57

Endlich senkte sich das Bergland in ein weites Tal hinab. Endlos lag es in der Herbstsonne unter einem azurblauen Himmelsgewölbe. Das hohe Gras war verdorrt, die Äste der Bäume waren kahl oder trugen nur noch ein paar Blätter, die Nachzügler, ausgebleicht wie Knochen. Sie flatterten im Wind wie winkende Hände und raschelten wie altes Papier. Der Boden war trocken, doch in den Gräben strömte das Wasser. Sie füllten ihre Flaschen damit, und es war kalt wie Eis an ihren Zähnen. Der Winter lag in der Luft.

Sie waren nur noch zu sechst, und sie zogen durch das leere Land wie Besucher einer vergessenen Welt, einer Welt ohne Gedächtnis, in der die Zeit stehen geblieben war. Hier und da das Gerippe einer Farm, ein verrosteter Laster, dessen Kühlergrill die Zähne bleckte wie ein Totenschädel, und kein Geräusch außer dem Wind und dem Zirpen der Grillen, die vor ihnen durch das Gras schwirrten. Sie kamen mühelos voran, aber das würde nicht so bleiben. Ein weißer Strich, der quer über den fernen Horizont gemalt war, erzählte von Bergen, die bald kommen würden.

Sie übernachteten in einer Scheune an einem Fluss. Altes Zaumzeug hing an den Wänden, Melkeimer, Schneeketten. Ein verrosteter Traktor auf platten Reifen. Das Wohnhaus stand nicht mehr; es war auf seinem Fundament zusammengebrochen, und die Wände lagen bizarr übereinandergestapelt, als wäre das Haus zusammengeschoben worden. Sie teilten die Konserven auf, die sie gefunden hatten, setzten sich auf den Boden und aßen den Inhalt kalt. Durch die Löcher im Dach konnten sie die Sterne sehen und, als es Nacht wurde, auch den Mond, umringt von vorbeitreibenden Wolken. Peter übernahm die erste Wache mit Michael. Als Hollis und Sara sie ablösten, waren die Sterne verschwunden, und der Mond war nur noch ein fahler Fleck am wolkenverhangenen Himmel. Peter schlief traumlos, und am Morgen sah er, dass es in der Nacht geschneit hatte.

Im Laufe des Vormittags wurde die Luft wärmer, und der Schnee war geschmolzen. Die nächste Stadt auf der Karte hieß Placerville. Acht Tage war es her, dass sie den Kadaver der Katze in dem Baum gesehen hatten. Das Gefühl, verfolgt zu werden, war in den langen Tagen der Wanderung und den stillen, sternhellen Nächten verflogen. Die Farm war eine ferne Erinnerung, und der Hafen mit allem, was dort passiert war, schien Jahre hinter ihnen zu liegen.

Sie wanderten jetzt an einem Fluss entlang. Peter vermutete, es sei der Dolores oder der San Miguel. Die Straße war längst nicht mehr da – überwuchert vom Gras, versunken unter dem Sand der Zeit. In zwei Dreierkolonnen marschierten sie schweigend voran. Was suchten sie, und was würden sie finden? Ihre Reise war zum Selbstzweck geworden: Sie mussten weitergehen, immer weiter. Irgendwann damit aufzuhören, ans Ende zu kommen, war ein Gedanke, der Peters Vorstellungsvermögen überstieg. Amy ging an seiner Seite, leicht vorgebeugt unter der Last ihres Rucksacks. Ihr Schlafsack und die Winterjacke waren unten am Traggestell festgeschnallt. Sie trug wie alle andern die Kleidung, die sie bei Outdoor World abgestaubt hatten: Hosen, die mit einem Gürtel um ihre Taille gezurrt waren, und ein weites, rot-weiß kariertes Hemd, dessen Manschetten nicht zugeknöpft waren und um ihre Handgelenke flatterten. Ihre Füße steckten in ledernen Sneakers. Ihr Kopf war nicht bedeckt, und auch die Brille hatte sie längst abgelegt. Sie blickte entschlossen nach vorn und blinzelte im hellen Licht. In den Tagen, seit sie die Farm verlassen hatten, war eine Veränderung vor sich gegangen, unterschwellig, aber spürbar. Genau wie der Fluss war sie es jetzt, die sie führte. Die andern hatten nur noch die Aufgabe, ihr zu folgen. Mit jedem Tag wurde dieses Gefühl stärker. Peter dachte – wie so oft – an die Botschaft, die Michael ihm gezeigt hatte, in jener längst vergangenen Nacht im Lichthaus. Ihre Worte klangen im Takt seiner Schritte, und jeder Schritt trug ihn weiter in eine Welt, die er nicht kannte, in das verborgene Herz der Vergangenheit, an den Ort, von dem Amy kam.

