60
Tage voller Regen, und Peter erzählte ihnen alles.
Fünf Tage lang regnete es ununterbrochen. Stundenlang saßen sie an dem langen Tisch in Vorhees’ Zelt, manchmal nur sie beide, aber meistens war auch Greer dabei. Er erzählte ihnen von Amy und der Kolonie und von dem Signal, dem sie gefolgt waren. Er erzählte ihnen von Theo und Mausami, von dem Hafen und dem, was dort passiert war. Er erzählte ihnen, dass sechzehnhundert Kilometer weit von hier, auf einem Berg in Kalifornien, neunzig Seelen darauf warteten, dass das Licht ausging.
»Ich werde Sie nicht belügen«, sagte Vorhees, als Peter ihn fragte, ob sie die Soldaten hinschicken könnten. Es war spät am Nachmittag. Alicia hatte die Garnison am Morgen mit einer Patrouille verlassen. Umstandslos hatte sie sich in das Leben der Soldaten eingefügt.
»Es ist nicht so, dass ich Ihnen nicht glaube«, erklärte Vorhees. »Allein dieser Bunker scheint den Trip wert zu sein. Aber ich muss die Sache nach oben weitergeben – das heißt, an die Division. Es dauert mindestens bis zum nächsten Frühjahr, ehe wir an ein solches Unternehmen denken können. Es handelt sich um komplett unbekanntes Gelände.«
»Ich weiß nicht, ob sie noch so lange warten können.«
»Tja, sie werden es müssen. Meine größte Sorge ist, dass wir aus diesem Tal hinauskommen, bevor die Schneefälle einsetzen. Wenn der Regen nicht aufhört, könnten wir festsitzen. Unser Treibstoff reicht nur noch, um die Lichter dreißig Tage brennen zu lassen.«
»Ich würde gern mehr über diesen ›Hafen‹ erfahren«, warf Greer ein. Außerhalb des Zeltes oder in Anwesenheit der Männer war das Verhältnis zwischen ihm und Vorhees von starrer Förmlichkeit, aber hier drinnen entspannten sie sich sichtlich, und man merkte, dass sie Freunde waren.
Greer sah den General an, und sein Blick verdunkelte sich. »Klingt ein bisschen wie diese Leute in Oklahoma.«
»Was für Leute?«, fragte Peter.
»Ein Ort namens Homer.« Sofort nahm Vorhees den Faden auf. »Das Dritte Bataillon ist vor ungefähr zehn Jahren darauf gestoßen, am Arsch der Welt, weit draußen im Westen von Oklahoma. Eine ganze Stadt mit Überlebenden, mehr als elfhundert Männer, Frauen und Kinder. Ich war nicht dabei, aber ich habe die Geschichten gehört. Es war, als gehe man hundert Jahre zurück in die Vergangenheit; sie schienen nicht mal zu wissen, was die Dracs waren. Sie kümmerten sich einfach um ihren Kram, nett und friedlich, ohne Lichter, ohne Zäune. Schön, Sie zu sehen, aber machen Sie die Tür leise zu, wenn Sie wieder gehen. Der Befehlshabende bot ihnen an, sie mitzunehmen, doch sie sagten, nein danke, und in Wahrheit reichte auch die Ausrüstung des Dritten Batallions nicht, um so viele Leute nach Süden und nach Kerrville zu transportieren. Verdammt, es war unglaublich! Überlebende, und sie wollten nicht gerettet werden. Das Dritte ließ eine Einheit da und marschierte nach Norden, rauf nach Wichita, und da wurde ihnen der Arsch aufgerissen. Sie verloren die Hälfte ihrer Männer, und die Übrigen flüchteten Hals über Kopf zurück. Als sie da ankamen, war der Ort leer.«
»Was heißt leer?«, fragte Peter.
Vorhees hob die Brauen. »Leer heißt leer. Keine Seele, und auch keine Leichen. Alles blitzsauber, die Tische zum Essen gedeckt. Von der Einheit, die sie zurückgelassen hatten, war auch keine Spur mehr da.«
Peter musste zugeben, dass es rätselhaft war, aber er begriff nicht, was es mit dem Hafen zu tun haben sollte. »Vielleicht haben sie einfach beschlossen, woanders hinzugehen, wo es sicherer war«, erwog er.
»Vielleicht. Vielleicht haben die Dracs sie so schnell erwischt, dass sie nicht mal Zeit hatten, das Geschirr wegzuräumen. Ich habe keine Antwort auf das, was Sie wissen wollen. Aber ich sage Ihnen eins. Vor dreißig Jahren, als von Kerrville aus das Erste Expeditionsbataillon losgeschickt wurde, konnten Sie keine hundert Meter weit gehen, ohne über einen Drac zu stolpern. Das Erste hat an guten Tagen ein halbes Dutzend Männer verloren, und als Coffees Einheit verschwand, dachten alle, es sei so gut wie vorbei. Ich meine, der Kerl war eine Legende. Damals hat sich das Expeditionsbataillon mehr oder weniger aufgelöst. Aber jetzt sind Sie hier, und Sie kommen aus dem fernen Kalifornien. Damals hätten Sie keine zwanzig Schritte bis zur Latrine geschafft.«
Peter sah Greer an, und der nickte bestätigend. »Wollen Sie sagen, sie sterben aus?«
»Oh, es gibt noch jede Menge, glauben Sie mir. Man muss nur wissen, wo man sie suchen soll. Ich will etwas anderes sagen. Etwas hat sich verändert. In den letzten fünf Jahren haben wir von Kerrville aus zwei Nachschublinien eingerichtet, eine bis rauf nach Hutchinson, Kansas, und die andere durch New Mexico nach Colorado. Wir haben festgestellt, dass sie sich jetzt üblicherweise zu großen Schwärmen zusammenrotten. Und sie graben sich ein. Benutzen Bergwerke, Höhlen, Orte wie den Berg, den Sie gefunden haben. Manchmal sind sie da drin so dicht zusammengezwängt, dass man ein Stemmeisen braucht, um sie auseinanderzuhebeln. In den Großstädten wimmelt es immer noch von ihnen, bei all den leeren Gebäuden, aber auf dem Land gibt es Gegenden, wo Sie tagelang herumlaufen können, ohne einen zu sehen.«
»Und Kerrville? Warum ist es da sicher?«
Der General runzelte die Stirn. »Ist es nicht. Nicht hundertprozentig. Tatsächlich kann man so gut wie nirgendwo in Texas hingehen. Nach Laredo nicht und auch nicht nach Dallas. Houston, oder was davon übrig ist, ist ein gottverdammter Blutegelsumpf. Die Stadt ist so vergiftet von der Petrochemie, dass ich nicht weiß, wie die Leute es da aushalten, aber sie tun es. San Antonio und Austin wurden im ersten Krieg weitgehend dem Erdboden gleichgemacht, und El Paso auch. Die verfluchte Bundesregierung hat versucht, die Dracs auszuräuchern. Das hat zur Unabhängigkeitserklärung geführt, etwa um dieselbe Zeit, als Kalifornien sich abspaltete.«
»Abspaltete?«, fragte Peter.
