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Log der Wache
Sommer 92
Tag 51: Keine Sichtung.
Tag 52: Keine Sichtung
Tag 53: Keine Sichtung
Tag 54: Keine Sichtung
Tag 55:
Peter Jaxon stationiert auf FP1 (Gnade: Theo Jaxon).
Keine Sichtung.
Tag 56: Keine Sichtung.
Tag 57: Keine Sichtung.
Tag 58: Keine Sichtung.
Tag 59: Keine Sichtung.
Tag 60: Keine Sichtung.
Während dieser Zeit: 0 Kontakte. Keine Seele getötet oder befallen.
Vakanz
Second Captain (T. Jaxon, gefallen) ausgefüllt durch
Sanjay Patal.
Hochachtungsvoll dem Haushalt vorgelegt durch
S. C. Ramirez, First Captain
In der Morgendämmerung des achten Tages klappte Peter die Augen auf, als er die Herde herankommen hörte.
Er erinnerte sich, dass er irgendwann nach Halbnacht gedacht hatte: Nur ein paar Minuten. Nur ein paar Minuten sitzen, um wieder zu Kräften zu kommen. Aber kaum hatte er sich hingesetzt, den Rücken an die Brüstung gelehnt und den müden Kopf auf die über den Knien verschränkten Arme sinken lassen, hatte der Schlaf ihn übermannt.
»Gut. Du bist wach.«
Lish stand vor ihm. Peter rieb sich Augen und Nase und nahm wortlos die Wasserflasche, die sie ihm reichte. Seine Glieder waren schwer und träge, als seien darin keine Knochen, sondern Schläuche mit einer schwappenden Flüssigkeit. Er trank von dem lauwarmen Wasser und warf einen Blick über die Brüstung. Jenseits des Schussfeldes stieg ein feiner Dunst langsam von den Hügeln herauf.
»Wie lange war ich weg?«
Sie straffte die Schultern. »Mach dir keine Gedanken. Du warst sieben Nächte lang ohne Pause auf den Beinen. Du hättest gar nicht mehr hier draußen sein dürfen. Wer was anderes sagt, kriegt es mit mir zu tun.«
Die Morgenglocke ertönte. Peter und Alicia sahen schweigend zu, wie die Tore zurückglitten. Die Herde, rastlos und begierig, hinauszukommen, wogte durch die Öffnung.
»Geh nach Hause und schlaf«, sagte Alicia, als die Holzfällerteams sich abmarschbereit machten. »Um den Stein kannst du dir später Sorgen machen.«
»Ich werde auf ihn warten.«
Sie schaute ihm fest ins Gesicht. »Peter. Es waren sieben Nächte. Geh nach Hause.«
Schritte kamen die Leiter herauf. Hollis Wilson schwang sich auf die Mauer und sah die beiden stirnrunzelnd an.
»Du meldest dich ab, Peter?«
»Der Posten gehört dir«, sagte Alicia. »Wir sind hier fertig.«
»Ich habe gesagt, ich bleibe.«
Die Tagschicht fing an. Zwei weitere Wächter kamen die Leiter herauf, Gar Phillips und Vivian Chou. Gar erzählte gerade irgendeine Geschichte, und Vivian lachte, aber als sie die drei dort oben stehen sahen, verstummten sie sofort und liefen schnell weiter.
»Hör zu«, sagte Hollis, »wenn du dableiben willst, soll es mir recht sein. Ich werde es aber Soo melden müssen.«
»Nein, will er nicht«, sagte Alicia. »Ich meine es ernst, Peter. Geh nach Hause.«
Er wollte protestieren, aber als er den Mund öffnete, überwältigte ihn urplötzlich eine lähmende Trauer, und er gab auf. Alicia hatte recht, es war vorbei. Theo war fort. Peter hätte erleichtert sein sollen, aber alles, was er empfand, war Erschöpfung, eine Müdigkeit, die bis in die Knochen reichte. Es fühlte sich an, als müsse er sie für den Rest seines Lebens mit sich schleifen wie eine Kette. Es erforderte fast all seine Kräfte, die Armbrust vom Boden auf die Brüstung zu heben.