Wenn ihr sie gefunden habt, bringt sie her. Wenn ihr sie gefunden habt, bringt sie her.

Er vermisste Theo weniger, als er erwartet hatte. Wie der Hafen und alles, was davor passiert war – einschließlich der Kolonie –, schien der Gedanke an seinen Bruder in den Hintergrund zu treten, verdrängt von dem Wunsch, weiterzukommen. Er war verschwunden wie die Straße, die von Gras überwuchert war. An jenem Abend, als Theo und Maus sie alle zusammengerufen und ihnen ihre Entscheidung eröffnet hatten, war Peter zuerst wütend gewesen. Doch im selben Augenblick hatte er gewusst, dass sein Zorn irrational war; es war offensichtlich, dass Maus nicht weitergehen konnte. Peter wollte nur nicht, dass sein Bruder ihn so schnell wieder verließ. Aber Theo hatte recht.

Im Laufe der letzten Tage hatte er hinter der Entscheidung seines Bruders allerdings noch eine tiefere Wahrheit erkannt. Es war ihnen bestimmt, dass ihre Wege sich wieder trennten, denn ihr Anliegen war nicht dasselbe. Theo schien ihre Geschichte über Amy nicht anzuzweifeln; zumindest hatte er nichts gesagt, was Peter so hätte deuten können. Aber in der Art, wie sein Bruder sich darauf eingelassen hatte, war eine gewisse Gleichgültigkeit spürbar gewesen: Amy bedeutete ihm nichts oder nur sehr wenig. Allenfalls schien er ein bisschen Angst vor ihr zu haben. Es war klar, dass er nur deshalb überhaupt so weit mitgekommen war, weil die andern diesen Weg gehen wollten. Bei der ersten Gelegenheit, und mit Rücksicht auf Mausamis Schwangerschaft, hatte er sofort aufgegeben. Aus egoistischen Gründen hätte Peter sich mehr gewünscht, und sei es nur, dass Theo beim Abschied ein wenig traurig gewesen wäre. Aber das war er nicht. Als die sechs losgegangen waren, hatte Peter sich noch einmal umgedreht, um zu sehen, wie Theo und Mausami ihnen nachschauten. Eine Kleinigkeit – aber für Peter wäre es wichtig gewesen, dass Theo auf der Veranda stehen blieb und wartete, bis sie außer Sicht waren. Doch sein Bruder war bereits verschwunden. Nur Mausami war noch da.

Als die Sonne hoch am Himmel stand, machten sie halt, um sich auszuruhen. Die Berge waren jetzt deutlich zu sehen, eine zerklüftete Masse am östlichen Horizont, die Gipfel weiß bemützt. Es war noch einmal warm geworden, so warm, dass sie schwitzten, aber dort oben, wo sie hinwollten, war der Winter schon angekommen.

»Hat wieder geschneit«, sagte Hollis.

Er saß neben Peter auf einem umgestürzten Baumstamm, dessen vermoderte Rinde schwarz von Feuchtigkeit war. Seit mindestens einer Stunde hatte niemand mehr ein Wort gesagt. Die andern hatten sich ringsum verteilt; nur Alicia war losgezogen, um das Gelände zu erkunden. Mit seinem Messer öffnete Hollis eine Dose und löffelte sich den Inhalt, irgendein geschnetzeltes Fleisch, in den Mund. Ein Stück davon war in seinem struppig verfilzten Bart hängen geblieben; er wischte es ab, trank mit hüpfendem Adamsapfel in tiefen Zügen aus seiner Wasserflasche und reichte Peter die Dose.

