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Bevor sie Das Mädchen Von Nirgendwo wurde – das Mädchen, das plötzlich auftauchte, Die Erste Und Letzte Und Einzige, die tausend Jahre lebte –, war sie nur ein kleines Mädchen aus Iowa und hieß Amy. Amy Harper Bellafonte.
Als Amy geboren wurde, war ihre Mutter Jeanette neunzehn. Jeanette taufte das Baby Amy nach ihrer eigenen Mutter, die schon lange tot war, und den zweiten Vornamen, Harper, gab sie ihr nach Harper Lee, der Frau, die Wer die Nachtigall stört geschrieben hatte, Jeanettes Lieblingsbuch – und obendrein das einzige Buch, das sie auf der Highschool von Anfang bis Ende gelesen hatte. Sie hätte sie vielleicht auch Scout genannt, nach dem kleinen Mädchen in dem Buch, denn sie wollte, dass ihr kleines Mädchen genauso wurde, zäh und komisch und klug – so, wie sie selbst, Jeanette, nie hatte werden können. Aber Scout war ein Jungenname, und sie wollte nicht, dass ihre Tochter ihr Leben lang erklären musste, warum sie so hieß.
Amys Vater war ein Mann, der eines Tages in das Lokal hereingeschneit kam, in dem Jeanette schon seit ihrem sechzehnten Lebensjahr bediente; ein Diner, der bei allen nur The Box hieß, weil er genauso aussah: wie ein großer, verchromter Schuhkarton neben der Landstraße. Rechts und links nur Mais- und Bohnenfelder, und meilenweit sonst gar nichts außer einer Autowaschanlage mit Selbstbedienung, so einer, wo man Münzen einwerfen und dann die ganze Arbeit selbst tun musste. Der Mann, der Bill Reynolds hieß, verkaufte große Landmaschinen, Mähdrescher und solche Sachen, und er war ein Schmeichler und erzählte Jeanette, als sie ihm seinen Kaffee einschenkte und danach immer wieder, wie hübsch sie doch sei und wie gut ihm ihr kohlrabenschwarzes Haar und ihre nussbraunen Augen und ihre schlanken Handgelenke gefielen. Und es klang so, als meinte er es wirklich ernst, nicht wie die Jungs in der Schule, die so etwas nur sagten, um sie rumzukriegen. Er hatte ein großes Auto, einen neuen Pontiac mit einem Armaturenbrett, das glänzte wie ein Raumschiff, und mit Ledersitzen, so weich wie Butter. Sie hätte diesen Mann lieben können, dachte sie, ihn wirklich und wahrhaftig lieben können. Aber er blieb nur ein paar Tage in der Stadt und fuhr dann weiter. Als sie ihrem Vater erzählte, was passiert war, wollte er sich den Kerl schnappen und dafür sorgen, dass er für alles geradestand. Aber was Jeanette wusste und nicht sagte, war dies: Bill Reynolds war ein verheirateter Mann. Er hatte eine Familie in Lincoln, weit weg in Nebraska. Er hatte ihr sogar die Fotos seiner Kinder in seiner Brieftasche gezeigt, zwei kleine Jungs in Baseball-Trikots, Bobby und Billy. Und deshalb sagte sie ihrem Vater nicht, wer der Mann war, der ihr das angetan hatte, auch wenn er sie noch so oft fragte. Sie verriet ihm nicht einmal seinen Namen.
Und um ehrlich zu sein, machte ihr das alles nichts aus: nicht die Schwangerschaft, die bis zum Schluss problemlos verlief, nicht die Entbindung, die kurz, aber schwer war, und schon gar nicht das Baby, ihre kleine Amy. Um Jeanette zu zeigen, dass er ihr verziehen hatte, hatte ihr Vater das alte Zimmer ihres Bruders als Kinderzimmer hergerichtet, sogar das alte Kinderbett hatte er vom Speicher geholt, in dem Jeanette vor Jahren selbst noch geschlafen hatte. Gegen Ende der Schwangerschaft war er mit ihr zu Wal-Mart gefahren, um ein paar Sachen zu holen, die sie brauchen würde – Strampelanzüge und eine kleine Plastikwanne und ein Mobile zum Aufziehen, das über dem Bettchen hängen sollte. Er hatte in einem Buch gelesen, dass Babys solche Sachen bräuchten, Sachen zum Anschauen, damit ihr kleines Gehirn in Gang kam und anfing, ordentlich zu arbeiten. Von Anfang an dachte Jeanette bei dem Baby immer an »sie«, denn im Grunde ihres Herzens wünschte sie sich ein Mädchen, aber sie wusste, dass man so etwas niemandem sagen durfte, nicht einmal sich selbst durfte man das eingestehen. Im Krankenhaus drüben in Cedar Falls hatte sie eine Ultraschalluntersuchung machen lassen. Als die Frau in dem geblümten Kittel mit dem kleinen Plastikpaddel über ihren Bauch strich, hatte sie sie gefragt, ob sie sehen könne, was es war. Aber die Frau hatte nur gelacht, auf den Monitor mit Jeanettes vor sich hinträumendem Baby geschaut und gemeint: Honey, dieses Baby ist schüchtern. Bei manchen kann man es sehen, bei andern wieder nicht, und das hier ist eins von den Letzteren. Deshalb wusste Jeanette es nicht, und es war ihr auch recht. Nachdem sie und ihr Vater das Zimmer ihres Bruders ausgeräumt und seine alten Wimpel und Poster von den Wänden genommen hatten – José Canseco, eine Band namens Killer Picnic, die Bud Girls –, sahen sie, wie verschossen und verschrammt die Wände waren, und sie strichen sie mit einer Farbe, die »Dreamtime« hieß und die irgendwie eine Mischung aus Rosa und Blau war – passend für Babys beiderlei Geschlechts. Ihr Vater klebte eine Tapetenbordüre oben an die Wand, ein gleichförmiges Muster aus Enten, die in einem Tümpel plantschten, und polierte den alten Schaukelstuhl aus Ahorn, den er bei einer Versteigerung ergattert hatte. Jeanette sollte schließlich auch etwas haben, wo sie sitzen und die Kleine im Arm halten konnte.