Vorhees nickte. »Von den USA. Hat sich für unabhängig erklärt. Die Sache mit Kalifornien endete in einem Blutbad; eine Zeitlang kam es zu richtig schweren Gefechten, als hätte man damals keine anderen Sorgen gehabt. Texas rutschte in dem Getümmel unten durch. Vielleicht, weil die Bundesregierung nicht an zwei Fronten kämpfen wollte. Der Gouverneur beschlagnahmte sämtliche militärischen Anlagen, was nicht schwierig war, weil die Army mittlerweile fast aufgelöst war. Alles brach auseinander. Sie verlegten die Hauptstadt nach Kerrville und gruben sich ein. Es gab eine Mauer wie in Ihrer Kolonie, aber der Unterschied ist: Wir hatten Öl, und zwar jede Menge. Unten bei Freeport lagern ungefähr fünfhundert Millionen Barrel in unterirdischen Salzstöcken, die alte strategische Erdölreserve. Hast du Öl, hast du Strom. Hast du Strom, hast du Licht. Wir haben mehr als dreißigtausend Seelen innerhalb der Mauer, fünfzigtausend Hektar bewässertes Land und eine befestigte Nachschublinie zu einer funktionsfähigen Raffinerie an der Küste.«
»An der Küste«, wiederholte Peter. Das Wort lag ihm schwer auf der Zunge. »Sie meinen das Meer?«
»Na ja, den Golf von Mexiko.« Vorhees zuckte die Achseln. »Ihn ›Meer‹ zu nennen, wäre höflich. Ist eine Chemikalienbrühe. All die Offshore-Plattformen pumpen immer noch ihren Dreck hinaus, und dazu kommen die Abwässer von New Orleans. Die Meeresströmungen haben auch eine Menge Müll herangeschwemmt. Tanker, Frachter, alles Mögliche. An manchen Stellen kann man praktisch hinüberlaufen, ohne nasse Füße zu kriegen.«
»Aber man könnte immer noch von dort wegkommen«, sagte Peter. »Mit einem Boot.«
»Theoretisch, ja. Ich würde es allerdings nicht empfehlen. Das Problem besteht darin, an dem Sperrgürtel vorbeizukommen.«
»Minen«, erläuterte Greer.
Vorhees nickte. »Und zwar viele. In den letzten Tagen des Krieges rotteten sich unsere sogenannten Freunde in der NATO zusammen und unternahmen einen letzten Versuch, die Ausbreitung der Infektion zu verhindern. Schwere Bombardierungen entlang der Küste, und zwar nicht nur mit konventionellen Sprengköpfen. Sie haben so gut wie alles, was im Wasser schwamm, in die Luft gejagt. Unten in Corpus Christi kann man immer noch die Wracks sehen. Und dann haben sie Minen gelegt, nur um die Tür wirklich zuzumachen.«
Peter dachte an die Geschichte, die sein Vater ihm erzählt hatte. Die Geschichten vom Meer und von Long Beach. Die verrosteten Gerippe der großen Schiffe, so weit das Auge reichte. Nie hatte Peter sich gefragt, wie es dazu gekommen war. Er hatte in einer Welt ohne Vergangenheit gelebt, ohne Ursachen, in einer Welt, in der die Dinge einfach waren, was sie waren. Als er jetzt mit Vorhees und Greer redete, war es, als betrachte er die Linien auf einer Heftseite und sehe plötzlich die Worte, die darauf geschrieben standen.
»Wie sieht es weiter östlich aus?«, fragte er. »Haben Sie jemals jemanden hingeschickt?«
Vorhees schüttelte den Kopf. »Seit Jahren nicht mehr. Die Erste Expedition hat zwei Bataillone hingeschickt, eins über Shreveport nach Louisiana und eins durch Missouri nach St. Louis. Sie sind nicht zurückgekommen.« Er zuckte die Achseln. »Vielleicht kommen sie eines Tages noch. Vorläufig bleibt uns nur Texas.«
»Das würde ich gern sehen«, sagte Peter. »Diese Stadt. Kerrville.«
»Das werden Sie, Peter.« Vorhees gestattete sich ein Lächeln. »Wenn Sie mit dem Konvoi fahren.«
Sie hatten Vorhees noch nicht gesagt, wie sie sich entschieden hatten, und Peter fühlte sich hin- und hergerissen. Hier waren sie in Sicherheit, hier gab es Licht, sie hatten die Army gefunden. Vielleicht würde es bis zum Frühjahr dauern, doch Peter war zuversichtlich, dass Vorhees eine Expeditionstruppe zur Kolonie schicken und die andern herholen würde. Kurz gesagt, sie hatten gefunden, was sie gesucht hatten, und mehr als das. Seine Freunde jetzt zum Weiterziehen aufzufordern, erschien ihm unnötig riskant. Und ohne Alicia wollte ein Teil seiner selbst ohnehin ja sagen, damit das Ganze einfach vorbei wäre.
Aber immer wenn er darüber nachdachte, dachte er als Nächstes an Amy. Alicia hatte recht gehabt. So weit gekommen zu sein und dann aufzugeben – er würde es später sicher bereuen, wahrscheinlich sein Leben lang. Michael hatte versucht, das Signal über das Funkgerät im Zelt des Generals wieder einzufangen, aber dieses Gerät reichte nicht so weit. Vorhees hatte gesagt, er habe keinen Anlass, ihm die Geschichte nicht zu glauben, aber wer konnte schon wissen, was das Signal bedeutete?
»Das Militär hat allen möglichen Scheiß hinterlassen. Die Zivilisten auch. Glauben Sie mir, wir kennen das. Sie können nicht hinter jedem Piepser herjagen.« Er sprach mit der Müdigkeit eines Mannes, der schon mehr als genug gesehen hatte. »Dieses Mädchen, das Sie da haben. Amy. Vielleicht ist sie hundert Jahre alt, wie Sie sagen, vielleicht auch nicht. Ich habe keinen Grund, Ihnen nicht zu glauben – nur, dass sie aussieht wie eine Fünfzehnjährige mit einer Scheißangst. Man kann solche Sachen nicht immer erklären. Ich schätze, sie ist einfach eine arme traumatisierte Seele, die irgendwie überlebt hat und durch reinen Zufall in Ihr Camp spaziert ist.«
»Und was ist mit dem Sender in ihrem Nacken?«
»Was soll damit sein?« Vorhees’ Ton war nicht spöttisch, sondern völlig sachlich. »Verdammt, vielleicht ist sie eine Russin oder eine Chinesin. Wir haben schon darauf gewartet, dass diese Leute aufkreuzen, immer angenommen, dass da drüben noch jemand lebt.«
»Und lebt da noch jemand?«
Vorhees schwieg, und er und Greer wechselten einen warnenden Blick.