Peter nahm sie und aß. Sara saß ihm gegenüber an einen Baum gelehnt und schrieb in ihr Buch. Sie hielt inne und starrte konzentriert auf das, was sie geschrieben hatte. Ihr Bleistift war nur ein Stummel, so kurz, dass sie ihn fast nicht halten konnte. Sie zog ihr Messer aus dem Gürtel, schabte die Spitze ab und nahm dann ihre geduldige Kritzelei wieder auf.

»Was schreibst du da?«, fragte Peter.

Sara zuckte die Achseln und strich sich eine Haarsträhne hinter das Ohr. »Über den Schnee. Was wir gegessen haben, wo wir geschlafen haben.« Sie hob das Gesicht und blinzelte in das Sonnenlicht, das zwischen den nassen Ästen herabfiel. »Wie schön es hier ist.«

Er merkte, dass er lächelte. Wann hatte er zuletzt gelächelt?

»Ja, das ist es wohl.«

Auch Sara wirkte verändert, seit sie die Farm verlassen hatten, fand Peter. Sie war ruhig und gelassen, als habe sie eine Entscheidung getroffen und sich damit tiefer in sich selbst zurückgezogen, in einen Zustand jenseits von Sorge oder Angst. Er verspürte leise Reue. Als er sie jetzt so sah, erkannte er, wie dumm er gewesen war. Ihr Haar war lang und verfilzt, ihr Gesicht und die bloßen Arme starrten vor Schmutz, und sie hatte schwarze Ränder unter den Fingernägeln. Trotzdem hatte sie niemals schöner ausgesehen – als sei alles, was sie erlebt hatte, ein Teil von ihr geworden, der sie mit leuchtender Stille erfüllte. Es war keine Kleinigkeit, jemanden zu lieben. Dieses Geschenk hatte sie ihm angeboten, immer schon. Aber er hatte es zurückgewiesen.

Sie merkte, dass er sie ansah, und legte fragend den Kopf zur Seite. »Was ist?«

Verlegen schüttelte er den Kopf. »Nichts.«

»Du hast mich angestarrt.«

Sie schaute lang zu Hollis hinüber, und ihre Mundwinkel hoben sich zu einem kurzen Lächeln. Es war nur ein Moment, aber Peter spürte deutlich das unsichtbare Band zwischen den beiden. Natürlich. Wie hatte er so blind sein können?

»Es war nichts weiter«, brachte er hervor. »Nur … du hast glücklich ausgesehen, wie du so dasitzt. Hat mich überrascht, das ist alles.«

Alicia kam aus dem Gebüsch. Sie lehnte ihr Gewehr an einen Baum, nahm eine Konservendose aus einem Rucksack und stach sie mit dem Messer auf. Stirnrunzelnd betrachtete sie den Inhalt.

»Pfirsiche«, stöhnte sie. »Wieso kriege ich immer Pfirsiche?« Sie setzte sich auf den Baumstamm, spießte die weichen gelben Früchte auf und schob sie in den Mund.

»Was gibt’s da unten?«, fragte Peter.

Der Saft tropfte ihr am Kinn herunter. Sie deutete mit der Messerklinge in die Richtung, aus der sie gekommen war. »Ungefähr einen halben Kilometer weiter östlich wird der Fluss schmaler und biegt nach Süden ab. Berge auf beiden Seiten, dichte Bewachsung, eine Menge exponierte Stellen.« Sie hatte die Pfirsiche aufgegessen, trank den Saft aus der Dose und warf sie beiseite. Dann wischte sie sich die Hände an ihren Hosen ab. »Am helllichten Tag, wie jetzt, ist es wahrscheinlich okay. Aber wir sollten nicht allzu lange hier herumtrödeln.«

Michael saß ein paar Schritte weiter an den Baumstamm gelehnt auf dem feuchten Boden. Die lange Wanderung hatte ihn schlanker und härter gemacht, und er hatte einen dünnen hellblonden Bart bekommen. Ein Schrotgewehr lag quer über seinem Schoß, und sein Finger war nah am Abzug.