»Es tut mir leid wegen deines Bruders«, sagte Hollis. »Ich glaube, nach sieben Nächten kann ich das sagen.«
»Danke, Hollis.«
»Ich nehme an, damit gehörst du jetzt zum Haushalt, was?«
Daran hatte Peter eigentlich noch gar nicht gedacht. Vermutlich stimmte es. Seine Cousinen, Dana und Leigh, waren beide älter, aber Dana hatte verzichtet, als Peters Vater zurückgetreten war, und Leigh hatte vermutlich kein Interesse an dem Job, da sie jetzt ein Baby in der Zuflucht hatte.
»Ja, wahrscheinlich.«
»Tja, äh … gratuliere?« Hollis zuckte verlegen die Achseln. »Klingt wohl komisch, aber du weißt, was ich meine.«
Er hatte niemandem von dem Mädchen erzählt, nicht einmal Alicia, die ihm vielleicht sogar geglaubt hätte.
Das Dach der Mall war nicht so hoch über dem Boden gewesen, wie er angenommen hatte. Anders als Alicia von unten, hatte er nicht sehen können, wie hoch der Sand an der Wand des Gebäudes heraufreichte. Die hohe, abschüssige Düne hatte seinen Aufprall abgefangen, und er war kopfüber hinuntergerollt. Ohne die Axt loszulassen, war er hinter Alicia auf Omegas Rücken gestiegen. Erst als sie wohlbehalten auf der anderen Seite von Banning waren und halbwegs sicher sein konnten, dass sie nicht verfolgt wurden, hatte er angefangen, sich zu fragen, wie sie eigentlich entkommen und warum die Pferde nicht tot waren.
Alicia und Caleb waren durch die Küche des Restaurants aus dem Atrium geflüchtet und durch eine Reihe von Korridoren zu einer Laderampe gelangt. Die großen Tore waren festgerostet, aber eins stand einen Spaltbreit offen und ließ einen schmalen Streifen Sonnenlicht herein. Die beiden hatten ein Rohr als Hebel benutzt und das Tor so weit aufstemmen können, dass sie hindurchpassten. Sie taumelten ins Sonnenlicht hinaus und sahen, dass sie an der Südseite der Mall waren. Und dann entdeckten sie zwei der Pferde. Sie frasen ganz gemächlich das hohe Gras. Alicia konnte ihr Glück nicht fassen. Sie und Caleb stiegen auf und ritten um das Gebäude herum, als sie das Krachen der Tür hörten und Peter auf dem Dach sahen.
»Warum seid ihr nicht einfach weggeritten, als ihr die Pferde gefunden hattet?«, fragte Peter sie.
Sie hatten auf dem Rückweg kurz haltgemacht, um die Pferde zu tränken, nicht weit von der Stelle, wo sie sechs Tage zuvor den Viral in den Bäumen gesehen hatten. Sie hatten nur das, was in ihren Flaschen war, aber nachdem sie selbst ein wenig getrunken hatten, gossen sie das restliche Wasser in ihre hohlen Hände und ließen die Pferde daran lecken. Peters blutender Ellenbogen war mit einem Streifen Stoff verbunden, den sie von seinem T-Shirt abgeschnitten hatten. Die Wunde war nicht tief, aber wahrscheinlich würde sie doch genäht werden müssen.
»Ich mache mir über so etwas nachträglich keine Gedanken, Peter«, antwortete Alicia in scharfem Ton, und er fragte sich, ob er sie vielleicht beleidigt hatte. »In dem Augenblick schien es so richtig zu sein, und das war es ja auch.«
Jetzt hätte er ihnen von dem Mädchen erzählen können. Aber er zögerte, und dann war der Moment vorbei. Ein Mädchen, ganz allein – und was sie dann unter dem Karussell getan, wie sie ihn beschützt hatte, der Blick, der zwischen ihnen hin und her gegangen war, der Kuss auf seiner Wange und die plötzlich zugeschlagene Tür … vielleicht hatte er sich in der Hitze des Augenblicks alles nur zusammenfantasiert. Er erzählte ihnen, er habe eine Treppe gefunden, die aufs Dach führte, und beließ es dabei.