Das Baby kam im Sommer; es war ein Mädchen, wie sie es sich gewünscht hatte, und wurde Amy Harper Bellafonte genannt. Reynolds stand als Name nicht zur Debatte – der Nachname eines Mannes, den Jeanette vermutlich nie wiedersehen würde und den sie jetzt, da Amy da war, auch gar nicht mehr wiedersehen wollte. Und Bellafonte – einen besseren Namen konnte man gar nicht haben. Es bedeutete »schöne Quelle«, und genau das war Amy auch. Jeanette fütterte und wiegte sie und wechselte ihre Windeln, und wenn Amy mitten in der Nacht weinte, weil sie nass oder hungrig war oder Angst vor der Dunkelheit hatte, dann stolperte Jeanette durch den Flur zum Kinderzimmer, ganz gleich, wie spät es war oder wie müde sie nach der Arbeit im Diner war. Und sie nahm die Kleine auf und sagte, sie sei da und sie werde immer für sie da sein: Wenn du weinst, komme ich gerannt, das ist der Deal zwischen uns beiden, zwischen dir und mir, für immer und ewig, meine kleine Amy Harper Bellafonte. Dann hielt sie sie auf dem Arm und wiegte sie, bis die Jalousien in der Morgendämmerung fahl wurden und sie in den Ästen der Bäume draußen die Vögel singen hörte.
Mit einem Mal war Amy drei, und Jeanette allein. Ihr Vater war gestorben, an einem Herzinfarkt, sagte man ihr, oder vielleicht an einem Schlaganfall. Niemand nahm das so genau. Was immer es war, es traf ihn eines Wintermorgens in aller Früh, als er zu seinem Truck ging, um zur Arbeit im Silo zu fahren; er hatte gerade noch Zeit, seinen Kaffee auf den Kotflügel zu stellen, bevor er tot umfiel. Er verschüttete keinen Tropfen. Sie arbeitete immer noch im Diner, aber plötzlich reichte das Geld nicht mehr, nicht für Amy und sie zusammen, und ihr Bruder, der irgendwo bei der Navy war, beantwortete ihre Briefe nicht. Gott hat den Staat Iowa geschaffen, hatte er immer gesagt, damit man wieder von dort abhauen kann. Sie wusste nicht, was sie tun sollte.
Da kam eines Tages ein Mann in das Lokal. Es war Bill Reynolds. Er war irgendwie verändert, aber nicht zum Besseren. Der Bill Reynolds, an den sie sich erinnerte – und sie musste zugeben, dass sie von Zeit zu Zeit immer noch an ihn dachte, an Kleinigkeiten hauptsächlich: wie sein aschblondes Haar beim Sprechen in die Stirn fiel, oder wie er über seinen Kaffee blies, bevor er einen Schluck trank, selbst wenn er gar nicht mehr heiß war –, dieser Bill Reynolds hatte etwas an sich, so etwas wie ein warmes Licht von innen heraus, in dessen Nähe man gern sein wollte. Es erinnerte sie an diese kleinen Plastikstäbe, die man knicken musste, damit die Flüssigkeit darin anfing zu leuchten. Dies war noch derselbe Mann, aber das Leuchten war nicht mehr da. Er sah älter aus, dünner. Sie sah, dass er unrasiert war, und sein Haar war nicht gekämmt; es war fettig und stand wirr vom Kopf ab, und er trug kein gebügeltes Poloshirt, sondern nur ein gewöhnliches kariertes Arbeitshemd, wie ihr Vater eins getragen hatte, und es hing aus der Hose und hatte Schweißflecken unter den Armen. Er sah aus, als habe er die Nacht im Freien verbracht oder irgendwo im Auto geschlafen. In der Tür suchte er ihren Blick, und sie folgte ihm nach hinten zu einem Tisch.
– Was machst du hier?
– Ich habe sie verlassen, sagte er, und als er sie ansah, wie sie vor seinem Tisch stand, roch sie Bierdunst in seinem Atem, und sie roch Schweiß und schmutzige Kleider. Ich hab’s getan, Jeanette. Ich habe meine Frau verlassen. Ich bin ein freier Mann.
– Du bist den ganzen Weg hierhergefahren, um mir das zu sagen?
– Ich habe an dich gedacht. Er räusperte sich. Oft. Ich habe an uns gedacht.
– Wie, an uns? Uns gibt es nicht. Du kannst hier nicht einfach so aufkreuzen und sagen, du hast an uns gedacht.
Er richtete sich auf. – Es ist aber so.
– Hier ist viel Betrieb. Siehst du das nicht? Ich kann mich nicht einfach so mit dir unterhalten. Du musst etwas bestellen.
– Okay, antwortete er, aber er schaute nicht zur Speisentafel an der Wand hinüber. Er wandte den Blick nicht von ihr. Ich nehme einen Cheeseburger. Einen Cheeseburger und eine Coke.
Als sie seine Bestellung notierte und die Worte vor ihren Augen verschwammen, begriff sie, dass sie angefangen hatte zu weinen. Ihr war, als habe sie einen ganzen Monat nicht geschlafen, ein ganzes Jahr nicht. Mit allerletzter Willenskraft stemmte sie sich gegen die Last der Erschöpfung. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte sie mit ihrem Leben etwas anfangen wollen: Haareschneiden vielleicht, einen Gewerbeschein beantragen, einen kleinen Frisörsalon aufmachen, in eine richtige Stadt ziehen, nach Chicago oder Des Moines, ein Apartment mieten, Freunde haben. Aus irgendeinem Grund hatte sie immer ein ganz bestimmtes Bild von sich selbst im Kopf gehabt: Sie saß in einem Restaurant, einem Coffeeshop eigentlich, aber hübsch; es war Herbst und kalt draußen, und sie saß allein an einem kleinen Tisch am Fenster und las ein Buch. Vor ihr auf dem Tisch stand ein dampfender Becher Tee. Dann schaute sie aus dem Fenster auf die Straße der Stadt, in der sie war, und sah die Leute draußen vorbeihasten, in dicken Mänteln und Mützen, und sie sah auch ihr eigenes Gesicht, das sich in der Scheibe spiegelte, vor all den Leuten draußen. Aber als sie jetzt dastand, war es, als gehörten alle diese Gedanken zu einer ganz anderen Person. Jetzt war da Amy, die halbe Zeit krank – erkältet oder mit einem verdorbenen Magen, den sie sich in der miesen Tagesstätte geholt hatte, in die Jeanette sie brachte, wenn sie zur Arbeit musste. Ihr Vater war gestorben, so plötzlich, als sei er durch eine Falltür verschwunden, und Bill Reynolds saß hier am Tisch, als wäre er nur mal kurz hinausgegangen, nicht vier Jahre weggewesen.