»Die Wahrheit ist, wir wissen es nicht. Manche behaupten, die Quarantäne hat funktioniert, und der Rest der Welt lässt sich’s ohne uns gutgehen. Da stellt sich natürlich die Frage, warum wir dann per Funk nichts davon mitkriegen, aber vermutlich ist es möglich, zusätzlich zu den Minen auch eine elektronische Barrikade zu errichten. Andere glauben – und ich glaube, der Major und ich teilen diese Auffassung –, dass alle tot sind. Wohlgemerkt, das sind alles nur Mutmaßungen, aber man munkelt, die Quarantäne war nicht ganz so dicht, wie die Leute glaubten. Fünf Jahre nach dem Ausbruch waren die Vereinigten Staaten weitgehend entvölkert. Es konnte zugegriffen werden. Das Goldlager in Fort Knox. Der Tresor der Zentralbank in New York. Jedes Museum, jedes Juweliergeschäft, jede Bank bis hinunter zu der Sparkasse an der Ecke, alles war immer noch da, und niemand war im Laden. Aber der Hauptgewinn war das komplette amerikanische Rüstungsarsenal, das einfach so herumlag, unter anderm mehr als zehntausend Nuklearsprengköpfe, von denen in einer Welt, in der die Vereinigten Staaten nicht mehr den Babysitter spielten, jeder Einzelne das Gleichgewicht der Macht verschieben konnte. Offen gesagt, ich glaube, die Frage ist nicht, ob jemand hier gelandet ist, sondern wer und wie viele. Und da ist es wahrscheinlich, dass sie das Virus mit nach Hause genommen haben.«
Peter nahm sich einen Augenblick Zeit, um das alles zu verdauen. Vorhees gab ihm zu verstehen, dass die Welt leer war.
»Ich glaube nicht, dass Amy hier ist, um etwas zu stehlen«, sagte er schließlich.
»Zu Ihrer Beruhigung: Ich glaube es auch nicht. Sie ist ein Kind, Peter. Wie sie da draußen überlebt hat, weiß niemand. Vielleicht erzählt sie es Ihnen ja irgendwann mal.«
»Ich glaube, das hat sie schon getan.«
»Das glauben Sie. Und ich werde Ihnen nicht widersprechen. Aber ich will Ihnen etwas anderes sagen. Als Junge kannte ich eine Frau, eine verrückte alte Lady, die in einer Hütte hinter unserem Viertel wohnte, in einer alten, baufälligen Bruchbude. Runzlig wie eine Rosine, und mit hundert Katzen. Die Hütte stank nur so nach Katzenpisse. Und diese Frau behauptete, sie könnte hören, was die Dracs dachten. Wir Kids haben uns ohne Ende über sie lustig gemacht, aber natürlich konnten wir auch nie genug von ihr kriegen. Das war so ein Fall, wo man nachher Gewissensbisse hat, doch nicht in dem Augenblick. Sie war das, was ihr Walker nennt; eines Tages stand sie einfach vor dem Tor.« Vorhees hob die Schultern. »Von Zeit zu Zeit hört man solche Geschichten. Meistens geht es um alte Leute, halb verrückte Mystiker, nie um ein Kind wie dieses Mädchen. Aber die Geschichte an sich ist nicht neu.«
Greer beugte sich vor. Er wirkte plötzlich interessiert. »Was ist aus ihr geworden?«
»Aus der alten Frau?« Der General rieb sich das Kinn und versuchte, sich zu erinnern. »Wenn ich mich recht entsinne, ist sie auf die Reise gegangen. Hat sich in ihrem nach Katzenpisse stinkenden Häuschen aufgehängt.« Als weder Peter noch Greer etwas sagten, redete er weiter. »Man kann nicht lange über diese Dinge nachdenken. Zumindest wir können es nicht. Da wird der Major mir sicher zustimmen. Wir sind hier, um so viele Dracs wie möglich zu beseitigen, Vorratsdepots anzulegen, die Hotspots zu finden und sie auszuräuchern. Vielleicht ergibt das alles eines Tages einen Sinn. Aber das werde ich sicher nicht mehr erleben.«
Der General stand auf, und Greer ebenfalls. Die Zeit zum Plaudern war vorbei, jedenfalls für heute. »Einstweilen denken Sie über mein Angebot nach, Jaxon. Wir bringen Sie zurück. Sie haben es verdient.«
Als Peter am Ausgang stehen blieb, beugten Greer und Vorhees sich schon über den Tisch, auf dem sie eine große Landkarte ausgerollt hatten. Vorhees hob den Kopf.
»Gibt’s noch was?«
»Es ist nur …« Was hatte er sagen wollen? »Ich habe an Alicia gedacht. Wie es ihr geht.«
»Es geht ihr gut, Peter. Keine Ahnung, wie Coffee es gemacht hat, aber er hat ihr eine ganze Menge beigebracht. Wahrscheinlich würden Sie sie nicht wiedererkennen.«
Das schmerzte. »Ich würde sie gern sehen.«
»Das weiß ich. Aber im Moment ist es keine gute Idee.« Als Peter sich nicht bewegte, fragte Vorhees mit kaum verhohlener Ungeduld: »Ist das alles?«
Peter schüttelte den Kopf. »Sagen Sie ihr nur, dass ich nach ihr gefragt habe.«
»Das werde ich tun, mein Junge.«
Peter trat durch die Zeltklappe hinaus in den dunkler werdenden Nachmittag. Der Regen hatte nachgelassen, aber die Luft war völlig gesättigt und schwer. Die Kälte fuhr einem bis in die Knochen. Jenseits des Zauns kroch eine dichte Nebelbank über den Bergkamm. Alles war schlammbespritzt. Er zog die Jacke fester um die Schultern und überquerte den freien Platz zwischen Vorhees’ Zelt und der Messe. Dort sah er Hollis; er saß allein an einem der langen Tische vor einem abgenutzten Plastiktablett und löffelte sich Bohnen in den Mund. Ein paar Soldaten saßen verstreut in der Kantine und redeten leise miteinander. Peter nahm ein Tablett vom Stapel, schaufelte Bohnen aus dem Topf auf einen Teller und ging damit zu Hollis.
»Hier noch frei?«
»Hier ist nirgends frei«, sagte Hollis düster. »Ich durfte diesen Platz nur ausborgen.«
Peter setzte sich auf die Bank. Er wusste, was Hollis meinte. Sie waren hier wie ein überschüssiges, verkümmertes Glied, sie hatten nichts zu tun, spielten keine Rolle. Sara und Amy waren in ihr Zelt verbannt, aber trotz seiner relativen Freiheit fühlte Peter sich eingesperrt wie sie. Keiner der Soldaten wollte etwas mit ihnen zu tun haben. Sie nahmen Peter und seine Leute nicht richtig ernst, und verschwunden wären sie ohnehin bald wieder.