»Keine Sichtung seit – wann? Seit sieben Tagen?« Er sprach mit geschlossenen Augen und hielt das Gesicht in die Sonne. Er trug nur ein T-Shirt und hatte sich die Jacke um den Bauch gebunden.

»Seit acht«, korrigierte Alicia. »Aber das heißt nicht, dass wir nachlässig werden dürfen.«

»Ich sag’s ja nur.« Er öffnete die Augen und sah Alicia achselzuckend an. »Diese Katze kann an allem Möglichen krepiert sein. Vielleicht an Altersschwäche.«

Sie lachte. »Hört sich gut an.«

Amy stand allein am Rand des Lagerplatzes. So spazierte sie immer davon. Eine Zeitlang hatte Peter sich wegen dieser Angewohnheit Sorgen gemacht, aber sie ging nie sehr weit weg, und inzwischen hatten sich alle daran gewöhnt.

Er stand auf und ging zu ihr. »Amy, du solltest etwas essen. Wir gehen bald weiter.«

Das Mädchen antwortete nicht gleich. Sie schaute zu den Bergen hinüber, die sich jenseits des Flusses und des flachen Graslands dahinter in der Sonne erhoben.

»Ich erinnere mich an den Schnee«, sagte sie. »Wie ich darin gelegen habe. Wie kalt er war.« Sie sah ihn blinzelnd an. »Wir sind bald da, nicht wahr?«

Peter nickte. »In ein paar Tagen, nehme ich an.«

»Tell-uride«, sagte Amy.

»Ja. Telluride.«

Sie wandte sich wieder ab. Peter sah, dass sie fröstelte, obwohl es warm war.

»Wird es wieder schneien?«, fragte sie.

»Hollis glaubt es.«

Amy nickte zufrieden. Ihr Gesicht leuchtete warm. Es war eine glückliche Erinnerung. »Ich würde mich gern wieder hineinlegen und Schneeengel machen.«

So sprach sie oft – in nebulösen Rätseln. Aber diesmal klang es anders. Es war, als steige die Vergangenheit vor ihren Augen herauf, wie ein Reh, das zaghaft aus dem Dickicht hervorkommt. Die kleinste Bewegung würde es verscheuchen.

»Was sind Schneeengel?«

»Man bewegt Arme und Beine im Schnee auf und ab«, erklärte sie. »Wie die im Himmel. Wie der Geist, Jacob Marley.«

Peter spürte, dass die andern jetzt zuhörten. Der Wind wehte ihm eine schwarze Haarsträhne über die Augen. Als er sie so betrachtete, fühlte er sich durch die Monate zurückversetzt in die Nacht im Krankenrevier, als Amy seine Wunde gewaschen hatte. Gern hätte er sie gefragt: Woher wusstest du es, Amy? Woher wusstest du, dass meine Mutter mich vermisst und wie sehr sie mir fehlt? Denn ihr habe ich es nie gesagt, Amy. Sie lag im Sterben, und ich habe ihr nicht gesagt, wie sehr sie mir fehlen würde, wenn sie nicht mehr da wäre.

»Wer ist Jacob Marley?«, fragte er.

Sie runzelte die Stirn und war plötzlich traurig. »Er trug die Ketten, die er im Leben geschmiedet hatte«, sagte sie und schüttelte den Kopf. »Es war eine so traurige Geschichte.«

Sie folgten dem Fluss bis in den Nachmittag hinein. Jetzt waren sie in den Ausläufern des Gebirges, und die Ebene lag hinter ihnen. Es ging aufwärts, und die Bäume wurden dichter – nackte, reisigdürre Espen und riesige, uralte Kiefern mit Stämmen, so dick wie ein Haus, ragten über ihren Köpfen empor. Ihr ausladendes Geäst überschattete den kahlen, mit Kiefernnadeln gepolsterten Boden. Die Luft wehte kalt und feucht vom Fluss herauf. Wie immer wanderten sie schweigend und spähten zwischen den Bäumen hindurch. Augen überall.

Placerville gab es nicht mehr. Es war leicht zu erkennen, was passiert war. Das enge Tal, der Fluss, der sich hindurchschnitt – im Frühling, wenn der Schnee schmolz, würde hier ein reißendes Hochwasser wüten. Wie Moab war auch diese Stadt weggeschwemmt worden.