– Warum tust du mir das an?
Er schaute ihr eine ganze Weile in die Augen und berührte ihren Handrücken. – Lass uns später reden. Bitte.
Am Ende zog er bei ihr und Amy ein. Sie hätte nicht mehr sagen können, ob sie es ihm angeboten hatte oder ob es einfach irgendwie passiert war. So oder so bereute sie es auf der Stelle. Dieser Bill Reynolds – wer war er wirklich? Er hatte seine Frau und seine Jungs, Bobby und Billy in ihren Baseball-Trikots, verlassen, hatte alles in Nebraska zurückgelassen. Der Pontiac war weg, und mit seinem Job war es auch vorbei. Angesichts der wirtschaftlichen Lage, erklärte er, kaufe kein Mensch irgendetwas. Er habe einen Plan, sagte er, aber der einzige Plan, den sie sehen konnte, bestand offenbar darin, zu Hause rumzusitzen. Er tat nichts, nicht mal das Frühstücksgeschirr räumte er ab, während Jeanette den ganzen Tag im Diner arbeitete.
Er schlug sie zum ersten Mal, als er drei Monate bei ihr wohnte; er war betrunken, und danach brach er sofort in Tränen aus und sagte immer wieder, es tue ihm so leid. Er lag auf den Knien und heulte, als wäre sie diejenige, die ihm etwas getan hätte. Sie müsse verstehen, sagte er, wie schwer das alles sei, all die Veränderungen in seinem Leben – das sei mehr, als ein Mann, jeder Mann, ertragen könne. Er liebe sie, es tue ihm leid, und so etwas werde nie wieder passieren, nie wieder. Er schwor es. Und am Ende hörte sie sich selbst sagen, dass es auch ihr leidtue.
Es war um Geld gegangen, als er sie geschlagen hatte. Als der Winter kam und sie nicht genug Geld auf dem Konto hatte, um den Heizöllieferanten zu bezahlen, schlug er sie wieder.
– Verdammt noch mal, Frau, sieht du denn nicht, dass ich fürchterlich in der Scheiße stecke?
Sie lag auf dem Boden in der Küche und hielt sich den Kopf. Er hatte sie so hart geschlagen, dass sie hingefallen war. Komisch – jetzt, als sie dalag, sah sie, wie schmutzig der Boden war, dreckig und fleckig, mit Staubflocken und Gott weiß, was da noch alles unten an den Schränken klebte, wo man es normalerweise nicht sehen konnte. Mit der einen Hälfte ihres Verstandes registrierte sie den Schmutz, während die andere Hälfte sagte, du tickst nicht mehr richtig, Jeanette: Bill hat dich geschlagen und dabei eine Schraube gelockert, und jetzt machst du dir Gedanken über den Staub. Irgendwie passierte in dem Moment auch etwas Komisches mit den Geräuschen. Amy saß oben vor dem kleinen Fernseher in ihrem Zimmer, aber Jeanette konnte alles ganz laut und deutlich hören, als liefe der Apparat in ihrem Kopf – Barney, den lila Dinosaurier, und ein Lied über das Zähneputzen. Und dann hörte sie, wie aus weiter Ferne, den Heizöllaster wegfahren; er bog aus der Einfahrt, und das Motorgeräusch verklang auf der Landstraße.
– Du hast hier nichts zu suchen, sagte sie.
– Da hast du recht. Bill nahm eine Flasche Old Crow von dem Bord über der Spüle und goss sich etwas in ein Marmeladenglas, obwohl es erst zehn Uhr morgens war. Er setzte sich an den Tisch, aber er schlug die Beine nicht übereinander wie einer, der es sich bequem machen will. Und das Heizöl geht mich auch nichts an.
Jeanette versuchte aufzustehen, aber sie konnte es nicht.
– Mach, dass du wegkommst.
Er lachte, schüttelte den Kopf und nahm einen Schluck Whiskey.
– Das ist witzig, sagte er. Das sagst du mir von dort unten.
– Ich mein’s ernst. Mach, dass du wegkommst.
Amy kam herein. Sie hielt den Stoffhasen im Arm, den sie überallhin mitschleppte, und trug eine Latzhose – die gute, die Jeanette im Outlet Center für sie gekauft hatte, bei OshKosh B’Gosh, mit den gestickten Erdbeeren auf dem Latz. Ein Träger baumelte an Amys Hüfte. Jeanette begriff, dass Amy wahrscheinlich selbst den Träger aufgemacht hatte, weil sie aufs Klo musste.
– Du liegst ja auf dem Boden, Mama.
– Alles okay, Süße. Jeanette stand auf, um es ihr zu beweisen. In ihrem linken Ohr war ein leises Pfeifen, wie in einem Zeichentrickfilm, als ob Vögel in ihrem Kopf herumschwirrten. Sie sah auch ein bisschen Blut an ihrer Hand; sie wusste aber nicht, woher es kam. Sie nahm Amy auf den Arm und lächelte, so gut es ging. Siehst du? Mama ist nur hingefallen, mehr nicht. Musst du mal, Süße? Musst du aufs Töpfchen?
– Sieh dich bloß an, sagte Bill. Sieh dich doch selber an! Wieder schüttelte er den Kopf und trank. Blöde Fotze. Wahrscheinlich ist das Kind nicht mal von mir.
– Mama, sagte die Kleine und streckte den Zeigefinger aus, du hast dir wehgetan. An der Nase.
Ob es daran lag oder an dem, was sie gehört hatte, jedenfalls fing das kleine Mädchen an zu weinen.
– Siehst du, was du angerichtet hast?, sagte Bill. Jetzt komm, sagte er zu Amy. Ist halb so schlimm. Manchmal streiten sich die Leute. Das ist einfach so.
– Ich sag’s dir noch einmal: Verschwinde.
– Was willst du denn tun? Sag’s mir. Du kannst ja nicht mal den Öltank füllen lassen.
– Glaubst du, das weiß ich nicht? Das brauchst du mir weiß Gott nicht zu sagen. Amy hatte angefangen zu heulen. Jeanette hielt sie auf dem Arm und fühlte die warme Feuchtigkeit durch die Hose, als das Mädchen seine Blase entleerte.
– Himmel noch mal, bring das Gör zum Schweigen.
Sie drückte Amy fest an die Brust. – Du hast recht. Sie ist nicht dein Kind. Sie ist es nicht, und sie wird’s auch nie sein. Jetzt verschwinde, oder ich rufe den Sheriff.