Er berichtete Hollis, was er erfahren hatte, und stellte dann die Frage, die ihm vor allem auf dem Herzen lag. »Hast du sie gesehen?«
»Ich habe sie heute Morgen weggehen sehen, mit Raimeys Einheit.«
Raimeys Einheit, eine von sechsen, unternahm kurze Erkundungspatrouillen in Richtung Südost. Als Peter den General gefragt hatte, wie lange sie wegbleiben würden, hatte dieser geheimnisvoll geantwortet: »So lange, wie es dauert.«
»Wie sah sie aus?«
»Wie eine von ihnen, Peter.« Hollis schwieg einen Moment. »Ich habe ihr zugewinkt, aber ich glaube, sie hat mich nicht gesehen. Weißt du, wie sie sie nennen?«
Peter schüttelte den Kopf.
»Die Letzte Expeditionärin.« Hollis runzelte die Stirn. »Ein ziemlicher Zungenbrecher, wenn du mich fragst.«
Sie schwiegen; alles war gesagt. Sie mochten überflüssige Gliedmaßen sein, aber ohne Alicia fühlte Peter sich wirklich so, als fehle ihm ein Arm oder ein Bein.
Im Geiste suchte er sie unentwegt, und er fragte sich, wo sie jetzt wohl sein mochte. Er glaubte nicht, dass er sich daran jemals gewöhnen würde.
»Ich habe nicht den Eindruck, dass sie uns die Sache mit Amy abnehmen«, sagte er schließlich.
»Würdest du es glauben?«
Peter schüttelte den Kopf. »Wohl nicht«, gestand er.
Wieder schwiegen sie.
»Und was denkst du?«, fragte Hollis dann. »Dass sie uns mitnehmen wollen?«
Wegen des Regens hatte sich der Abmarsch des Bataillons schon um eine Woche verzögert. »Vorhees drängt darauf, dass wir mitgehen. Vielleicht hat er recht.«
»Aber du bist anderer Ansicht.« Als Peter zögerte, legte Hollis seine Gabel auf den Tisch und sah ihm in die Augen. »Du kennst mich, Peter. Ich mache das, was du willst.«
»Wieso habe ich hier das Kommando? Ich will nicht für alle entscheiden müssen.«
»Ich habe nicht gesagt, dass du das musst. Wenn du es noch nicht weißt, weißt du es eben noch nicht. Es hat Zeit bis nach dem Regen.«
Peter hatte Gewissensbisse. Seit sie in der Garnison angekommen waren, hatte er aus irgendeinem Grund nie Gelegenheit gefunden, Hollis zu sagen, dass er über ihn und Sara Bescheid wusste. Alicia war fort, und im Grunde seines Herzens wollte er der Tatsache nicht ins Auge sehen, dass die Kraft, die sie alle zusammengehalten hatte, in Auflösung begriffen war. Die drei Männer waren in einem Zelt neben dem einquartiert, in dem Sara und Amy sich die Zeit mit Kartenspielen vertrieben und darauf warteten, dass der Regen aufhörte. Zwei Nächte hintereinander war Peter aufgewacht und hatte gesehen, dass Hollis’ Pritsche leer war, aber morgens war er immer da und schnarchte vor sich hin. Er fragte sich, ob Hollis und Sara seinetwegen Theater spielten, oder ob sie es für Michael taten, der ja schließlich Saras Bruder war. Und was Amy anging – anfangs, vielleicht einen Tag lang, war sie nervös erschienen, und vielleicht hatte sie sogar ein bisschen Angst vor den Soldaten gehabt, die ihnen das Essen brachten und sie zur Latrine eskortierten, aber dann war sie in einen Zustand hoffnungsvoller, ja freudiger Erwartung verfallen. Brechen wir bald auf?, hatte sie Peter sanft drängend gefragt. Denn ich würde so gern den Schnee sehen. Peter hatte immer nur gesagt, ich weiß es nicht, Amy. Wenn der Regen aufhört, werden wir sehen. Das war die Wahrheit, doch es klang trotzdem hohl und verlogen.
Hollis deutete mit dem Kopf auf Peters Teller. »Du solltest essen.«
Er schob das Tablett zur Seite. »Ich habe keinen Hunger.«
Michael kam herein. Regentropfen perlten auf seinem Poncho, als er mit einem vollbeladenen Tablett an den Tisch gerauscht kam. Er war der Einzige, der seine Zeit einigermaßen nutzbringend verwendete: Vorhees hatte ihn der Fahrzeugabteilung zugewiesen, und er half mit, die Autos für die Fahrt nach Süden startklar zu machen. Er stellte sein Tablett auf den Tisch und machte sich gierig über sein Essen her; er nahm ein Stück Maisbrot in die ölverschmierte Hand und schaufelte sich damit die Bohnen in den Mund.
»Was ist los?« Er blickte auf und schluckte einen Mundvoll Bohnen und Brot herunter. »Ihr zwei seht aus, als ob jemand gestorben wäre.«
Ein Soldat ging mit seinem Tablett an ihrem Tisch vorbei. Er hatte Segelohren, und auf seinem kahl geschorenen Schädel schimmerte daunenweicher Flaum.
»Hey, Radmutter«, sagte er zu Michael.
Michael strahlte. »Sancho. Was läuft?«
»De nada. Hör zu. Ein paar von uns haben so geredet. Wir dachten, vielleicht hast du nachher Lust, zu uns zu kommen.«
Michael grinste mit einem Mund voll Bohnen. »Aber klar.«
»Neunzehn Uhr in der Kantine.« Der Soldat sah Peter und Hollis an, als bemerke er sie erst jetzt. »Ihr Sprengs könnt auch kommen, wenn ihr wollt.«
Peter hatte sich noch nicht ganz an diese Bezeichnung gewöhnen können. Für seine Ohren hatte sie einen geringschätzigen Unterton. »Wohin kommen?«
»Danke, Sancho«, sagte Michael. »Ich erklär’s ihnen.«
Als der Soldat weitergegangen war, sah Peter ihn mit schmalen Augen an. »Radmutter?«
Michael aß schon wieder weiter. »Sie haben’s mit solchen Namen. Aber es gefällt mir besser als Akku.« Er wischte die letzten Bohnen auf seinem Teller zusammen. »Die Jungs sind nicht übel, Peter.«
»Habe ich auch nicht behauptet.«
»Was gibt’s denn heute Abend?«, fragte Hollis nach einer Weile.
»Ach so.« Michael zuckte wegwerfend die Achseln und bekam ein rotes Gesicht. »Wundert mich, dass es euch niemand gesagt hat. Heute ist Kinoabend.«
Um achtzehn Uhr dreißig waren alle Tische aus der Kantine hinausgetragen worden, und die Bänke standen in Reihen hintereinander. Am Abend hatte es sich spürbar abgekühlt, und die Luft war trockener. Die Regenfront war vorübergezogen. Die Soldaten hatten sich draußen versammelt, und sie unterhielten sich lautstark miteinander, wie Peter es noch nicht erlebt hatte. Sie lachten, rissen Witze und ließen Schnapsflaschen herumgehen. Er setzte sich mit Hollis auf eine der hinteren Bänke mit dem Gesicht zur Projektionswand, einer großen, weiß angestrichenen Sperrholzplatte. Michael war irgendwo weiter vorn bei seinen neuen Freunden aus dem Fahrzeugpool.