Die Nacht verbrachten sie am Flussufer. Sie spannten die Plastikplane zwischen zwei Bäumen aus, um ein Dach zu haben, und legten ihre Schlafsäcke auf den weichen Boden. Peter übernahm die dritte Wache, zusammen mit Michael. Die Nacht war still und kalt und erfüllt vom Rauschen des Flusses. Peter bemühte sich, trotz der Kälte bewegungslos auf seinem Posten zu stehen, und dachte an Sara und das Gefühl, das er in dem kurzen Blickwechsel zwischen ihr und Hollis entdeckt hatte, und er erkannte, dass er sich für die beiden ehrlich freute. Er selbst hatte seine Chance schließlich schon gehabt, und offensichtlich liebte Hollis sie so, wie sie es verdiente. Hollis hatte es ihm praktisch gesagt, begriff er – in der Nacht im Milagro, als Sara entführt worden war: Peter, gerade du solltest wissen, dass ich gehen muss. Es waren nicht die Worte allein gewesen, sondern auch der Ausdruck in seinem Blick: absolute Furchtlosigkeit. In diesem Moment hatte Hollis alles aufgegeben, und er hatte es für Sara getan.

Der Himmel wurde fahl, als Alicia unter der Plane hervor und auf ihn zukam.

»So«, sagte sie und gähnte entspannt. »Immer noch hier.«

Er nickte. »Immer noch hier.«

Nach jeder Nacht, die ohne Sichtung verging, fragte er sich, wie lange ihre Glückssträhne noch anhalten würde. Aber er dachte nie lange darüber nach; es hieße das Schicksal herauszufordern, wenn er ihr Glück hinterfragte.

»Dreh dich um«, sagte Alicia. »Ich muss mal.«

Er wandte sich ab und hörte, wie Alicia ihre Hose aufschnallte und sich hinhockte. Zehn Meter weiter flussaufwärts saß Michael auf dem Boden, an einen Felsblock gelehnt. Peter erkannte, dass er fest schlief.

»Was hältst du von dieser Geschichte?«, fragte Alicia. »Geister und Engel und das alles.«

»Darüber weißt du genauso viel wie ich.«

»Peter«, sagte sie tadelnd, »das glaube ich dir nicht eine Sekunde lang.« Sie machte eine kurze Pause. »Okay, du kannst dich wieder umdrehen.«

Er sah sie an. Alicia zog ihren Gürtel fest. »Deinetwegen sind wir schließlich hier«, stellte sie fest.

»Ich dachte, Amy ist der Grund.«

Alicia schaute hinüber zu den Bäumen auf der anderen Seite des Flusses. »Wir sind Freunde, so lang ich zurückdenken kann, Peter. Nichts kann daran etwas ändern. Und deshalb bleibt es unter uns, was ich dir jetzt sage. Verstanden?«

Peter nickte.

»In der Nacht bevor wir weggegangen sind, waren wir beide in dem Trailer vor dem Gefängnis. Du hast mich gefragt, was ich sehe, wenn ich Amy anschaue. Ich glaube, ich habe nichts darauf geantwortet, und wahrscheinlich wusste ich es da auch noch nicht. Aber hier ist meine Antwort. Ich sehe dich, Peter.«

Sie sah ihn mit durchdringendem, fast schmerzvollem Blick an. Peter war verblüfft. »Das verstehe ich nicht.«

»Doch, das verstehst du sehr wohl. Vielleicht weißt du es nicht, aber du verstehst es. Du sprichst nie über deinen Vater oder über die Langen Ritte. Ich habe dich nie bedrängt. Aber das heißt nicht, dass ich nicht wusste, was du wolltest. Du hast dein ganzes Leben lang darauf gewartet, dass etwas wie Amy kommt. Von mir aus kannst du es Bestimmung nennen oder Schicksal. Auntie würde wahrscheinlich sagen, es ist die Hand Gottes. Glaub mir, ich habe diese Reden auch gehört. Ich glaube, es kommt nicht darauf an, wie du es nennst. Es ist, wir es ist. Du fragst mich, weshalb wir hier sind, und ich sage, klar, wir sind hier wegen Amy. Aber sie ist nur der halbe Grund. Und das Komische ist: Alle wissen es, nur du nicht.«