Tu mir das nicht an, Jean. Im Ernst.
Doch. Genau das tu ich.
Da war er auf den Beinen und polterte durch das Haus, raffte seine Sachen zusammen und warf sie in die Pappkartons, in denen er sie vor ein paar Monaten erst hereingeschleppt hatte. Warum hatte sie nicht sofort gesehen, wie merkwürdig es war, dass er nicht mal einen richtigen Koffer hatte? Sie saß am Küchentisch mit Amy auf dem Schoß, beobachtete die Uhr über dem Herd und zählte die Minuten, bis er in die Küche zurückkam und sie noch einmal schlug.
Aber dann hörte sie, wie die Haustür aufschwang. Seine schweren Schritte dröhnten auf der Veranda. Er ging ein paarmal ein und aus und trug die Kartons nach draußen und ließ dabei die Haustür offen, sodass kalte Luft ins Haus wehte.
Schließlich kam er wieder in die Küche und brachte eine Schneespur mit herein. Die Sohlen seiner Stiefel hinterließen kleine, waffelförmige Fladen.
– Schön. Schön. Ich soll also gehen? Pass nur auf. Er nahm die Flasche Old Crow vom Tisch. Deine letzte Chance, sagte er.
Jeanette sagte nichts, sah ihn nicht einmal an.
Das wär’s wohl. Schön. Was dagegen, wenn ich noch einen Schluck zum Abschied nehme?
Da holte Jeanette aus und schlug das Glas mit der flachen Hand quer durch die Küche, wie man mit dem Schläger gegen einen Pingpongball klatscht. Sie wusste ungefähr eine halbe Sekunde, bevor sie es tat, dass sie es tun würde, und sie wusste auch, dass es nicht die beste Idee war, die sie je gehabt hatte, aber da war es zu spät. Das Glas prallte mit dumpfem Knall gegen die Wand und fiel auf den Boden, ohne zu zerbrechen. Sie schloss die Augen und drückte Amy fest an sich, und sie wusste, was kommen würde. Einen Augenblick lang war das Geräusch des rollenden Glases auf dem Boden das einzige in der Küche. Sie spürte Bills Wut wie heiße Wellen, die von ihm ausgingen.
– Du wirst schon sehen, was die Welt für dich in petto hat, Jeanette. Denk an meine Worte.
Dann verließen seine Schritte den Raum, und er war weg.
Sie gab dem Heizölmann das Geld, das sie noch hatte, und drehte den Thermostat auf zehn Grad herunter. Weißt du, Amy, wir tun einfach so, als wären wir auf einem großen Camping-Ausflug, sagte sie, während sie die Hände des kleinen Mädchens in Fausthandschuhe stopfte und ihr eine Mütze auf den Kopf zog. Siehst du, es ist eigentlich gar nicht so kalt. Es ist wie ein Abenteuer. Sie schliefen zusammen unter einem Berg von alten Steppdecken, und es war so eiskalt im Zimmer, dass ihr Atem die Luft über ihren Gesichtern vernebelte. Jeanette nahm einen Zusatzjob an und putzte abends in der Highschool. Amy ließ sie in dieser Zeit bei einer Nachbarin, aber als die Frau krank wurde und ins Krankenhaus musste, blieb ihr nichts anderes übrig, als die Kleine allein zu lassen. Sie erklärte ihr, was sie tun musste: Bleib im Bett, mach niemandem auf, mach einfach die Augen zu, und ich bin wieder da, ehe du dich versiehst. Sie achtete darauf, dass das Kind schlief, bevor sie sich zur Tür hinausschlich, und dann ging sie mit schnellen Schritten durch die Einfahrt hinunter zu ihrem Auto, das sie ein Stück weit vom Haus entfernt geparkt hatte, damit Amy den Motor nicht hörte.
Aber dann beging sie eines Abends den Fehler, jemandem davon zu erzählen, einer anderen Frau in der Putzkolonne, mit der sie kurz hinausgegangen war, um eine Zigarette zu rauchen. Jeanette hatte nie gern geraucht und wollte auch kein Geld dafür ausgeben, aber die Zigaretten halfen ihr, wach zu bleiben, und ohne eine Zigarettenpause gab es nichts, worauf man sich freuen konnte – nur noch mehr Toiletten schrubben und Flure wischen. Sie bat die Frau, die Alice hieß, es niemandem zu erzählen, denn sie wusste, sie konnte Ärger bekommen, wenn sie Amy so allein ließ, aber genau das tat Alice: Sie lief geradewegs zum Hausmeister, und der entließ Jeanette auf der Stelle. Ein Kind so allein zu lassen ist nicht in Ordnung, erläuterte er ihr in seinem Büro neben der Heizungsanlage, in einem Raum, nicht größer als drei Meter im Quadrat, mit einem verbeulten Metallschreibtisch, einem alten Sessel, aus dem die Polsterung hervorquoll, und einem Kalender an der Wand, der nicht mal aus diesem Jahr war. Die Luft dort drinnen war immer so heiß und stickig, dass Jeanette kaum atmen konnte. Er sagte: Sie können von Glück reden, dass ich die Behörden nicht informiere. Sie fragte sich, wann sie jemand geworden war, zu dem man so etwas mit Fug und Recht sagen konnte. Bis dahin war er durchaus nett zu ihr gewesen, und vielleicht hätte sie ihm die Situation begreiflich machen können – dass sie ohne das Geld, das sie mit dem Putzen verdiente, nicht wusste, was sie tun sollte, aber sie war zu müde, um die richtigen Worte zu finden. Sie nahm ihren letzten Scheck in Empfang und fuhr mit ihrem klapprigen alten Auto nach Hause, mit dem KIA, den sie noch auf der Highschool gekauft hatte. Der Wagen war damals schon sechs Jahre alt gewesen, und zwischenzeitlich konnte man im Rückspiegel die Schrauben und Nieten über den Asphalt kullern sehen.
Als sie wenige Tage später am Quick Mart anhielt, um eine Packung Capri zu kaufen, sprang der Motor nicht mehr an, und sie fing an zu weinen. Eine halbe Stunde lang saß sie da und weinte und konnte nicht mehr aufhören.
Das Problem war die Batterie. Eine neue kostete dreiundachtzig Dollar bei Sears. Inzwischen hatte sie eine Woche nicht gearbeitet und außerdem ihren Job im Diner verloren. Sie hatte gerade noch genug Geld, um ihre Sachen in ein paar Einkaufstüten und die Kartons zu packen, die Bill zurückgelassen hatte, und zu verschwinden.