Bei ihrer Rückkehr herrschte großer Aufruhr. Sie waren vier Tage überfällig, und man war kurz davor, sie für verschollen zu erklären. Als sich herumsprach, dass sie wieder da waren, versammelte sich eine Menschenmenge am Tor. Leigh fiel in Ohnmacht, bevor irgendjemand ihr sagen konnte, dass Arlo nicht tot, sondern im Kraftwerk zurückgeblieben war. Peter brachte es nicht übers Herz, in die Zuflucht zu gehen und Mausami zu sagen, was mit Theo passiert war. Sie würde es sowieso erfahren. Michael war da, und Sara auch. Sie nähte die Verletzung an seinem Ellenbogen, während er mit schmerzverzerrtem Gesicht auf einem Stein saß und sich betrogen fühlte, weil die tranceartige Betäubung, die der Verlust seines Bruders auslöste, jetzt, da seine Haut mit einer Nadel durchstochen wurde, nicht wirkte. Sara legte ihm einen richtigen Verband an, umarmte ihn kurz und brach in Tränen aus. Als es dunkel wurde, ging die Menge auseinander und machte ihm Platz, und bei der Zweiten Abendglocke stieg Peter auf die Mauer, um seinem Bruder den Gnadentod zu geben.
Er ließ Alicia unten an der Leiter stehen und versprach ihr, nach Hause zu gehen und zu schlafen. Aber nach Hause wollte er zu allerletzt. Nur wenige unverheiratete Männer wohnten noch in der Kaserne; es war dreckig dort und stank wie im Kraftwerk. Aber dort würde er von jetzt an wohnen. Er musste nur ein paar Sachen aus dem Haus holen, das war alles.
Die Morgensonne schien schon warm auf seine Schultern, als er bei sich zu Hause ankam – einem Fünf-Zimmer-Cottage, gleich neben der Östlichen Wiese. Es war das einzige Zuhause, das Peter gekannt hatte, seit er aus der Zuflucht gekommen war. Seit dem Tod ihrer Mutter waren er und Theo eigentlich nur noch zum Schlafen dort gewesen, und sie hatten wenig dafür getan, das Haus in Ordnung zu halten. Das Chaos hatte Peter immer gestört: schmutziges Geschirr im Spülbecken, Kleidungsstücke auf dem Boden verstreut, und alles von einer klebrigen Dreckschicht überzogen. Trotzdem hatte er es nie über sich gebracht, etwas daran zu ändern. Ihre Mutter hatte das Haus immer tadellos in Schuss gehalten; sie hatte die Böden gewischt, die Teppiche geklopft, die Asche aus dem Herd gefegt und den Abfall entsorgt. Im Erdgeschoss waren zwei Schlafzimmer, in denen er und Theo schliefen, das Zimmer seiner Eltern lag im ersten Stock unter dem Dach. Peter ging in sein Zimmer und stopfte rasch ein paar Kleidungsstücke für die nächsten Tage in einen Rucksack. Theos Sachen würde er später durchsehen, um zu entscheiden, was er für sich behielt, bevor er den Rest ins Lagerhaus schaffte. Dort würden die Kleider und Schuhe seines Bruders in Regale geräumt und später dann an andere verteilt werden. Nach dem Tod ihrer Mutter hatte Theo diese Aufgabe übernommen, weil er wusste, dass Peter es nicht konnte. An einem Wintertag fast ein Jahr später hatte Peter eine Frau – Gloria Patal – mit einem Schal gesehen, den er wiedererkannte. Gloria stand an einem Marktstand und sortierte Honiggläser. Der Schal mit den Fransen stammte ohne Zweifel von seiner Mutter. Peter war so verstört gewesen, dass er die Flucht ergriffen hatte, als sei hier ein Frevel begangen worden, an dem er beteiligt war.
Als er gepackt hatte, ging er in das größte Zimmer des Hauses, eine Wohnküche mit freiliegenden Deckenbalken. Der Herd hatte seit Monaten nicht mehr gebrannt, und der Holzstapel hinter dem Haus war inzwischen wahrscheinlich voller Mäuse. Alles war von einer schmierigen Staubschicht überzogen, als ob hier kein Mensch mehr wohnte. Tja, dachte er, so war es nun auch.