Michael hatte sein Bestes getan, um ihnen zu erklären, wie Kino funktionierte, aber Peter wusste immer noch nicht genau, was ihn erwartete. Die ganze Sache war irgendwie beunruhigend, denn er verstand nicht, wie so etwas machbar war. Der Projektor, der hinter ihnen auf einem hohen Tisch stand, würde auf irgendeine Weise einen Strom von beweglichen Bildern an die weiße Wand strahlen. Aber wenn das stimmte, woher kamen die Bilder dann? Wenn es Reflektionen waren, was reflektierten sie? Ein langes Stromkabel führte vom Projektor durch die Tür hinaus zu einem Generator. Peter hielt es für verschwenderisch, den kostbaren Treibstoff für simple Unterhaltungszwecke zu benutzen. Aber als Major Greer unter dem aufgeregten Gejohle von sechzig Männern nach vorn trat, spürte Peter es auch: reinste Vorfreude, ein beinahe kindliches Kribbeln im Bauch.
Greer hob die Hand, um die Männer zur Ruhe zu bringen, doch sie johlten nur noch lauter.
»Ruhe, ihr Saftsäcke!«
»Der Graf soll kommen!«, schrie jemand.
Wieder lautes Jubelgeschrei. Greer stand vor der weißen Wand und lächelte kaum verhohlen. Ganz kurz nur brach der harte Panzer der militärischen Disziplin ein wenig auf. Peter hatte inzwischen genug Zeit mit Greer verbracht, um zu wissen, dass das nicht zufällig geschah.
Greer wartete ab, bis die Aufregung sich von allein gelegt hatte. Dann räusperte er sich. »Okay, Leute, das reicht. Zuerst eine Bekanntmachung. Ich weiß, ihr habt den Aufenthalt hier oben in den Wäldern des Nordens genossen …«
»Fuck, und wie!«
Greer schaute stirnrunzelnd in die Richtung des Mannes, der da gerufen hatte. »Unterbrechen Sie mich noch einmal, Muncey, und Sie dürfen einen Monat lang Latrinen auslutschen.«
»Wollte nur sagen, wie froh ich bin, hier zu sein und Dracs zu scheuchen, Sir!«
Neues Gelächter. Greer ließ es durchgehen.
»Wie ich sagte, nachdem das Wetter sich gebessert hat, gibt es Neuigkeiten. General?«
Vorhees, der am Rand gewartet hatte, trat nach vorn. »Danke, Major. Guten Abend, Zweites Bataillon!«
»Guten Abend, Sir!«, schrien alle im Chor.
»Wie es aussieht, klart das Wetter hier für eine Weile auf, und deshalb ziehen wir ab. Morgen früh um fünf, nach dem Frühstück, melden Sie sich bei Ihrem Truppführer und lassen sich Ihre Sektion zuweisen. Wenn es hell wird, soll alles mit Sack und Pack bereitstehen. Sobald Einheit Blau zurückkommt, marschieren wir nach Süden.«
Ein Soldat hob die Hand. Peter erkannte ihn; er hatte Michael in der Kantine angesprochen. Sancho.
»Was ist mit dem schweren Gerät, Sir? Damit kommen wir nicht durch den Schlamm.«
»Man hat entschieden, es hierzulassen. Wir marschieren schnell und mit leichtem Gepäck. Ihre Truppführer werden das mit Ihnen besprechen. Noch jemand?«
Schweigen.
»Also gut. Dann viel Vergnügen.«
Die Laternen wurden gelöscht, und hinten im Raum begannen die Räder an dem Projektor sich zu drehen. Jetzt war es also so weit, dachte Peter: Der Augenblick der Entscheidung war gekommen. Eine Woche war plötzlich wie im Flug vergangen. Er spürte, dass jemand neben ihm auf die Bank rutschte. Es war Sara. Amy war bei ihr. Sie hatte sich zum Schutz gegen die Kälte eine dunkle Wolldecke um die Schultern gelegt.
»Ihr solltet nicht hier sein«, flüsterte Peter.
»Zum Teufel damit«, sagte Sara leise. »Glaubst du, das lasse ich mir entgehen?«
Die weiße Wand strahlte plötzlich hell auf. Leuchtende Zahlen in einem Kreis, in absteigender Folge. 5, 4, 3, 2, 1. Und dann:
CARL LAEMMLE
PRÄSENTIERT
»DRACULA«
VON BRAM STOKER
NACH DEM
BÜHNENSTÜCK FÜR DEN FILM
BEARBEITET VON
HAMILTON DEANE & JOHN L. BALDERSTON
EINE TOD BROWNING PRODUKTION
»Ton!«, brüllte einer der Soldaten, und andere stimmten ein. »Ton! Ton!«
Der Soldat, der den Projektor bediente, überprüfte hastig alle Verbindungen und drehte an den Knöpfen. Dann rannte er nach vorn und kniete vor einem Kasten unter der Projektionswand nieder.
»Moment, da, ich glaube, das war’s …«
Ein dröhnendes Knattern brach los, und Peter, der fasziniert auf das bewegliche Bild starrte – eine Kutsche rollte in ein Dorf, und die Leute liefen ihr entgegen –, sprang unweigerlich auf. Aber dann begriff er, wozu der Kasten da vorn in der Lage war. Das Pferdegetrappel, das Knarren der Kutsche auf ihren Federn und die Stimmen der Dorfbewohner, die in einer fremden Sprache miteinander redeten, die er noch nie gehört hatte: Die Bilder waren mehr als Abbildungen, mehr als Licht. Sie waren wie etwas Lebendiges.
Ein Mann mit einem weißen Hut fuchtelte mit einem Gehstock vor den Kutschern herum. Als er den Mund zum Sprechen öffnete, deklamierten alle Soldaten einstimmig:
»Nehmt mein Gepäck nicht herunter, ich fahre heute Nacht noch zum Borgo-Pass.«
Ein allgemeiner Heiterkeitsausbruch folgte. Peter riss den Blick von der Projektionswand los und schaute zu Hollis hinüber. Aber die Augen seines Freundes, in denen sich das Licht funkelnd spiegelte, starrten hingerissen auf die beweglichen Bilder vor ihnen. Er drehte sich zu Sara und Amy um, und sie sahen genauso aus.
Vorn redete jetzt ein stämmiger Mann mit dem Kutscher in einem Kauderwelsch aus unverständlichen Lauten. Dann wandte er sich dem ersten Mann zu, dem mit dem Hut, und seine Worte vervielfachten sich in der lärmenden Rezitation der Soldaten.
»Der Kutschär. Er hat … Angst. Ist ein gutär Mann. Ich soll Sie fragen, ob Sie können warten. Fahren morgen, nach Sonnänaufgang.«
Der erste Mann wedelte arrogant mit seinem Stock und wollte nichts davon wissen. »Tja, ich bedaure, aber um Mitternacht erwartetet mich ein Wagen am Borgo-Pass.«
»Am Borgo-Pass? Wessen Wagen?«
»Nun, der des Grafen Dracula.«
Der schnurrbärtige Mann riss entsetzt die Augen auf. »Graf … Dracula?«
Tu es nicht, Renfield!«, schrie einer der Soldaten, und alle lachten.