Niemand erfuhr je, was aus ihnen geworden war. Das Haus stand leer; die Leitungen froren zu und platzten wie überreifes Obst. Als der Frühling kam, lief tagelang das Wasser heraus, bis die Wasserwerke merkten, dass niemand die Rechnung bezahlte, und zwei Männer schickten, die es abdrehten. Die Mäuse zogen ein, und als bei einem Sommergewitter ein Fenster im oberen Stockwerk zerbrach, auch die Schwalben. Sie bauten ihre Nester in dem Zimmer, in dem Jeanette und Amy in der Kälte geschlafen hatten, und bald war das Haus erfüllt vom Lärm und Geruch der Vögel.
In Dubuque arbeitete Jeanette in der Nachtschicht an einer Tankstelle. Amy schlief auf einem Sofa im Hinterzimmer, bis der Eigentümer es herausbekam und sie rauswarf. Es war Sommer; sie schliefen im KIA und wuschen sich in der Toilette hinter der Tankstelle, und so brauchten sie nur wegzufahren. Eine Zeitlang kamen sie bei einer Freundin in Rochester unter, die Jeanette aus der Schule kannte; sie war dort hinaufgezogen, um Krankenschwester zu werden. Jeanette bekam einen Job als Putzfrau in dem Krankenhaus, in dem die Freundin arbeitete, aber nur zum Mindestlohn, und das Apartment der Freundin war zu klein für sie alle. Sie zog in ein Motel, doch dort gab es niemanden, der sich um Amy kümmern konnte, und so schliefen sie schließlich wieder in dem KIA. Es war September, und es wurde kühl. Im Radio war die ganze Zeit die Rede vom Krieg. Sie fuhr nach Süden und kam bis Memphis, als der KIA endgültig den Geist aufgab.
Der Mann, der sie mit seinem Mercedes auflas, sagte, sein Name sei John, und die Art, wie er es sagte, ließ sie vermuten, dass er log wie ein Kind, das nicht zugeben wollte, wer die Lampe kaputt gemacht hatte – er taxierte sie einen Augenblick lang, bevor er sie ansprach. Ich heiße … John. Sie schätzte ihn auf fünfzig, aber sie hatte keinen guten Blick für so was. Er hatte einen sauber gestutzten Bart und trug einen dunklen Anzug, wie ein Bestattungsunternehmer. Beim Fahren warf er immer wieder einen Blick auf Amy im Rückspiegel, schob sich auf seinem Sitz zurecht und stellte Jeanette Fragen: wohin sie wolle, was sie gern tue, und was sie ins herrliche Tennessee geführt habe. Der Wagen erinnerte sie an Bill Reynolds’ Pontiac Grand Prix; er war nur noch schöner: Bei geschlossenen Fenstern hörte man kaum etwas von draußen, und die Sitze waren so weich, dass es sich anfühlte, als säße sie in einer Schale Eiscreme. Am liebsten wäre sie eingeschlafen. Als sie vor dem Motel hielten, kümmerte es sie kaum noch, was passieren würde. Es erschien unausweichlich. Sie waren in der Nähe des Flughafens; das Land war flach wie in Iowa, und in der Dämmerung sah sie die Lichter der Flugzeuge, die in langsamen, verschlafenen Bögen darüber kreisten.
Amy, Süße, Mama wird mit diesem netten Mann kurz da hineingehen, okay? Schau dir doch so lange dein Bilderbuch an, Schätzchen.
Er war höflich, nannte sie Baby und so weiter, und bevor er ging, legte er fünfzig Dollar auf den Nachttisch – genug für Jeanette, um die Übernachtung für sie und Amy zu bezahlen.
Aber andere waren weniger nett.
Abends schloss sie Amy im Zimmer ein und ließ den Fernseher als Geräuschkulisse laufen, und dann stellte sie sich draußen vor dem Motel an den Highway, stand da einfach irgendwie herum, und es dauerte nie lange, bis jemand anhielt, immer ein Mann, und sobald sie sich geeinigt hatten, nahm sie ihn mit ins Motel. Bevor sie ihn ins Zimmer ließ, trug sie Amy schnell ins Bad, wo sie ihr aus ein paar Extradecken und Kissen ein Bett in der Badewanne gemacht hatte.
Amy war sechs. Sie war still und redete die meiste Zeit kaum ein Wort, aber sie hatte sich lesen selbst beigebracht, indem sie immer wieder dieselben Bücher angeschaut hatte, und sie konnte auch rechnen. Einmal schauten sie »Glücksrad«, und als es so weit war, dass die Frau das Geld ausgeben durfte, das sie gewonnen hatte, wusste das Kind genau, was damit zu haben war: Den Urlaub in Cancun konnte sie sich nicht leisten, aber wenn sie die Wohnzimmergarnitur nähme, hätte sie noch genug übrig für die Golfschläger. Jeanette nahm an, dass Amy wohl ziemlich gescheit war, wenn sie so etwas ausrechnen konnte, und vermutlich sollte sie zur Schule gehen, aber sie wusste nicht, wo es hier eine gab. Überall waren nur Karosseriewerkstätten und Pfandleihen und Motels wie das, in dem sie wohnten, das SuperSix. Der Eigentümer hatte große Ähnlichkeit mit Elvis Presley, aber nicht mit dem hübschen jungen, sondern mit dem fetten alten mit den verschwitzten Haaren und der klobigen Goldbrille, hinter der seine Augen aussahen wie Fische in einem Aquarium. Er trug eine Satinjacke mit einem Blitz auf dem Rücken, genau wie Elvis. Meistens saß er einfach an seinem Schreibtisch hinter der Rezeption, spielte Solitaire und rauchte eine dünne Zigarre mit einem Plastikmundstück. Jeanette bezahlte die Zimmermiete wöchentlich in bar, und wenn sie einen Fünfziger drauflegte, ließ er sie in Ruhe. Eines Tages fragte er sie, ob sie vielleicht eine Waffe von ihm kaufen wolle, zu ihrer eigenen Sicherheit. Klar, sagte sie, was kostet so was, und er sagte: noch mal hundert. Er zeigte ihr einen rostig aussehenden kleinen Revolver, einen .22er. Als sie ihn da im Büro in die Hand nahm, sah er ziemlich mickrig aus, nicht wie etwas, womit man jemanden erschießen konnte. Aber er passte in die Handtasche, die sie mitnahm, wenn sie sich draußen an den Highway stellte, und vielleicht wäre es ja gar nicht so schlecht, ihn dabeizuhaben. Passen Sie auf, wohin Sie damit zielen, sagte der Manager, und Jeanette meinte: Okay, wenn Sie Angst davor haben, muss er ja funktionieren. Ich kauf Ihnen den Revolver ab.