Zuletzt zog es ihn die Treppe hinauf zum Zimmer seiner Eltern. Die Schubladen der kleinen Kommode waren leer, die durchgelegene Matratze nicht bezogen, und in den Fächern im alten Kleiderschrank hingen filigrane Spinnennetze, die in der Zugluft zitterten, als er die Türen öffnete. Der kleine Nachttisch seiner Mutter, auf dem immer ein Becher Wasser neben ihrer Brille gestanden hatte – übrigens der einzige Gegenstand, den Peter gern behalten hätte, obwohl das nicht möglich gewesen war –, war von gespenstischen kreisförmigen Flecken bedeckt. Seit Monaten hatte niemand die Fenster geöffnet, und die eingesperrte Luft roch abgestanden. Noch etwas, das Peter durch Vernachlässigung entehrt hatte. Es stimmte: Er hatte sie im Stich gelassen, sie alle.
In der Morgenhitze schleppte er seinen Rucksack zur Tür hinaus. Überall war Betrieb: Aus den Ställen kam das Stampfen und Wiehern der Pferde, in der Schmiede ertönten klingende Hammerschläge. Die Rufe der Tagschicht hallten von der Mauer, und als er in die Altstadt kam, hörte er das Quieken und Lachen der spielenden Kinder in der Zuflucht. Das war die Morgenpause – eine beglückende Stunde lang durften die Kinder wie die Mäuse fröhlich durcheinanderlaufen. Er erinnerte sich plötzlich an einen sonnigen, kalten Wintertag, an dem sie Wegschnappen gespielt hatten. Ihm war es mit müheloser Leichtigkeit gelungen, den Stock einem viel größeren, älteren Jungen abzunehmen – in seiner Erinnerung war es einer der Brüder Wilson gewesen. Und er hatte ihn behalten, bis die Lehrerin in die Fausthandschuhe geklatscht und mit den Armen gewedelt hatte, um sie alle wieder ins Haus zu scheuchen. Die schneidend kalte Luft in seiner Lunge, das stumpfe Braun der Welt im Winter, der Schweiß auf seiner Stirn, das tiefe Glücksgefühl, als er sich zwischen den zugreifenden Händen seiner Angreifer hindurchgeschlängelt hatte – wie lebendig hatte er sich da gefühlt! Peter suchte diese Erinnerung nach seinem Bruder ab – sicher war Theo an diesem Wintermorgen doch unter den Kleinen gewesen, ein Teil der galoppierenden Meute –, aber er fand keine Spur von ihm. Da, wo sein Bruder hätte sein müssen, war eine Lücke.
Er kam zum Ausbildungslager. Drei breite Mulden im Boden, zwanzig Meter lang und umgeben von hohen Erdwällen, die unvermeidlich fehlgehende Bolzen und Pfeile und blindlings geworfene Messer auffangen sollten. Am vorderen Ende der mittleren Grube standen fünf Leute in Habachtstellung, drei Mädchen und zwei Jungen zwischen neun und dreizehn Jahren, die zu Wächtern ausgebildet wurden. In ihrer starren Haltung und den eifrigen Gesichtern sah Peter den gleichen bemühten Ernst, den er selbst aufgebracht hatte, als er seine Ausbildung angefangen hatte, das gleiche überwältigende Verlangen, sich selbst zu beweisen. Theo war drei Klassen über ihm gewesen. Peter erinnerte sich an den Morgen, an dem sein Bruder als Läufer ausgewählt worden war, an sein stolzes Lächeln, als er sich abwandte und zum ersten Mal auf die Mauer stieg. Peter sonnte sich im Glanze seines Bruders und er war mächtig stolz: Bald würde er Theo folgen.
Die Ausbilderin heute Morgen war Peters Cousine Dana, Onkel Willems Tochter. Sie war acht Jahre älter als Peter. Nach der Geburt ihrer ersten Tochter, Ellie, hatte sie den Wachdienst aufgegeben und im Trainingscamp angefangen. Ihre Jüngste, Kat, war noch in der Zuflucht. Sie ging in die erste Klasse, war groß für ihr Alter und so schlank wie ihre Mutter und trug das lange schwarze Haar zu einem Wächterzopf geflochten.