Peter wusste nicht, was er sagen sollte. Seit Amy in sein Leben getreten war, fühlte er sich, als habe ihn eine starke Strömung erfasst, und diese Strömung zog ihn irgendwohin, zog ihn zu etwas, das er finden musste. Jeder Schritt, den er tat, sagte ihm das. Aber selbst inmitten dieses Gefühls wusste er, dass jeder von ihnen dabei eine Rolle gespielt hatte, und vieles war einfach nur Glückssache gewesen.

»Ich weiß nicht, Lish«, sagte er schließlich. »Es hätte jeder von uns sein können, an dem Tag damals in der Mall. Du hättest es sein können. Oder Theo.«

Sie winkte ab. »Du traust deinem Bruder zu viel zu, aber das hast du immer getan. Und wo ist er jetzt? Versteh mich nicht falsch; ich finde, er hat das Richtige getan. Maus war nicht in der Verfassung für solch einen langen Marsch. Das habe ich von Anfang an gesagt. Aber das war nicht der einzige Grund, weshalb er zurückgeblieben ist.« Wieder zuckte sie die Achseln. »Ich sage das nur, weil du es von irgendjemandem hören musst. Das hier ist dein Langer Ritt, Peter. Was immer da oben auf dem Berg ist, es wartet darauf, dass du es findest.«

Sie schwieg. Etwas an der Art, wie sie gesprochen hatte, beunruhigte ihn. Es klang, als wären es letzte Worte gewesen. Als wollte sie sich von ihm verabschieden.

»Glaubst du, es geht ihnen gut?«, fragte er. »Theo und Maus?

»Keine Ahnung. Ich hoffe es.«

»Weißt du …« Er räusperte sich. »Ich glaube, Hollis und Sara …«

»Sind ein Paar?« Sie lachte leise. »Ich dachte, du hättest es nicht mitgekriegt. Du solltest ihnen sagen, dass du es weißt. Wenn du mich fragst, wird allen ein Stein vom Herzen fallen.«

Er war völlig verdattert. »Alle wissen es?«

»Peter.« Sie runzelte missbilligend die Stirn. »Genau das ist es, wovon ich rede. Es ist gut und schön, die Menschheit retten zu wollen. Aber manchmal könntest du ein bisschen mehr auf das achten, was vor deiner Nase passiert.«

»Ich dachte, das tue ich.«

»Ja, das dachtest du. Wir sind ganz gewöhnliche Sterbliche, nichts weiter. Ich habe keine Ahnung, was da oben auf dem Berg ist, aber eins weiß ich: Wir leben, wir sterben. Und wenn wir Glück haben, finden wir irgendwo unterwegs vielleicht jemanden, der uns unsere Last erleichtert. Du solltest ihnen sagen, es ist okay. Sie warten darauf.«

Er begriff immer noch nicht, warum er so lange gebraucht hatte, um zu sehen, was mit Sara und Hollis los war. Vielleicht hatte er es nicht sehen wollen. Als er Alicia jetzt anschaute, deren Haar in der Morgensonne glänzte, erinnerte er sich an die Nacht mit ihr auf dem Dach des Kraftwerks, und wie sie dort übers Heiraten und über Kinder gesprochen hatten. An jene seltsame, außergewöhnliche Nacht, als Alicia ihm die Sterne geschenkt hatte. Damals war der bloße Gedanke daran, ein normales Leben zu führen – oder eins, das man so nennen konnte –, so fern und unerreichbar gewesen wie die Sterne da oben. Jetzt waren sie hier, mehr als tausend Kilometer von zu Hause entfernt – von einem Zuhause, das sie wahrscheinlich niemals wiedersehen würden –, und sie waren dieselben Leute, die sie immer gewesen waren, zugleich aber auch nicht. Denn etwas war passiert: Sie hatten die Liebe entdeckt.