Es war eine Geschichte, erkannte Peter. Eine Geschichte wie in den alten Büchern in der Zuflucht, aus denen die Lehrerin ihnen im Kreis vorgelesen hatte, vor vielen Jahren. Die Leute da vorn auf der Wand sahen aus, als spielten sie etwas: Ihre übertriebene Gestik und Mimik erinnerte ihn daran, wie Teacher beim Vorlesen die Stimmen der verschiedenen Personen nachgeahmt hatte. Der stämmige Mann mit dem Schnurrbart wusste etwas, das der Mann mit dem Hut nicht wusste. Hier drohte Gefahr. Aber trotz der Warnung setzte der Reisende unter den spöttischen Zurufen der Soldaten seine Fahrt fort. Die Kutsche rollte eine dunkle Bergstraße hinauf und auf ein wuchtiges Gebäude mit Türmen und Mauern zu, das abweisend im Mondschein aufragte. Was dort lauerte, war klar; der Schnurrbärtige hatte es mehr oder weniger erklärt. Vampire. Ein altes Wort, aber Peter kannte es. Er wartete darauf, dass die Virals erschienen, dass sie über die Kutsche herfielen und den Reisenden in Fetzen rissen, aber das geschah nicht. Die Kutsche fuhr durch das Tor, der Mann – Renfield – stieg aus und sah, dass er allein war; der Kutscher war verschwunden. Eine Tür öffnete sich knarrend von allein und verlockte ihn zum Eintreten. Er betrat eine große, ruinenhafte Halle. Ahnungslos und mit fast lächerlicher Einfalt ging Renfield rückwärts auf eine breite Treppe zu, auf der ein Mann in einem dunklen Umhang und mit einer Kerze in der Hand herunterkam. Als der Mann unten angekommen war, drehte Renfield sich um, und das Weiße seiner Augen weitete sich so entsetzt, dass man glauben konnte, er sei über einen ganzen Schwarm Smokes gestolpert, nicht über einen einzelnen Mann in einem Cape.
»Ich bin … Drrrrra-culaaaah.«
Wieder erzitterte das Zeltdach unter einer Explosion von Jauchzern, Rufen und Pfiffen. Ein Soldat in einer der vorderen Reihen sprang auf.
»Hey, Graf, friss das hier!«
Stahl blitzte im Lichtstrahl des Projektors. Die Spitze des Messers bohrte sich mit fleischig dumpfem Schlag in das Sperrholz und mitten in die Brust des Mannes im Cape, der überraschenderweise keine Notiz davon nahm.
»Fuck, Muncey, was soll das!«, schrie der Mann am Projektor.
»Zieh dein Messer da raus«, rief jemand anders, »es ist im Weg!«
Aber die Stimmen klangen nicht wütend. Alle fanden es wahnsinnig komisch. Unter lauten Buhrufen und Pfiffen sprang Muncey zur Projektionswand, um sein Messer herauszuziehen. Die Bilder flimmerten über seine Gestalt. Er drehte sich grinsend um und verbeugte sich.
Trotz all dem – trotz der chaotischen Störungen, des Gelächters und der höhnischen Sprechchöre der Soldaten, die jede Textzeile schon auswendig kannten – nahm die Geschichte Peter bald völlig gefangen. Er hatte das Gefühl, dass Teile des Films fehlten, denn die Erzählung machte mitunter verwirrende Sprünge: Das Schloss verschwand, und man sah ein Schiff auf hoher See und dann einen Ort namens London. Eine Großstadt, erkannte er. Eine Stadt aus der Zeit Davor. Der Graf – eine Art Viral, obwohl er nicht so aussah – tötete Frauen. Zuerst ein Mädchen, das auf der Straße Blumen verteilte, dann eine junge Frau, die schlafend im Bett lag, mit vielen zerzausten Locken und einem so gefassten Gesicht, dass sie aussah wie eine Puppe. Die Bewegungen des Grafen waren von komischer Langsamkeit, und die seiner Opfer ebenfalls. Alle in dem Film schienen in einem Traum gefangen zu sein, in dem sie sich nicht schnell genug oder auch gar nicht bewegen konnten. Dracula selbst hatte ein blasses, beinahe feminines Gesicht. Seine Lippen waren so geschminkt, dass sie wie Fledermausflügel geschwungen waren, und wenn er jemanden beißen wollte, sah man eine ganze Weile nur seine von unten beleuchteten Augen, die funkelten wie zwei Kerzenflammen.
Natürlich wusste Peter, dass das alles nicht echt war und nicht ernst genommen werden durfte. Aber als die Geschichte weiterging, machte er sich trotzdem Sorgen um dieses Mädchen Mina, die Tochter des Doktors – Doktor Sewells, dem das Sanatorium, oder was immer das sein mochte, gehörte. Minas Mann, der unfähige Harker, hatte offenbar keine Ahnung, wie er ihr helfen sollte: Er stand immer nur mit den Händen in den Taschen herum und sah hilflos und verloren aus. Keiner wusste im Grunde, was er tun sollte – außer Van Helsing, dem Vampirjäger. Er sah nicht aus wie die Jäger, die Peter kannte. Er war ein alter Mann mit dicken Brillengläsern und neigte zu ungeheuer hochtrabenden Verlautbarungen, die den lautesten Spott der Soldaten auf sich zogen: »Gentlemen, wir haben es hier mit dem Undenkbaren zu tun!« und »Der Aberglaube von gestern kann schon heute wissenschaftliche Realität sein!« Jedes Mal gellten die Pfiffe, aber vieles von dem, was Van Helsing sagte, schien doch zu stimmen, fand Peter, vor allem, als er behauptete, der Vampir sei »eine Kreatur, deren Leben unnatürlich verlängert ist«. Besser konnte man die Smokes nicht beschreiben. Er fragte sich, ob Van Helsings Trick mit dem Spiegel in der Schmuckschatulle vielleicht eine Variante dessen war, was mit der Bratpfanne in Las Vegas passiert war, und ob es stimmte, dass ein Vampir »jede Nacht in heimischer Erde schlafen« müsse. Kehrten die Befallenen vielleicht deshalb immer nach Hause zurück? Manchmal kam ihm der Film vor wie ein Lehrbuch. Vielleicht war es überhaupt keine erfundene Geschichte, sondern ein Bericht über etwas, das passiert war.
Das Mädchen, Mina Harker, wurde befallen. Harker und Van Helsing folgten dem Vampir in sein Nest, einen feuchten Keller. Peter begriff, worauf die Geschichte hinauslaufen würde: Sie würden ihn erlösen. Sie würden Mina jagen und töten, und Harker, Minas Ehemann, würde diese schreckliche Pflicht übernehmen müssen. Peter machte sich auf alles gefasst. Die Soldaten waren jetzt still geworden; ihre Albernheiten hatten aufgehört, und wider Willen waren sie gefesselt von den letzten, düsteren Entwicklungen der Geschichte.