Und sie war froh, dass sie ihn hatte. Jetzt erst erkannte sie, dass sie vorher Angst gehabt hatte und jetzt nicht mehr, jedenfalls nicht mehr so viel. Der Revolver war wie ein Geheimnis, das ihr ganz allein gehörte, das Geheimnis nämlich, wer sie war. Als trage sie das letzte Überbleibsel ihrer selbst in der Handtasche. Die andere Jeanette, die jetzt im Rock und engen Top am Highway stand, die Hüfte vorstreckte und lächelte und fragte: Was möchtest du, Baby? Kann ich heute Abend was für dich tun? –, diese Jeanette war eine erfundene Person, eine Frau in einer Geschichte, deren Ende sie vielleicht gar nicht erfahren wollte.
Der Mann, der an dem Abend, als es passierte, bei ihr anhielt, war nicht das, was sie erwartet hätte. Die Üblen erkannte sie meist auf den ersten Blick, und manchmal sagte sie, nein danke, und ging einfach weiter. Aber der hier sah nett aus, ein College-Boy vermutlich, zumindest noch jung genug für das College, und er war gut angezogen – eine frische, saubere Khakihose und eins von diesen Hemden mit dem kleinen hammerschwingenden Mann auf dem Pferd. Er sah aus wie jemand, der zu einem Date unterwegs war, und darüber musste sie innerlich lachen, als sie in den Wagen stieg, einen großen Ford Expo mit einem Gestell auf dem Dach, für ein Fahrrad oder so was.
Aber dann passierte etwas Komisches. Er wollte nicht ins Motel fahren. Manche Männer wollten es gleich hier mit ihr machen, im Wagen, ohne auch nur auf den Parkplatz zu fahren, aber als sie damit anfing, weil sie dachte, er wollte es so, schob er sie sanft von sich. Er wolle sie ausführen, sagte er.
Was heißt das, ausführen?, fragte sie.
Irgendwohin, wo es nett ist, erklärte er. Möchtest du nicht irgendwohin, wo es nett ist? Ich bezahle dir mehr, als du sonst kriegst.
Sie dachte an Amy, die allein im Zimmer schlief, und dachte sich, es wäre kein großer Unterschied, so oder so. Solange es nicht länger als eine Stunde dauert, sagte sie. Dann musst du mich zurückbringen.
Aber es dauerte länger als eine Stunde, viel länger. Als sie ankamen, wo sie hinwollten, bekam Jeanette Angst. Er hielt vor einem Haus mit einem großen Schild über der Veranda. Darauf standen drei Umrisse, die aussahen wie Buchstaben, aber nicht ganz, und Jeanette wusste, was es war: eine Studentenverbindung. Irgendein Laden, in dem ein paar reiche Jungs mit Daddys Geld wohnten und sich betranken, während sie so taten, als studierten sie, um Ärzte oder Anwälte zu werden.
– Meine Freunde werden dir gefallen, sagte er. Komm, ich möchte, dass du sie kennenlernst.
– Ich gehe da nicht rein, sagte sie. Bring mich wieder zurück.
Er schwieg einen Moment, saß da mit beiden Händen auf dem Lenkrad, und als sie sein Gesicht anschaute und sah, was da in seinen Augen war, diese langsam anschwellende, wilde Gier, erschien er ihr plötzlich nicht mehr ganz so sehr wie ein netter Junge.
– Das, sagte er, kommt nicht in Frage. Es steht heute sozusagen nicht auf der Speisekarte.
– Du kannst mich mal.
Sie stieß die Tür des Wagens auf und wollte weglaufen, auch wenn sie nicht wusste, wo sie war, aber dann war er auch draußen und packte sie grob am Arm. Jetzt war ziemlich klar, was sie in dem Haus erwartete, was er wollte und wie sich das alles entwickeln würde. Sie war selbst schuld, dass sie es nicht gleich begriffen hatte – schon viel früher, vielleicht schon in dem Diner an dem Tag, als Bill Reynolds hereingekommen war. Sie erkannte, dass der Junge auch Angst hatte – dass jemand ihn zwang, dies zu tun, seine Freunde in dem Haus. Zumindest empfand er es jedenfalls so. Aber das war ihr egal. Er drängte sich hinter sie und wollte den Arm um ihren Hals schlingen, um sie in den Schwitzkasten zu nehmen, und sie schlug mit den Faustknöcheln hart zu – dahin, wo es wehtat –, und er schrie auf und nannte sie ein Dreckstück und eine Nutte und schlug ihr ins Gesicht. Sie verlor das Gleichgewicht und fiel rückwärts hin, und dann war er über ihr, saß rittlings auf ihren Hüften wie ein Jockey auf seinem Pferd und ohrfeigte und schlug sie und versuchte, ihre Arme festzuhalten. Wenn ihm das gelänge, wäre alles aus. Wahrscheinlich war es ihm egal, ob sie bei Bewusstsein war oder nicht, wenn er es täte; keinen von ihnen würde es interessieren. Sie griff in die Handtasche, die neben ihr im Gras lag. Ihr Leben kam ihr fremd vor, als wäre es gar nicht mehr ihr eigenes, wenn es das je gewesen war. Aber auf einen Revolver war Verlass, und sie spürte, wie das kühle Metall der Waffe in ihre Handfläche glitt, als wollte es dort sein. Ihr Verstand sagte: Überleg nicht lange, Jeanette, und sie drückte dem Jungen die Mündung seitlich an den Kopf und spürte die Haut und den Knochen, wo sie ihn berührte, und sie dachte sich, dass es nah genug war, um nicht danebenzuschießen, und dann drückte sie ab.