Das war es, was Alicia ihm jetzt sagen wollte, und dasselbe hatte sie ihm in der Nacht auf dem Dach des Kraftwerks zu sagen versucht, in der letzten entspannten Stunde, bevor alles passierte. Dass sie das, was sie taten, aus Liebe taten. Nicht nur Sara und Hollis, sondern sie alle.

»Lish …«, begann er.

Aber sie schüttelte den Kopf und schnitt ihm das Wort ab. Anscheinend war sie plötzlich durcheinander. Hinter ihr traten Sara und Hollis in den Morgen heraus.

»Wie gesagt, wir alle sind deinetwegen hier«, sagte Alicia. »Und ich noch mehr als alle andern. Wirst du jetzt Akku wecken, oder soll ich es tun?«

Sie brachen das Lager ab, und als sie flussabwärts weiterwanderten, schien die Sonne bis ins Tal hinunter und durchdrang die Äste der Bäume mit dunstigem Licht.

Es war kurz vor Halbtag, als Alicia, die an der Spitze ging, plötzlich stehen blieb. Sie hob die Hand, um alle zum Schweigen zu bringen.

»Lish«, rief Michael von hinten, »warum bleiben wir stehen?«

»Still!«

Sie schnupperte. Jetzt erreichte der Geruch auch Peter, ein merkwürdiger und kräftiger Dunst, der in der Nase brannte.

»Was ist das?«, flüsterte Sara hinter ihm.

Hollis deutete mit dem Gewehr über ihre Köpfe hinweg. »Seht mal da …«

An den Ästen über ihren Köpfen hingen Dutzende kleine weiße Gegenstände an langen Strängen, büschelweise wie Trauben.

»Was zum Teufel ist das?«

Aber Alicia schaute jetzt auf den Boden und inspizierte prüfend den Laubteppich zu ihren Füßen. Sie ging in die Knie und schob die dicke Schicht von braunen Blättern zur Seite.

»O Scheiße!«

Peter hörte das Ächzen eines herabfallenden Gewichts. Bevor er ein Wort herausbrachte, hatte das Netz sie verschlungen. Sie wurden hochgehoben und stiegen in die Luft, schreiend und umeinanderpurzelnd, in die Maschen verstrickt. Einen Augenblick lang schwebte alles in der Schwerelosigkeit, und dann ging es wieder hinunter. Das Netz presste sie zu einem einzigen in sich verkeilten, wehrlosen Klumpen zusammen.

Peter hing kopfüber in den Maschen. Jemand lag auf ihm – Hollis. Hollis und Sara und dicht vor seinem Gesicht war ein Stiefel, der zu Amy gehörte. Es war nicht zu erkennen, wo ein Körper aufhörte und der andere anfing. Sie drehten sich in der Luft wie ein Kreisel. Der Druck auf seiner Brust war so stark, dass er kaum atmen konnte. Seine Wange drückte sich an die Maschen, die aus einem starken, faserigen Garn geflochten waren. Der Boden unter ihm war ein rasender Strudel von zerlaufenden Farben.

»Lish!«

»Ich kann mich nicht rühren!«

»Kann es jemand?«

»Ich glaube, mir wird schlecht!« Das war Michael.

Saras Stimme war schrill vor Panik. »Michael, wag es ja nicht!«

Peter kam nicht an sein Messer. Aber selbst wenn er es hätte erreichen können – wenn er die Maschen durchtrennte, würden sie alle kopfüber zu Boden stürzen. Das Kreiseln wurde langsamer, hörte auf und ging dann andersherum wieder los, immer schneller. Irgendwo über sich im Gewirr der Gliedmaßen hörte er Michael würgen.

Sie drehten und drehten sich, und dann drehten sie sich wieder. Bei der sechsten Rotation entdeckte Peter aus den Augenwinkeln ein leichtes Zittern im Unterholz. Als sei der Wald zum Leben erwacht und rücke heran. Aber inzwischen war ihm so schwummerig, dass er nicht mehr sprechen konnte.«Gottverdammt noch mal«, sagte eine Stimme unter ihnen. »Das sind Sprengs.«

Und dann sah Peter sie: Es waren Soldaten.

Passage Trilogie Bd. 1 - Der Übergang
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