54

Es war Neumond, erkannte Peter, als sie sich durch die Dunkelheit tasteten. Neumond, und keine Menschenseele unterwegs.

An den Wachen vorbeizukommen war einfach gewesen. Sara hatte sich einen Trick ausgedacht. Möchte wissen, was Lish jetzt machen würde, hatte sie gesagt und war zur Tür hinaus und geradewegs über den Platz zu den beiden Männern, Hap und Leon, marschiert, die dort neben einer Feuertonne standen und gespannt aufschauten. Sie blieb so vor ihnen stehen, dass sie ihnen den Blick auf die Tür der Baracke versperrte. Es folgte eine kurze Verhandlung; dann wandte sich der kleinere der beiden – Hap – ab und ging davon. Sara fuhr sich mit der Hand durch das Haar: das verabredete Zeichen. Hollis schlüpfte zur Tür hinaus und duckte sich in den Schatten der Baracke, und Peter folgte ihm. Sie liefen außen um den Platz herum und gingen hinter einem der Gebäude in Stellung. Einen Augenblick später erschien Sara dort, begleitet von dem zweiten Wächter, dessen beschwingter Schritt erkennen ließ, was sie ihm versprochen hatte. Als sie an ihnen vorbeikamen, erhob Hollis sich aus seinem Versteck hinter einer leeren Tonne und holte mit einem Stuhlbein aus.

»Hey«, sagte er und traf Leon mit solcher Wucht, dass der Mann glatt zu Boden ging.

Sie schleiften die schlaffe Gestalt in den Schatten hinter den Baracken. Hollis tastete ihn ab. In einem Lederhalfter am Oberschenkel, unter dem Overall, steckte ein kurzläufiger Revolver. Caleb erschien mit einer Wäscheleine. Sie fesselten den Mann an Händen und Füßen und stopften ihm einen zusammengeknüllten Lappen in den Mund.

»Ist der geladen?«, fragte Peter.

Hollis klappte die Trommel heraus. »Drei Schuss.« Mit einer knappen Drehung des Handgelenks ließ er die Trommel wieder zuschnappen und reichte Alicia die Waffe.

»Peter, ich glaube, die Häuser hier sind leer«, sagte er.

Es stimmte. Nirgends brannte ein Licht.

»Wir sollten uns beeilen.«

Sie näherten sich dem Gefängnis von Süden her über freies Feld. Hollis vermutete den Eingang auf der anderen Seite, die dem Haupttor zugewandt war. Sie würden es dort versuchen, wenn es sein müsste, aber die Stelle lag im Blickfeld der Wachttürme, und es war besser, einen weniger riskanten Weg hinein zu suchen. Die Trucks und Pick-ups standen vermutlich in der Garage, auf die sie jetzt zuliefen. Es lag nahe, dass Olson und seine Leute alles Wichtige an einem Ort aufbewahrten, und irgendwo mussten sie schließlich mit dem Suchen anfangen.

Die Garage war verschlossen. Die Rolltore waren heruntergelassen und mit einem schweren Vorhängeschloss gesichert. Peter spähte durch ein Fenster, aber er sah nichts. Hinter der Garage führte eine lange Betonrampe zu einer Plattform mit einem Vordach und einem doppelten Rolltor in der Gefängniswand. In der Mitte der Rampe war ein dunkler Fleck. Peter hockte sich hin und berührte ihn. Seine Fingerspitzen waren feucht. Er hielt sie unter die Nase. Motoröl.

Das Tor hatte keine Griffe und keinen sichtbaren Mechanismus, mit dem es zu öffnen war. Sie stellten sich zu fünft nebeneinander, drückten die Hände gegen die glatte Fläche und versuchten, es hochzuschieben. Sie spürten keinen harten Widerstand, nur das Gewicht des Tors selbst, das zu schwer war, um es zu heben, ohne irgendwo zupacken zu können. Caleb sprintete die Rampe hinunter zur Garage. Glas klirrte, und einen Augenblick später war er mit einem Montiereisen wieder da.

Wieder stellten sie sich in einer Reihe auf, und es gelang ihnen, das Tor so weit hochzudrücken, dass Caleb die Eisenstange darunterschieben konnte. Ein Lichtstreifen fiel auf den Betonboden. Sie packten die Unterkante und schoben das Tor hoch. Einer nach dem andern duckten sie sich darunter hindurch und ließen es dann wieder herunterfallen.

Sie waren in einer Art Ladezone. Auf dem Boden lagen aufgerollte Ketten und alte Motorenteile. Irgendwo in der Nähe tropfte Wasser, und es roch nach Öl und Stein. Die Lichtquelle war weiter hinten – ein flackerndes Leuchten. Als sie weitergingen, tauchten vertraute Umrisse im Halbdunkel auf.