Sie brauchte die ganze Nacht für den Heimweg. Als der Junge von ihr heruntergekippt war, war sie so schnell, wie sie konnte, zur nächsten großen Straße gelaufen, die sie sehen konnte, breit und mit einem Grünstreifen, leuchtend im Licht der Laternen, und dort erwischte sie gerade noch einen Bus. Sie wusste nicht, ob sie Blut an den Kleidern hatte, aber der Fahrer sah sie ohnehin kaum an, als er ihr erklärte, wie sie zum Flughafen zurückkam, und dann setzte sie sich in die letzte Reihe, wo niemand sie sehen konnte. Der Bus war fast leer. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war. Der Bus kroch durch endlose Viertel mit Wohnhäusern und Geschäften, vorbei an einer großen Kirche und dann an den Wegweisern zum Zoo, bis er schließlich in die Innenstadt kam. In einem Wartehäuschen aus Plexiglas stand sie fröstelnd in der klammen Kälte und wartete auf einen zweiten Bus. Sie hatte ihre Uhr verloren und wusste nicht, wie spät es war. Vielleicht war sie bei dem Kampf abgerissen, sodass die Polizei jetzt eine Spur hatte. Aber es war nur eine Timex, die sie im Walgreens Drugstore gekauft hatte, und vermutlich würde sie nicht viel verraten. Der Revolver aber schon. Sie hatte ihn auf den Rasen geworfen; jedenfalls hatte sie es so in Erinnerung. Ihre Hand war immer noch ein bisschen taub von der Wucht, mit der er losgegangen war. Die Knochen vibrierten wie eine Stimmgabel, die nicht zur Ruhe kam.
Als sie am Motel ankam, ging schon die Sonne auf. Sie spürte, wie die Stadt erwachte. Im aschgrauen Licht schloss sie die Zimmertür auf. Amy schlief bei laufendem Fernseher; in einem Infomercial für irgendeine Trainingsmaschine sah man einen muskelbepackten Mann mit einem Pferdeschwanz und einem großen Mund, der aussah wie eine Hundeschnauze. Lautlos bellte er auf dem Bildschirm. Jeanette vermutete, dass sie nicht mehr als zwei Stunden Zeit hätte, bevor jemand käme. Es war dumm von ihr gewesen, die Waffe einfach liegen zu lassen, aber es hatte keinen Sinn, sich darüber jetzt noch den Kopf zu zerbrechen. Sie wusch sich das Gesicht und putzte sich die Zähne, ohne sich im Spiegel anzusehen, und dann zog sie sich um; sie zog Jeans und ein T-Shirt an und brachte die alten Kleider – den kurzen Rock und das Stretch-Top und die Fransenjacke –, die beschmiert waren mit Blut und anderem Zeug, über das sie gar nichts wissen wollte, zu dem stinkenden Container hinter dem Motel und stopfte sie hinein.
Es war, als sei die Zeit irgendwie komprimiert, zusammengedrückt wie ein Akkordeon. All die Jahre, die sie gelebt hatte, und alles, was ihr passiert war, quetschte das Gewicht dieses einen Augenblicks zusammen. Sie erinnerte sich, wie sie Amy, als sie noch ein Baby war, frühmorgens am Fenster im Arm gehalten und gewiegt hatte, und wie sie dabei oft selbst eingeschlafen war. Das waren schöne Momente gewesen, und sie würde sich immer daran erinnern. Sie packte ein paar Sachen in Amys Kinderrucksack und Kleidung und Geld für sich selbst in eine Einkaufstüte. Dann schaltete sie den Fernseher ab und rüttelte Amy sanft wach.
»Komm, Süße. Aufwachen. Wir müssen los.«
Die Kleine schlief noch halb, aber sie ließ sich von Jeanette anziehen. Sie war morgens immer so, benommen und ein bisschen verwirrt, und Jeanette war froh, dass es noch so früh war; zu jeder anderen Tageszeit wäre viel mehr Erklärung und Überredung nötig gewesen. Sie gab dem Mädchen einen Müsliriegel und eine Dose lauwarme Traubenlimo, und dann gingen sie zusammen hinaus an den Highway, wo Jeanette aus dem Bus gestiegen war.
Sie erinnerte sich an die große steinerne Kirche, die sie auf der Rückfahrt zum Motel gesehen hatte. »Unsere Schmerzensreiche Mutter« hatte auf dem Schild davor gestanden. Wenn sie mit den Bussen nichts falsch machte, würden sie wieder dort vorbeifahren.
Sie saß mit Amy in der letzten Reihe und hatte ihr den Arm um die Schultern gelegt. Das kleine Mädchen schwieg; nur einmal sagte sie etwas, als sie wieder Hunger bekam, und Jeanette gab ihr noch einen Müsliriegel aus der Schachtel, die sie zusammen mit den sauberen Sachen und der Zahnbürste und dem Stoffhasen in ihren Rucksack getan hatte. Amy, dachte sie, du bist mein liebes Kind, mein liebes Kind, es tut mir leid, es tut mir so leid. In der Stadtmitte stiegen sie wieder um und fuhren noch einmal eine halbe Stunde lang, und als Jeanette das Schild zum Zoo sah, befürchtete sie, dass sie zu weit gefahren war, aber dann fiel ihr ein, dass die Kirche vor dem Zoo gekommen war, und deshalb würde sie jetzt danach kommen, weil sie in die andere Richtung fuhr.
Plötzlich sah sie sie. Bei Tag sah sie anders aus, nicht so groß, aber das machte nichts. Sie stiegen durch die hintere Tür aus, und Jeanette zog den Reißverschluss an Amys Jacke hoch und hängte ihr den Rucksack um, während der Bus weiterfuhr.
Dann schaute sie auf und sah das andere Schild, an das sie sich aus der vergangenen Nacht erinnerte. Es war an einem Pfosten befestigt, an der Ecke einer Einfahrt, die neben der Kirche entlangführte: Konvent der Barmherzigen Schwestern.
Sie nahm Amy bei der Hand und ging die Einfahrt hinunter. Sie war von hohen Bäumen gesäumt, einer Art Eichen, die ihre langen, bemoosten Arme über sie breiteten wie ein Zelt. Sie wusste nicht, wie ein Konvent aussah. Wie sich herausstellte, war es nur ein Haus, aber ein hübsches Haus – aus einem Stein, der ein bisschen glitzerte, und mit einem Schindeldach und weiß umrandeten Fenstern. Davor lag ein Kräutergarten, und sie nahm an, dass die Nonnen sich mit so etwas beschäftigten: dass sie hier herauskamen und sich um winzige Pflänzlein kümmerten. Sie ging zur Haustür und läutete.