Dana stand vor ihrer Gruppe und musterte sie mit versteinerter Miene, als wähle sie ein Lamm für die Schlachtbank aus. Aber das war Teil des Rituals.
»Was haben wir?«, fragte sie die Gruppe.
Sie antworteten wie aus einem Munde. »Einen Schuss!«
»Woher kommen sie?«
»Sie kommen von oben!« Lauter jetzt.
Dana schwieg und wippte auf den Fersen zurück. Sie sah Peter kommen und lächelte ihm betrübt zu, bevor sie sich stirnrunzelnd wieder an ihre Schützlinge wandte. »Tja, das war grauenhaft. Ihr habt euch soben drei Extrarunden vor dem Essen verdient. In zwei Reihen antreten, den Bogen hoch!«
»Was meinst du?«
Sanjay Patal. Peter war so in Gedanken versunken gewesen, dass er den Mann nicht hatte kommen hören. Sanjay schaute mit verschränkten Armen über die Gruben hinweg.
»Sie werden’s schon lernen.«
Unter ihnen begannen die Rekruten mit dem Morgendrill. Einer der Jüngsten, der kleine Darrell, schoss daneben, und sein Pfeil bohrte sich mit dumpfem Schlag in den Zaun hinter der Zielscheibe. Die andern lachten.
»Tut mir leid, das mit deinem Bruder.« Sanjay drehte sich zu ihm hin. Er war schmächtig, machte aber einen kompakten Eindruck. Er war stets glattrasiert, hatte grau gesprenkeltes, kurzgeschorenes Haar und kleine weiße Zähne. Dichte, struppige Brauen überschatteten seine tiefliegenden Augen. »Theo war ein guter Mann. Es hätte nicht passieren dürfen.«
Peter antwortete nicht. Was sollte er auch sagen?
»Ich habe nachgedacht über das, was du mir erzählt hast«, fuhr Sanjay fort. »Um ehrlich zu sein, habe ich das Ganze nicht so recht verstanden. Die Sache mit Zander. Und was ihr in der Bibliothek wolltet.«
Mit leisem Frösteln dachte Peter an die Lüge. Sie alle hatten sich an die Abmachung gehalten, niemandem etwas von den Gewehren zu erzählen, zumindest vorläufig nicht. Aber das war viel komplizierter als erwartet, wie sich sehr schnell gezeigt hatte. Ohne die Gewehre war ihre Geschichte voller Auslassungen, denn es ließ sich nicht erklären, was sie auf dem Dach des Kraftwerks gesucht hatten, wie sie Caleb gerettet hatten, wie Zander gestorben war, und warum sie in der Bibliothek gewesen waren.
»Wir haben euch alles erzählt«, sagte Peter. »Zander muss irgendwie gebissen worden sein. Wir dachten, vielleicht ist es in der Bibliothek passiert, und deshalb wollten wir einen Blick hineinwerfen.«
»Aber wieso ist Theo ein solches Risiko eingegangen? Oder war es Alicias Idee?«
»Wie kommst du denn darauf?«
Sanjay räusperte sich. »Ich weiß, sie ist deine Freundin, Peter, und ich habe keinen Zweifel an ihren Fähigkeiten. Aber sie ist waghalsig. Immer schnell zum Kampf bereit.«
»Das war nicht ihre Schuld. Niemand war schuld. Es war einfach Pech. Wir haben alles gemeinsam entschieden.«
Sanjay schwieg und schaute nachdenklich über die Gruben hinweg. Peter hielt den Mund und hoffte, dass diese Unterredung damit zu Ende wäre.