Das Ende bekam er nicht zu sehen. Ein Soldat kam hereingestürzt.
»Scheinwerfer an! Rettungseinsatz am Tor!«
Sofort war der Film vergessen. Alle Soldaten sprangen auf. Waffen tauchten auf – Pistolen, Gewehre, Messer. In der allgemeinen Hast stolperte jemand über das Stromkabel des Projektors, und die Kantine versank in der Dunkelheit. Alle drängten, schrien, brüllten Befehle. Peter hörte, wie draußen geschossen wurde. Als er hinter den andern ins Freie kam, sah er zwei Leuchtraketen, die über den Zaun und den schlammigen Vorplatz am Eingangstor flogen. Michael rannte mit Sancho an ihm vorbei. Peter packte ihn beim Arm.
»Was ist los? Was ist passiert?«
Michael ließ sich nicht aufhalten. »Einheit Blau!«, rief er. »Komm mit!«
Aus dem Chaos in der Kantine war plötzlich Ordnung geworden. Jeder wusste, was er zu tun hatte. Die Soldaten hatten erkennbare Gruppen gebildet; einige kletterten eilig die Leitern zu dem schmalen Brettergang entlang des Zauns hinauf, andere gingen hinter einer Sandsackbarrikade am Tor in Stellung. Wieder andere schwenkten die Scheinwerfer und richteten sie auf das Schlammfeld vor dem Tor.
»Da kommen sie!«
»Aufmachen!«, schrie Greer am Fuße des Zauns. »Macht das verdammte Tor auf!«
Entlang des Zauns ging ein ohrenbetäubendes Sperrfeuer los. Ein halbes Dutzend Soldaten sprang zu den Seilen, die über ein System von Winden und Flaschenzügen mit dem Tor verbunden waren. Einen Moment lang war Peter gebannt von der koordinierten Eleganz dieses Schauspiels und der routinierten Schönheit der synchronen Bewegungen. Die Soldaten packten die Seile und zogen daran, und die Torflügel begannen sich zu öffnen und gaben den Blick auf das lichtüberflutete Gelände und eine Gruppe von Gestalten frei, die auf das Tor zurannten. Alicia war an der Spitze. In vollem Lauf stürmten die sechs durch das Tor und warfen sich zu Boden, während die Männer hinter den Sandsäcken einen Hagel von Kugeln über ihre Köpfe hinwegfeuerten. Wenn Virals hinter ihnen waren, konnte Peter sie nicht sehen. Alles ging zu schnell, war zu laut – und dann war es einfach vorbei: Das Tor hatte sich hinter ihnen geschlossen.
Peter rannte zu Alicia. Keuchend kauerte sie auf allen vieren im Schlamm. Die Tarnfarbe rann ihr über das Gesicht, und ihr kahler Schädel glänzte wie poliertes Metall im harten Licht der Scheinwerfer.
Sie richtete sich auf den Knien auf, und ihre Blicke trafen sich. »Peter, ihr müsst sofort von hier verschwinden.«
Oben fielen ein paar letzte, halbherzige Schüsse. Die Virals hatten sich zerstreut und aus dem Scheinwerferlicht zurückgezogen.
»Ich mein’s ernst«, zischte sie. Jede Faser ihres Körpers war angespannt. »Geht!«
Andere drängten sich heran. »Wo ist Raimey?«, brüllte Vorhees und drängte sich zwischen den Männern hindurch. »Wo zum Teufel ist Raimey?«
»Er ist tot, Sir.«
Vorhees drehte sich zu Alicia um, die im Schlamm kniete. Als er Peter sah, blitzten seine Augen wütend auf. »Jaxon, Sie haben hier nichts zu suchen.«
»Wir haben es gefunden, Sir«, sagte Alicia. »Sind geradewegs hineingestolpert. Ein regelrechtes Hornissennest. Da müssen Hunderte sein.«
Vorhees winkte Hollis und den andern zu. »Sie alle, ab in Ihre Unterkunft, sofort.« Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte er sich wieder an Alicia. »Gefreiter Donadio, berichten Sie.«
»Das Bergwerk, General«, sagte sie. »Wir haben das Bergwerk gefunden.«
Den ganzen Sommer über hatten Vorhees’ Leute danach gesucht: nach dem Eingangsschacht einer alten Kupfermine, die irgendwo in den Bergen verborgen war. Man vermutete, dass dort einer der Hotspots war, von denen Vorhees gesprochen hatte, ein Nest, in dem die Virals schliefen. Sie hatten alte geologische Vermessungskarten studiert und die Bewegungen der Virals mit Hilfe der Netze verfolgt, und so hatten sie die Suche auf den südöstlichen Quadranten eingrenzen können, auf einen Bereich von ungefähr zwanzig Quadratkilometern oberhalb des Flusslaufs. Die Einheit Blau hatte einen letzten Versuch unternommen, das Bergwerk vor der Räumung des Camps zu finden. Es war reiner Zufall, dass es ihnen gelungen war; wie Peter von Michael erfuhr, waren sie einfach hineinspaziert, kurz vor Sonnenuntergang – eine sanfte Absenkung des Bodens, in der der vorderste Mann mit einem Aufschrei verschwunden war. Der erste Viral, der herauskam, erwischte zwei weitere Männer, bevor einer von ihnen einen Schuss abfeuern konnte. Der Rest der Einheit hatte so etwas wie eine Feuerlinie bilden können, aber immer mehr Virals waren herausgekommen und hatten sich in ihrem Blutdurst dem schwindenden Tageslicht ausgesetzt. Wenn die Sonne erst untergegangen wäre, würde die Einheit schnell aufgerieben werden, und dann wäre die Kenntnis der Lage des Bergwerkschachts mit ihnen verloren gegangen. Die Leuchtkugeln, die sie bei sich hatten, würden ihnen ein paar Minuten Zeit einbringen, mehr jedoch nicht. Sie hatten sich in zwei Gruppen geteilt; die eine sollte sich ins Camp zurückflüchten, während die andere unter Führung von Lieutenant Raimey ihren Rückzug sichern und die Kreaturen so lange in Schach halten würde, bis die Sonne unterginge und alle Leuchtkugeln verschossen wären. Das war alles.
Die ganze Nacht hindurch herrschte reges Treiben im Camp. Peter spürte die Veränderung: Die Tage des Wartens, der kurzen Jagdausflüge in die Wälder, waren vorbei, und Vorhees’ Leute bereiteten sich auf die Schlacht vor. Michael war verschwunden; er half mit, die Fahrzeuge einsatzbereit zu machen, die mit den Bomben beladen werden sollten – Fässer mit Dieselöl und Ammoniumnitrat und einem Clustergranaten-Zünder, »Rohrreiniger« hießen sie hier nur. Sie würden mit einer Winde senkrecht in den Schacht hinabgelassen werden. Die Explosionen würden zweifellos viele der Virals dort unten töten. Die Frage war nur, wo die Überlebenden herauskommen würden. Im Laufe von hundert Jahren hatte die Topographie sich verändert, und Vorhees und die andern konnten nicht wissen, ob sich durch einen Erdrutsch oder ein Erdbeben nicht ein völlig neuer Ausgang geöffnet hatte. Während eine Einheit die Sprengbomben einbrachte, würden die andern die Gegend nach weiteren Ausstiegen absuchen.