Die Frau, die ihr öffnete, war nicht alt, wie Jeanette es erwartet hatte, und sie trug auch keine Robe, oder wie diese Gewänder sonst hießen. Sie war jung, nicht viel älter als Jeanette, und abgesehen von einer Haube war sie ganz normal gekleidet: Rock, Bluse und braune flache Halbschuhe. Und sie war schwarz. In Iowa hatte Jeanette in ihrem ganzen Leben höchstens ein oder zwei Schwarze gesehen – außer im Fernsehen oder im Kino. Aber in Memphis wimmelte es von ihnen. Sie wusste, dass manche Leute Probleme damit hatten, aber ihr selbst hatte es bisher nichts ausgemacht. Eine schwarze Nonne war sicher völlig okay.
»Entschuldigen Sie, dass ich störe«, fing Jeanette an. »Mein Auto ist kaputt gegangen, und ich dachte …«
»Natürlich«, sagte die Frau. Ihre Stimme klang merkwürdig, anders als alle, die Jeanette je gehört hatte – als stecke Musik in jedem Wort und schwinge darin. »Kommen Sie herein, alle beide.«
Die Frau trat in der Tür zurück und ließ Jeanette und Amy in den Hausflur. Irgendwo in diesem Gebäude waren noch andere – vielleicht auch schwarze – Nonnen, das wusste Jeanette, und sie schliefen oder kochten oder lasen oder beteten, was Nonnen vermutlich oft taten, vielleicht sogar die meiste Zeit. Still genug war es ja. Jetzt musste sie eine Ausrede finden, um die Frau mit Amy allein zu lassen. Das wusste sie, wie sie wusste, dass sie in der vergangenen Nacht einen Jungen umgebracht hatte. Was sie jetzt vorhatte, war noch schmerzhafter, aber ansonsten nicht anders – nur noch mehr Schmerz an derselben Stelle.
»Miss …?«
»Oh, nennen Sie mich einfach Lacey«, sagte die Frau. »Wir sind hier nicht so förmlich. Ist das Ihre kleine Tochter?« Sie kniete vor Amy. »Hallo, du, wie heißt du denn? Ich habe eine kleine Nichte in deinem Alter, die ist fast so hübsch wie du.« Sie schaute zu Jeanette hoch. »Ihre Tochter ist sehr schüchtern. Vielleicht liegt es an meinem Akzent. Wissen Sie, ich bin aus Sierra Leone in Westafrika.« Sie wandte sich wieder an Amy und nahm ihre Hand. »Weißt du, wo das ist? Es ist sehr weit weg.«
»Sind alle Nonnen hier von dort?«, fragte Jeanette.
Die Frau stand auf. Sie lachte und zeigte dabei ihre weißen Zähne. »Du meine Güte, nein! Ich bin die Einzige.«
Einen Moment lang sagte niemand etwas. Jeanette mochte diese Frau, und sie hörte ihre Stimme gern. Es gefiel ihr, wie sie mit Amy umging und wie sie ihr in die Augen schaute, wenn sie mit ihr sprach.
»Ich wollte sie schnell noch zur Schule bringen«, erzählte Jeanette. »Aber mein altes Auto …? Das Ding ist einfach stehen geblieben.«
Die Frau nickte. »Bitte. Kommen Sie.«
Sie führte Jeanette und Amy durch einen Korridor in die Küche, einen großen Raum mit einem mächtigen Esstisch aus Eichenholz und Schränken mit Schildern an den Türen: »Geschirr« und »Konserven« und »Reis und Nudeln«. Jeanette hatte noch nie daran gedacht, dass Nonnen auch aßen. Bei all den Nonnen, die hier wohnten, war es vermutlich nicht verkehrt, alles zu beschriften. Die Frau zeigte auf das Telefon. Es hing an der Wand, ein alter brauner Apparat mit einer langen Schnur. Den nächsten Schritt hatte Jeanette sich genau überlegt. Sie wählte eine Nummer, während die Frau einen Teller Kekse für Amy brachte – keine gekauften, sondern welche, die jemand gebacken hatte. Eine Tonbandstimme am anderen Ende erzählte ihr, heute sei mit bewölktem Himmel und vereinzelten Schauern gegen Abend zu rechnen, die Höchsttemperaturen lägen bei dreizehn Grad, und sie tat, als rede sie mit der Pannenhilfe, und nickte dabei mit dem Kopf.
»Der Abschleppwagen kommt«, sagte sie, als sie eingehängt hatte. »Er hat gesagt, ich soll draußen auf ihn warten. Zufällig wäre einer gleich um die Ecke.«
»Na, das ist doch prima!« Die Frau strahlte. »Heute ist Ihr Glückstag. Wenn Sie wollen, können Sie Ihre Tochter bei mir lassen. Wäre nicht gut, wenn Sie auf einer verkehrsreichen Straße auf sie aufpassen müssten.«
Das war es. Jeanette brauchte gar nichts weiter zu tun. Sie musste nur noch ja sagen.
»Macht das keine Umstände?«
Die Frau lächelte. »Wir kommen zurecht. Nicht wahr?« Sie schaute Amy aufmunternd an. »Sehen Sie? Sie ist ganz zufrieden. Gehen Sie, und kümmern Sie sich um Ihren Wagen.«
Amy saß auf einem Stuhl an dem großen Eichenholztisch, vor sich den unberührten Teller mit den Keksen und ein Glas Milch. Sie hatte ihren Rucksack abgenommen und hielt ihn auf dem Schoß. Jeanette schaute sie an, so lange sie sich traute, und dann kniete sie bei ihr nieder und nahm sie in die Arme.
»Sei schön brav«, sagte sie, und Amy nickte an ihrer Schulter. Jeanette wollte noch etwas sagen, aber sie fand keine Worte. Sie dachte an den Zettel, den sie in den Rucksack gesteckt hatte, das Blatt, das sie sicher finden würden, wenn sie nicht zurückkäme, um Amy zu holen. Sie umarmte sie so lange, wie sie es wagen durfte. Sie fühlte Amy um sich herum, die Wärme ihres Körpers und den Duft ihrer Haare und ihrer Haut. Sie wusste, gleich würde sie weinen, und das durfte die Frau – Lucy? Lacey? – nicht sehen, aber sie umarmte Amy doch noch einen Augenblick länger und versuchte, dieses Gefühl in ihrem Innern zu bewahren, irgendwo, wo es sicher war. Dann ließ sie ihre Tochter los, und bevor jemand ein Wort sagen konnte, ging Jeanette aus der Küche und aus dem Haus und durch die Einfahrt zur Straße, und dann ging sie immer weiter.