»Trotzdem fällt es mir schwer, das zu verstehen.« Sanjay schüttelte sanft den Kopf. »Passt nicht zu deinem Bruder, ein solches Risiko. Aber wahrscheinlich werden wir es nie erfahren.« Er sah Peter wieder an. »Entschuldige, ich sollte dich nicht so ins Verhör nehmen. Du bist sicher müde. Aber da ich dich gerade hier habe – ich hätte noch etwas anderes mit dir zu besprechen. Es geht um den Haushalt. Um den Platz deines Bruders.«
Bei dem bloßen Gedanken daran wurde Peter plötzlich müde. Doch er stand nun in der Pflicht. »Sag mir einfach, was ich tun soll.«
»Darüber will ich ja mit dir reden, Peter. Ich glaube, dein Vater hat einen Fehler begangen, als er seinen Platz an deinen Bruder weitergab. Rechtmäßig kam dieser Platz Dana zu. Sie war und ist die älteste Jaxon.«
»Sie hat damals abgelehnt.«
»Das stimmt. Aber im Vertrauen gesagt, wir waren nicht immer … glücklich mit der Art und Weise, wie es dazu gekommen ist. Dana war außer sich. Ihr Vater war, wie du dich erinnern wirst, gerade getötet worden. Viele von uns glauben, sie hätte ihren Platz gern eingenommen, wenn dein Vater sie nicht dazu gedrängt hätte, zurückzustehen.«
Was wollte Sanjay damit sagen? Dass Dana die Nachfolge antreten sollte? »Ich weiß nicht, wovon du redest. Theo hat mir gegenüber nie ein Wort darüber gesagt.«
»Ja, das glaube ich«, sagte Sanjay, und er schwieg einen Moment lang. »Euer Vater und ich waren uns nicht immer einig. Das weißt du sicher. Ich war von Anfang an gegen die Langen Ritte. Aber dein Vater ließ sich nicht davon abhalten, nicht einmal, nachdem er so viele Männer verloren hatte. Sein Wunsch war es, dass dein Bruder diese Ritte irgendwann fortsetzte. Deshalb wollte er Theo im Haushalt haben.«
Die Rekruten hatten die Grube jetzt verlassen und marschierten den Weg hinunter, um ihre Runden um die Kolonie zu laufen. Was hatte Theo noch gesagt, an dem Abend im Kontrollraum? Sanjay mache einen guten Job? All das bereitete Peter im Moment akutes Unbehagen und weckte plötzlich das heftige Bedürfnis, einen Posten zu verteidigen, den er noch vor wenigen Minuten mit Vergnügen an den Nächstbesten abgetreten hätte.
»Ich weiß nicht so recht, Sanjay.«
»Du brauchst nichts zu wissen, Peter. Der Haushalt hat getagt. Wir sind uns alle einig. Der Platz gehört von Rechts wegen Dana.«
»Und sie will ihn haben?«
»Als ich ihr alles erklärt habe, wollte sie ihn, ja.« Sanjay legte eine Hand auf Peters Schulter – eine Geste, die ihn trösten sollte, nahm Peter an, aber sie tat es keineswegs. »Bitte nimm es nicht krumm. Es hat nichts mit dir zu tun. Wir waren bereit, die Unregelmäßigkeit zu übersehen, weil Theo überall so hoch angesehen war.«
Und so einfach, dachte Peter, hatten die anderen bereits mit seinem Bruder abgeschlossen. Theos Hemden lagen noch zusammengefaltet in seinen Schubladen, sein zweites Paar Stiefel stand noch unter dem Bett, und schon war es, als habe er nie existiert.
Sanjay hob den Kopf. »Tja. Da kommt Soo.«
Als Peter sich umdrehte, sah er Soo Ramirez vom Tor her auf sie zukommen. Jimmy Molyneau war an ihrer Seite. Soo, eine hochgewachsene, aschblonde Frau von Anfang vierzig, war nach Willems Tod in den Rang des First Captain aufgestiegen. Sie war eine überaus kompetente Frau, und wenn sie einen ihrer Jähzornanfälle hatte, duckte sich selbst der abgebrühteste Wächter furchtsam zusammen.
»Peter, ich habe dich gesucht. Nimm dir ein paar Tage frei, wenn du willst. Und sag mir Bescheid, wenn du den Namen in den Stein meißeln willst. Ich würde gern ein paar Worte sagen.«
»Daran habe ich auch eben gedacht«, erklärte Sanjay. »Sag uns Bescheid. Und nimm unbedingt ein paar Tage frei. Es hat keine Eile.«
Dass Soo genau in diesem Augenblick auftauchte, war kein Zufall, begriff Peter. Er wurde manipuliert.