Als grau der Morgen dämmerte, erloschen die Lichter. Die Nacht war eisig kalt gewesen, und die Pfützen im Camp waren von Eiskrusten bedeckt. Die Fahrzeuge wurden beladen, und die Soldaten sammelten sich am Tor. Nur eine Einheit würde zurückbleiben und die Garnison sichern. Alicia hatte einen großen Teil der vergangenen Stunden in Vorhees’ Zelt verbracht. Sie war es, die den Rest ihrer Einheit am Fluss entlang zum Camp zurückgeführt hatte, auf dem gleichen Weg, auf dem sie losgezogen waren. Jetzt sah Peter sie mit dem General vor einer Karte, die auf der Haube eines Humvees ausgebreitet war. Greer saß zu Pferde und beaufsichtigte das Verladen der Ausrüstung. Peter stand abseits und sah zu. Er empfand wachsendes Unbehagen, aber auch noch etwas anderes: eine machtvolle Verlockung, instinkthaft wie das Atmen. Tagelang war er hin und her geschwankt; er wusste, sie sollten weitergehen, aber er konnte Alicia nicht zurücklassen. Als er jetzt den Soldaten am Tor bei ihren letzten Vorbereitungen zuschaute und Alicia mitten unter ihnen sah, erwachte ein übermächtiges Verlangen in ihm und stellte alles andere in den Schatten. Vorhees’ Soldaten zogen in den Krieg, und er wollte dabei sein.
Als Greer an der Kolonne entlangritt, trat Peter vor. »Major, ich würde gern mit Ihnen sprechen.«
Greer wirkte abgelenkt und eilig. Sein Blick ging über Peters Kopf hinweg, als er fragte: »Was gibt’s, Jaxon?«
»Ich möchte mitkommen, Sir.«
Greer musterte ihn kurz. »Wir können keine Zivilisten mitnehmen.«
»Stellen Sie mich nach hinten. Es muss doch etwas geben, das ich tun kann. Ich weiß es nicht, vielleicht können Sie mich als Läufer einsetzen.«
Greers Blick wanderte zum Heck eines der Trucks, wo vier Männer, unter ihnen Michael, dabei waren, die Öltonnen mit einer Winde auf die Ladenfläche zu hieven.
»Sergeant«, bellte Greer zu dem Truppführer, einem Mann namens Withers, hinüber. »Können Sie hier für mich übernehmen? Und Sancho, achten Sie auf die Kette da. Sie hat sich verheddert.«
»Ja, Sir. Sorry, Sir.«
»Das sind Bomben, Junge. Himmel, seien Sie doch vorsichtig.« Dann wandte er sich wieder an Peter. »Kommen Sie mit.«
Der Major stieg vom Pferd und ging mit ihm beiseite, bis sie außer Hörweite der andern waren. »Ich weiß, Sie machen sich Sorgen um sie«, sagte er. »Okay? Ich weiß das. Wenn es nach mir ginge, würde ich Sie wahrscheinlich mitkommen lassen.«
»Vielleicht, wenn wir mit dem General reden …«
»Kommt nicht in Frage. Tut mir leid.« Ein seltsamer Ausdruck huschte über sein Gesicht, ein Flackern der Unentschlossenheit. »Hören Sie. Was Sie mir da über das Mädchen erzählt haben, über Amy. Es gibt etwas, das Sie wissen sollten.« Er schüttelte den Kopf und schaute weg. »Ich kann nicht fassen, dass ich Ihnen davon erzähle. Vielleicht bin ich wirklich schon zu lange im Wald. Wie sagt man gleich? Wenn man das Gefühl hat, etwas schon mal erlebt zu haben? Als hätte man es geträumt? Dafür gibt es einen Ausdruck.«
»Sir?«
Greer schaute ihn immer noch nicht an. »Déjà vu. So heißt das. Dieses Gefühl habe ich, seit ich euch gefunden habe. Und zwar ganz heftig. Ich weiß, jetzt sieht man es mir nicht mehr an, aber als Kind war ich ein dürrer Hänfling und dauernd krank. Meine Eltern sind gestorben, als ich noch klein war. Ich habe sie eigentlich nicht gekannt, und wahrscheinlich lag es einfach an dem Waisenhaus, in dem ich aufgewachsen bin. Fünfzig Gören, dicht zusammengepfercht, überall Rotz und dreckige Hände. Ständig habe ich mich angesteckt. Ungefähr ein Dutzend Mal waren die Schwestern kurz davor, mich abzuschreiben. Und Fieberträume, die Sie sich nicht vorstellen können. Nichts, was ich wirklich beschreiben könnte, und ich erinnere mich auch nicht mehr daran. Nur an das Gefühl: Als wäre ich tausend Jahre lang im Dunkeln verloren. Aber das Komische war, ich war nicht allein. Auch das gehörte zu diesem Traum. Ich habe lange nicht mehr daran gedacht – erst, als ihr hier aufgekreuzt seid. Dieses Mädchen. Ihre Augen. Glauben Sie, das hätte ich nicht bemerkt? Mein Gott, es ist, als wäre ich wieder sechs Jahre alt, und das Fieber glühte mir das Hirn aus. Aber ich sage Ihnen, sie war es. Ich weiß, es klingt verrückt. Sie war bei mir in dem Traum.«
Er schwieg erwartungsvoll. Peter lief ein Schauer über den Rücken, als er die Geschichte wiedererkannte.
»Haben Sie Vorhees davon erzählt?«
»Sind Sie verrückt? Was soll ich ihm sagen? Verdammt, ich hab’s nicht mal Ihnen erzählt. Kapiert?«
Um zu zeigen, dass die Unterredung beendet war, packte er sein Pferd beim Zügel und schwang sich wieder in den Sattel. »Das ist alles. Aber wenn Sie mich fragen, warum Sie nicht mitkommen dürfen, haben Sie jetzt meine Antwort. Wenn wir nicht zurückkommen, hat die Einheit Rot den Befehl, Sie nach Roswell zu evakuieren. Das ist so angeordnet. Inoffiziell sage ich Ihnen: Niemand wird Sie aufhalten, wenn Sie sich entschließen, nach Colorado weiterzugehen.«
Er riss sein Pferd herum und nahm seinen Platz an der Spitze der Kolonne ein. Motoren brüllten auf, das Tor öffnete sich. Peter sah zu, wie fünf Einheiten mit Pferden und Fahrzeugen langsam abzogen. Alicia war irgendwo dabei, wahrscheinlich vorn bei Vorhees. Aber Peter konnte sie nicht entdecken.
Die Kolonne war längst an ihnen vorüber, als Michael zu ihm kam.
»Er wollte dich nicht mitgehen lassen, was?«
Peter konnte nur den Kopf schütteln.
»Mich auch nicht«, sagte Michael.