ihn hindurch verstrichen, und er wusste, dass er starb. Die schnellteilenden Zellen seines Körpers – in der Schleimhaut des Magens und der Kehle, in den Haaren und im Zahnfleisch, das die Zähne hielt – wurden als Erste zerstört. So war es doch bei Verstrahlung, oder? Und jetzt hatte es sein Innerstes gefunden, griff in ihn hinein wie eine große, tödliche Hand, schwarz und vogelknochig. Er löste sich auf wie eine Tablette in einem Wasserglas, und der Prozess war unumkehrbar. Er hätte versuchen sollen, sie vom Berg hinunterzubringen, aber der richtige Augenblick dazu war längst vorüber. An den Rändern seines Bewusstseins fühlte er Amys Anwesenheit, ihre Bewegungen, den Blick ihrer wachsamen, allzu weisen Augen. Sie hielt ihm Wassergläser an die rissigen Lippen, und er bemühte sich nach besten Kräften zu trinken; er wollte die Nässe, aber vor allem wollte er ihr eine Freude machen und ihr irgendwie versichern, dass er wieder gesund werden würde. Doch er konnte nichts bei sich behalten.
»Ich komme zurecht«, sagte sie immer wieder, aber vielleicht träumte er es nur. Ihre Stimme war leise und dicht an seinem Ohr. Sie strich ihm mit einem Tuch über die Stirn, und er fühlte im dunklen Zimmer ihren sanften Atem auf seinem Gesicht. »Ich komme zurecht.«
Sie war ein Kind. Was würde aus ihr werden, wenn er nicht mehr da wäre? Aus diesem kleinen Mädchen, das kaum schlief oder aß und dessen Körper nichts von Krankheit und Schmerz wusste?
Nein, sie würde nicht sterben. Das war das Schlimmste – das Furchtbare, das sie getan hatten. Die Zeit teilte sich vor ihr wie die Wellen an einem Pier. Sie zog an ihr vorbei, aber Amy blieb dieselbe. Und Noahs ganzes Alter ward neunhundertfünfzig Jahre. Wie immer es ihnen auch gelungen sein mochte: Amy würde und konnte nicht sterben.
Es tut mir leid, dachte er. Ich habe mein Bestes getan, doch es war nicht genug. Ich hatte von vornherein zu viel Angst. Wenn es einen Plan gab, konnte ich ihn nicht sehen. Amy, Eva, Lila, Lacey. Ich war nur ein Mensch. Es tut mir leid, es tut mir leid, es tut mir leid, es tut mir leid.
Und eines Nachts wachte er auf und war allein. Er spürte es sofort: Abschied lag in der Luft, Abwesenheit, Flucht. Es erforderte seine ganze Kraft, nur die Decke zurückzuschlagen. Der Wollstoff in seiner Hand fühlte sich an wie Sandpapier, wie brennende Dornen. Er setzte sich auf – eine Riesenanstrengung. Sein Körper war ein gewaltiges, sterbendes Ding, das sein Geist kaum noch zusammenhalten konnte. Und doch gehörte er noch ihm; es war der Körper, in dem er sein ganzes Leben verbracht hatte. Wie seltsam es war, zu sterben, zu fühlen, wie sein Körper ihn verließ. Aber ein Teil seiner selbst hatte es immer gewusst. Sterben, hatte sein Körper ihm gesagt, sterben. Darum leben wir: um zu sterben.
»Amy«, sagte er, und er hörte seine eigene Stimme, ein fahles Krächzen. Ein schwaches, nutzloses Geräusch ohne Form, das einen Namen rief, in einem dunklen Zimmer, in dem niemand war. »Amy.«
Er schleppte sich hinunter in die Küche und zündete die Lampe an. In ihrem flackernden Licht sah alles aus wie immer, und trotzdem erschien es irgendwie verändert – derselbe Raum, in dem er und Amy ein Jahr lang gelebt hatten, und doch ein völlig neuer Ort. Er wusste nicht, wie spät es war, welcher Tag, welcher Monat. Amy war fort.
Er taumelte aus dem Haus, über die Veranda und in den Wald hinein. Der Mond hing über den Bäumen wie ein halbgeschlossenes Auge, wie ein Spielzeug an einem Draht, ein lächelndes Mondgesicht über einem Kinderbett. Sein Licht ergoss sich über eine Landschaft aus Asche, in der alles starb; die lebendige Oberfläche der Welt war abgeschält und der felsige Kern bloßgelegt. Wie ein Bühnenbild, dachte Wolgast, ein Bühnenbild für das Ende aller Dinge und die Erinnerung an alle Dinge. Ziellos irrte er durch den bröselnden weißen Staub und rief ihren Namen.
Jetzt war er unter den Bäumen, im Wald, und die Lodge lag in namenloser Entfernung hinter ihm. Er bezweifelte, dass er den Weg zurück finden würde, aber das machte nichts. Es war vorbei, es war aus mit ihm. Nicht einmal zum Weinen hatte er noch Kraft. Am Ende, dachte er, kam es nur noch darauf an, sich einen Ort auszusuchen. Wenn man Glück hatte, konnte man es noch.
Er stand oberhalb des Flusses, unter dem Mond, zwischen nackten, unbelaubten Bäumen. Er sank auf die Knie, lehnte sich an einen Stamm und schloss die müden Augen. Etwas bewegte sich über ihm in den Ästen, aber er nahm es nur verschwommen wahr. Raschelnde Gestalten in den Bäumen. Etwas, wovon ihm einmal jemand erzählt hatte, vor langer, langer Zeit: Etwas, das in den Bäumen unterwegs war. Sich an die Bedeutung dieser Worte zu erinnern, erforderte jedoch eine Willenskraft, die er nicht mehr besaß; der Gedanke verließ ihn, und er war allein.
Ein neues Gefühl durchströmte ihn, kalt und endgültig – wie ein Luftzug durch eine offene Tür im tiefsten Winter –, und wehte weiter hinaus in den stillen Raum zwischen den Sternen. Wenn der Morgen dämmerte, würde er nicht mehr da sein. Amy, dachte er, als die Sterne herabregneten, überall und ringsumher, und er versuchte, sich ganz mit diesem einen Namen zu füllen, mit dem Namen seiner Tochter, der ihm hinaushalf aus seinem Leben.
Amy, Amy, Amy.