Ein Humvee.

Caleb öffnete die Hecktür. »Alles weg, bis auf das Maschinengewehr. Und drei Kisten Munition.«

»Wo sind die übrigen Waffen?«, fragte Alicia. »Und wer hat den Wagen hergebracht?«

»Wir.«

Sie fuhren herum, und eine einzelne Gestalt löste sich aus dem Schatten. Olson. Dann tauchten weitere auf und umringten sie. Sechs orangegekleidete Männer, allesamt mit Gewehren bewaffnet.

Alicia hatte den Revolver aus dem Gürtel gezogen und richtete ihn auf Olsons Brust. »Sag ihnen, sie sollen sich zurückhalten.«

»Tut, was sie sagt.« Olson hob die Hand. »Ich sag’s nicht zweimal. Runter mit den Gewehren, sofort.«

Einer nach dem anderen senkten die Männer die Läufe. Alicia tat es als Letzte. Aber Peter sah, dass sie den Revolver nicht wieder in den Gürtel schob, sondern in der Hand behielt.

»Wo sind sie?«, fragte er Olson. »Habt ihr sie?«

»Ich dachte, Michael wäre der Einzige.«

»Amy und Mausami sind auch verschwunden.«

Olson zögerte, er schien verwundert zu sein. »Tut mir leid. Das war nicht meine Absicht. Ich weiß nicht, wo sie sind. Aber euer Freund Michael ist bei uns.«

»Wer ist uns?«, fuhr Alicia ihn an. »Was ist hier los, verdammt? Warum träumen wir alle denselben Traum?«

Olson nickte. »Die dicke Frau.«

»Du Scheißkerl, was hast du mit Michael gemacht?«

Dann hob sie tatsächlich den Revolver; sie umklammerte den Kolben mit beiden Händen und zielte auf Olsons Kopf. Ringsumher fuhren sechs Gewehrläufe hoch. Peters Magen zog sich zusammen.

»Ist schon gut«, sagte Olson ruhig. Er fixierte die Mündung des Revolvers.

»Sag’s ihm, Peter«, zischte Alicia. »Sag ihm, ich jage ihm eine Kugel in den Schädel, wenn er nicht sofort redet.«

Olson bewegte langsam die Hände hin und her. »Ganz ruhig bleiben, Leute. Sie wissen es nicht. Sie verstehen es nicht.«

Alicias Daumen spannte den Hahn des Revolvers. »Was wissen wir nicht?«

Im trüben Lampenschein sah Olson aus, als sei er geschrumpft. Er wirkte wie ein anderer Mensch. Es war, als sei eine Maske von seinem Gesicht gefallen und als sehe Peter zum ersten Mal den wahren Olson – einen müden alten Mann, geplagt von Zweifeln und Sorgen.

»Babcock«, sagte er. »Ihr wisst nichts von Babcock.«

Michael lag auf dem Rücken. Sein Kopf war unter dem Steuerpult verschwunden. Über ihm hing ein Gewirr von Drähten und Plastiksteckverbindungen.

»Versuch’s jetzt.«

Gus schloss den Messerschalter, der die Schalttafel mit den Batterien verband. Unter ihnen ertönte das Surren des anspringenden Hauptgenerators.

»Und?«

»Moment«, sagte Gus. Dann: »Nein. Der Unterbrecherschalter wurde wieder ausgelöst.«

Irgendwo in der Verdrahtung der Steuerung war ein Kurzschluss. Vielleicht lag es an dem Zeug, das Billie ihm zu trinken gegeben hatte, vielleicht auch an der langen Zeit mit Elton – jedenfalls konnte er es tatsächlich riechen: einen schwachen Entladungsgeruch von heißem Metall und geschmolzenem Plastik irgendwo im Gestrüpp der Drähte über seinem Gesicht. Mit einer Hand bewegte er den Schaltkreisprüfer am Steuerpult auf und ab, und mit der andern zupfte er behutsam an jeder Verbindung. Alles war fest.

Er rutschte unter der Schalttafel hervor und setzte sich hin. Der Schweiß lief ihm über das Gesicht. Billie stand vor ihm und schaute besorgt auf ihn herunter.

»Michael …«

»Ich weiß, ich weiß.«

Er trank in tiefen Zügen aus einer Wasserflasche, wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht und nahm sich einen Augenblick Zeit zum Nachdenken. Stundenlang hatte er Schaltkreise geprüft, an Drähten gezogen und jede Verbindung zum Steuerpult zurückverfolgt. Und noch immer hatte er nichts gefunden.

Was würde Elton tun?