»Okay«, sagte er nur. »Das werde ich wohl tun.«
»Ich hatte deinen Bruder wirklich gern«, bekannte Jimmy jetzt. Anscheinend dachte er, seine Anwesenheit erfordere einen Kommentar. »Und Karen auch.«
»Danke. Das höre ich oft.«
Diese Reaktion klang zu bitter, und Peter bereute sie sofort, als er den verwirrten Ausdruck in Jimmys hakennasigem Gesicht sah. Jimmy war Theos Freund gewesen, ein Second Captain, genau wie Theo, und er wusste, was es hieß, einen Bruder zu verlieren. Connor Molyneau war fünf Jahre zuvor bei einer Smoke-Jagd ums Leben gekommen, als sie einen Schwarm auf der Oberen Weide eliminieren wollten. Nach Soo war Jimmy der älteste Offizier; er war Mitte dreißig und hatte eine Frau und zwei Töchter. Schon vor Jahren hätte er abtreten können, ohne dass jemand es ihm übelgenommen hätte, aber er hatte es nicht getan. Manchmal brachte seine Frau Karen ihm warmes Essen auf die Mauer. Das war ihm immer peinlich und trug ihm endlose Spötteleien von den anderen Wächtern ein, aber alle sahen ihm an, dass es ihm gefiel.
»Tut mir leid, Jimmy.«
Jimmy zuckte die Achseln. »Schon gut. Glaub mir, ich habe das auch durchgemacht.«
»Er sagt es, weil es stimmt, Peter. Dein Bruder wurde von uns allen sehr geschätzt.« Mit dieser letzten Verlautbarung hob Sanjay wichtigtuerisch das Kinn und sah Soo an. »Captain, hast du einen Augenblick Zeit?«
Soo nickte, ohne Peter aus den Augen zu lassen. »Ich mein’s ernst«, sagte sie und fasste Peters Arm dicht über dem Ellenbogen. »Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst.«
Peter wartete einen Augenblick, um Abstand zwischen sich und die drei zu bringen. Er war seltsam erregt. Hellwach, aber orientierungslos. Dabei war das alles nur leeres Gerede gewesen, letzten Endes nichts, was ihn hätte überraschen dürfen: die üblichen, verlegenen Beileidsbekundungen, die er so gut kannte, und dann die Mitteilung, dass er nun doch nicht dem Haushalt angehören würde – eine Nachricht, die ihn eigentlich hätte erfreuen müssen, da er mit diesen täglichen Führungspflichten ohnehin nichts zu tun haben wollte. Aber Peter hatte unter der Oberfläche dieser Unterredung noch eine tiefere Strömung wahrgenommen. Er hatte den deutlichen Eindruck, dass man an seinen Strippen zog, dass alle etwas wussten, was er nicht wusste.
Er warf sich den Rucksack über die Schulter. Das verdammte Ding war so gut wie leer. Er beschloss, doch noch nicht geradewegs zur Kaserne zu gehen, sondern in die entgegengesetzte Richtung.
Der Stein der Dunklen Nacht stand am hinteren Ende des Sonnenflecks: ein birnenförmiger Granitblock, zweimal so hoch wie ein Mann, grau-weiß mit juwelenartigen Einsprengseln von rosa Quarz. In diesen Stein waren die Namen der Vermissten und der Toten eingemeißelt. Deshalb war er hergekommen. Einhundertzweiundsechzig Namen: Es hatte Monate gedauert, sie alle in den Stein zu hauen. Zwei ganze Familien – die Levines und die Darrells. Die gesamte Boyes-Sippe, neun insgesamt. Scharen von Greenbergs und Patals und Chous und Molyneaus und Strausses und Fishers und zwei Donadios – Lishs Eltern, John und Angel. Die ersten Jaxons, deren Namen auf den Stein gekommen waren, waren Darla und Taylor Jaxon, Peters Großeltern. Sie waren unter den Trümmern ihres Hauses an der Nordmauer gestorben. Es fiel Peter leicht, sie sich als alte Leute vorzustellen, denn sie waren seit fünfzehn Jahren tot, und ihr ganzes Leben gehörte in die Zeit vor seiner Erinnerung, in eine Welt, die Peter einfach als »früher« betrachtete. Tatsächlich aber war Taylor zum Zeitpunkt des Erdbebens nicht viel älter als vierzig gewesen und Darla, Taylors zweite Frau, gerade sechsunddreißig.
Der Stein war ursprünglich für die Opfer der Dunklen Nacht gedacht gewesen, doch dann war es nur natürlich gewesen, diesen Brauch fortzusetzen und die Namen der Toten und Verschollenen festzuhalten. Zanders Name, sah Peter, war bereits eingemeißelt worden. Er stand nicht allein da, sondern unter den Namen seines Vaters und seiner Schwester und der Frau, mit der Zander vor Jahren verheiratet gewesen war, wie Peter sich jetzt erinnerte. Es passte überhaupt nicht zu Zander, auch nur mit jemandem zu sprechen, geschweige denn verheiratet zu sein, und deshalb hatte Peter sie ganz vergessen. Die Frau hatte Janelle geheißen, und sie war im Kindbett mit ihrem Baby zusammen gestorben, nur wenige Monate nach der Dunklen Nacht. Das Kind hatte noch keinen Namen gehabt, den man hätte aufschreiben können, und so war sein kurzer Aufenthalt auf Erden hier gar nicht verzeichnet worden.
»Wenn du willst, kann ich es übernehmen, Theos Namen einzumeißeln.«
Peter fuhr herum und sah Caleb. Der Junge trug immer noch die knallgelben Sneaker. Sie sahen viel zu groß aus; der Anblick erinnerte an die Schwimmfüße einer Ente. Als Peter sie sah, empfand er leise Gewissensbisse. Calebs riesige, lächerliche Schuhe: Sie waren ein Hinweis – eigentlich der einzige Hinweis – auf das, was in der Mall passiert war. Aber irgendwie wusste Peter auch, dass Theo nur einen Blick auf Calebs Sneaker geworfen und dann gelacht hätte. Er hätte den Witz verstanden, bevor Peter auch nur begriffen hätte, dass es ein Witz war.
»Hast du Zanders Namen draufgeschrieben?«
Caleb zuckte nur die Schultern. »Ich kann ziemlich gut mit dem Meißel umgehen. Ist ja niemand sonst da, der sich darum kümmert, nehme ich an. Er hätte versuchen sollen, ein paar Freunde zu finden.« Der Junge schwieg und warf über Peters Schulter hinweg einen Blick auf den Stein. Er sah plötzlich traurig aus. »Gut, dass du ihn erschossen hast. Zander hat die Virals wirklich gehasst. Befallen zu werden, war für ihn das Schlimmste auf der Welt. Ich bin froh, dass er nicht lange zu denen gehören musste.«
In diesem Augenblick stand Peters Entschluss fest. Er würde Theos Namen nicht in den Stein meißeln, und auch niemand anders würde es tun. Nicht solange er nicht sicher war.
»Wo schläfst du jetzt?«, fragte er Caleb.
»In der Kaserne. Wo sonst?«
Peter hob die Schulter mit seinem Rucksack. »Was dagegen, wenn ich mitkomme?«
»Ist dein Bier.«
Erst später, als Peter seine Sachen ausgepackt und sich endlich auf die durchgelegene, viel zu weiche Matratze gelegt hatte, wurde ihm klar, was Caleb angeschaut hatte, als er an ihm vorbei auf den Stein geblickt hatte. Nicht Zanders Namen, sondern drei andere, die darüber standen: Richard und Marilyn Jones und darunter Nancy Jones, Calebs große Schwester. Sein Vater, ein Schrauber, war in den ersten panischen Stunden der Dunklen Nacht von einem Lichtmast zu Tode gestürzt, und seine Mutter und seine Schwester waren in der Zuflucht gestorben, verschüttet unter dem eingestürzten Dach. Caleb war gerade ein paar Wochen alt gewesen.
Und jetzt begriff er, warum Alicia mit ihm auf das Dach des Kraftwerks gestiegen war. Es hatte nichts mit den Sternen zu tun. Caleb Jones war ein Waise der Dunklen Nacht, genau wie sie. Und niemand außer ihr würde für ihn da sein.
Sie war mit Peter auf das Dach gestiegen, um auf Caleb Jones zu warten.