Die Antwort war klar. Verrückt vielleicht, aber klar. Michael rappelte sich hoch und ging durch den schmalen Gang, der von der Lokführerkabine zum Maschinenraum führte. Gus blieb an der Anlassersteuerung stehen. Eine kleine Taschenlampe klemmte zwischen seinen Zähnen.

»Setz das Relais zurück«, rief Michael.

Gus nahm die Lampe in die Hand. »Das haben wir schon versucht. Wir strapazieren die Batterien, wenn wir es zu oft machen, müssen wir sie mit den tragbaren Generatoren aufladen. Das dauert mindestens sechs Stunden.«

»Mach’s einfach.«

Gus zuckte die Achseln und tastete sich blind zwischen den zahllosen Drähten hindurch.

»Okay, was immer das bringen soll – es ist zurückgesetzt.«

Michael trat an den Unterbrecherschalter. »Ich will, dass alle jetzt sehr, sehr leise sind.«

Wenn Elton es gekonnt hatte, konnte er es auch. Er atmete tief ein und ließ die Luft langsam und mit geschlossenen Augen wieder raus, um einen klaren Kopf zu bekommen. Dann legte er den Unterbrecherschalter um.

Im nächsten Augenblick – es war nur ein Sekundenbruchteil – hörte er das Rauschen des Stroms im Steuerpult, und das Geräusch klang in seinen Ohren wie Wasser, das durch ein Rohr fließt. Aber etwas stimmte nicht: Das Rohr war zu dünn. Das Wasser drückte gegen die Wand, und dann strömte es in die falsche Richtung, in wilden Turbulenzen, halb vorwärts, halb zurück, Strömungen, die sich gegenseitig aufhoben – und dann hörte alles einfach auf. Der Stromkreis war unterbrochen.

Als er die Augen öffnete, sah er, dass Gus ihn anstarrte. Der Mund des Mannes stand offen und entblößte die schwarzen Zähne.

»Es liegt am Unterbrecher«, sagte Michael.

Er zog einen Schraubenzieher aus dem Werkzeuggürtel, löste den Schalter aus der Tafel. »Fünfzehn Ampere«, sagte er. »Das Ding reicht nicht mal für eine Kochplatte. Warum zum Teufel sind es fünfzehn Ampere?« Er schaute hinauf zu dem Kasten, zu den Hunderten von Schaltungen. »Was ist das da, im nächsten Slot? Nummer sechsundzwanzig?«

Gus studierte seinen Schaltplan, den er auf dem winzigen Tisch in der Lokführerkabine ausgebreitet hatte. Er warf einen Blick auf die Tafel und wandte sich dann wieder der Zeichnung zu. »Die Innenbeleuchtung.«

»Dafür brauchst du doch keine dreißig Ampere!« Michael nahm den zweiten Schalter heraus und tauschte ihn gegen den ersten. Dann schloss er den Messerschalter wieder und wartete darauf, dass der Unterbrecher ausgelöst wurde. Als es nicht passierte, sagte er: »Das war’s.«

Gus runzelte zweifelnd die Stirn. »Das war’s?«

»Sie müssen irgendwie vertauscht worden sein. Es hat nichts zu tun mit der Kopfstelle. Setz das Relais zurück, und ich zeig’s dir.«

Michael ging nach vorn in die Lokführerkabine, wo Billie auf einem der beiden Drehstühle wartete. Alle andern waren fort; sie waren kurz nach Sonnenuntergang mit Billies Pick-up zurückgefahren und erwarteten sie am Treffpunkt.

Michael setzte sich auf den anderen Stuhl. Er drehte den Schlüssel, der neben dem Gashebel im Pult steckte. Plötzlich tat sich etwas. Die Anzeigen auf dem Pult leuchteten in kühlem Blau auf. Durch den schmalen Schlitz zwischen den Panzerplatten sah er das offene Tor des Schuppens. Tja, dachte Michael, jetzt oder nie. Entweder der Anlasser hatte Strom oder nicht. Ein Problem hatte er gefunden, aber wer konnte wissen, wie viele andere es noch gab? Zwölf Tage hatte er gebraucht, um einen Humvee in Gang zu bringen. Hier hatte er weniger als drei Stunden zur Verfügung gehabt.

Michael sah sich nach Gus um, der hinten dabei war, den Treibstoff vorzupumpen und die Luft aus der Leitung zu lassen. »Los!«, rief er.

Gus betätigte den Anlasser. Ein mächtiges Brüllen stieg von unten herauf, und mit ihm kam der befriedigende Geruch von verbranntem Diesel. Ein Ruck ließ die Lok erschauern, als die Räder in Gang kamen und an den Bremsen zerrten.

»So.« Michael drehte sich um und sah Billie an. »Wie fährt man dieses Ding?«

Passage Trilogie Bd. 1 - Der Übergang
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