73

In der schimmernden Ferne sahen sie es: ein riesiges Feld von Rotoren, die sich im Wind drehten.

Die Turbinen.

Sie hatten den Weg durch die Wüsten genommen, durch heiße, trockene Gegenden, waren untergekrochen, wo es ging, und da, wo es nicht ging, hatten sie ein Feuer angezündet und die Nacht abgewartet. Einmal, nur ein einziges Mal, hatten sie lebende Virals gesehen, einen Dreierschwarm. Das war in Arizona gewesen, in einer Gegend, die als »Painted Desert« auf der Karte verzeichnet war. Die Kreaturen hingen kopfüber an den Stahlträgern einer Brücke und dösten im Schatten. Amy hatte sie gespürt. Überlass sie mir, hatte Alicia gesagt.

Sie hatte alle drei erledigt, mit dem Messer. Die anderen waren dazugestoßen, als sie gerade die Klinge aus der Brust des letzten zog. Die Virals hatten schon angefangen zu qualmen. War ganz einfach, sagte Alicia. Anscheinend hatten sie gar nicht gewusst, was sie war. Vielleicht hatten sie sie für einen Viral gehalten.

Sie fanden noch andere. Kadaver, klägliche Überreste. Die Umrisse eines geschwärzten Brustkorbs, die zerbröselnden, aschgrauen Knochen einer Hand oder eines Schädels, ein Fleck auf einem Stück Asphalt, wie von etwas Angebranntem in einer Pfanne. Die meisten lagen nicht weit entfernt von den Gebäuden, in denen sie geschlafen und die sie dann verlassen hatten, um sich in die Sonne zu legen und zu sterben.

Peter und die anderen hatten um Las Vegas einen weiten Bogen gemacht. Sie nahmen zwar an, dass die Stadt leer war, wollten jedoch auf Nummer sicher gehen. Inzwischen war es richtig Sommer geworden, und die schattenlosen Tage waren lang und brutal. Sie wollten so schnell wie möglich nach Hause. Und jetzt standen sie vor dem Kraftwerk. Das Tor im Zaun war offen. Michael nahm sich die Eingangsluke vor. Er schraubte die Stahlplatte vor dem Schloss ab und löste die Zuhaltungen mit der Spitze seines Messers.

Peter ging als Erster hinein. Ein helles, metallisches Klacken unter seinen Sohlen – er wischte sich den Schweiß aus den Augen und bückte sich, um zu sehen, was es war. Patronenhülsen.

Die Wände an der Treppe waren völlig zerschossen, und die Stufen waren von Betonbrocken übersät. Die Lampe war zerschmettert. Alicia kam herein und nahm in der kühlen Dunkelheit ihre Sonnenbrille ab. Dunkelheit war kein Problem für sie. Peter und die andern warteten, während sie mit dem Gewehr im Anschlag in den Kontrollraum hinunterstieg. Dann hörten sie ihren Pfiff: Alles klar.

Als sie unten ankamen, hatte Lish schon eine Laterne gefunden und den Docht angezündet. Der Raum war verwüstet. Der lange Tisch in der Mitte lag auf der Seite; offensichtlich hatte er als Deckung gedient. Auch hier war der Boden übersät von Patronenhülsen und leeren Magazinen. Aber die Steuertafel selbst schien noch intakt zu sein: Die elektrischen Anzeigen leuchteten. Sie gingen weiter zu den Lagerräumen und Unterkünften.

Niemand. Keine Leichen.

»Amy«, sagte Peter, »weißt du, was hier passiert ist?«

Wie alle andern betrachtete sie das Ausmaß der Zerstörung mit stummer Ratlosigkeit.

»Nicht? Du fühlst nichts?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube … das haben Menschen getan.«

Das Regal vor der Wand, hinter dem die Gewehre versteckt gewesen waren, war abgerückt, und die Gewehre waren ebenfalls verschwunden. Was hatte sich hier abgespielt? Ein Kampf – doch wer hatte gegen wen gekämpft? Hunderte Patronen waren im Korridor und im Kontrollraum abgefeuert worden, und weitere in der Unterkunft, die ein Trümmerhaufen war. Wo waren die Toten? Wo war das Blut?

»Tja, Strom gibt es noch«, verkündete Michael, der sich an das Steuerpult gesetzt hatte. Sein Haar fiel ihm inzwischen bis auf die Schultern. Seine Haut war bronzebraun von der Sonne und windgegerbt, und sie schälte sich auf den Wangenknochen. Er tippte auf der Tastatur und betrachtete die Zahlen, die über den Monitor liefen. »Die Diagnostik lässt kein Problem erkennen. Eigentlich müsste reichlich Saft den Berg hinauffließen. Es sei denn …« Er brach ab und klopfte mit einem Finger an seine Lippen. Dann fing er wieder an, wie rasend zu tippen, sprang auf, um die Anzeigen über seinem Kopf abzulesen, und setzte sich wieder hin. Mit einem langen Fingernagel klopfte er an den Monitor. »Hier.«

»Michael, erzähl’s uns einfach«, sagte Peter.

»Das ist das Backup-Log des Systems. Jede Nacht, wenn die Akkus auf unter vierzig Prozent sinken, schicken sie ein Signal hierher und fordern mehr Strom an. Alles komplett automatisiert – man sieht nicht, wie es passiert. Zum ersten Mal ist es vor sechs Jahren passiert, und seitdem ungefähr jede Nacht. Bis jetzt. Bis vor … mal sehen … bis vor dreihundertdreiundzwanzig Zyklen.«

»Zyklen.«

»Tagen, Peter.«

»Michael, ich habe keine Ahnung, was das bedeutet.«

»Es bedeutet, dass entweder jemand eine Möglichkeit gefunden hat, die Akkus wieder aufzumöbeln, was ich ernsthaft bezweifeln möchte – oder dass sie keinen Strom mehr beziehen.«

Alicia runzelte die Stirn. »Das ergibt keinen Sinn. Warum sollten sie das nicht tun?«

Michael zögerte, und Peter sah die Antwort in seinem Gesicht.

»Weil jemand das Licht abgeschaltet hat.«

Sie verbrachten eine ruhelose Nacht im Kraftwerk und zogen am nächsten Morgen weiter. Gegen Halbtag hatten sie Banning hinter sich gelassen und den Aufstieg begonnen. Als sie im Schatten einer hohen Kiefer rasteten, wandte Alicia sich an Peter.

»Nur für den Fall, dass Michael sich irrt und wir verhaftet werden: Ich werde sagen, dass ich diese Männer getötet habe. Das sollst du wissen. Was immer dann kommt, werde ich auf mich nehmen, aber dich sollen sie nicht bekommen. Und Amy oder Akku werden sie nicht anrühren.«

Damit hatte er mehr oder weniger gerechnet. »Lish, das brauchst du nicht zu tun. Ich glaube auch nicht, dass Sanjay jetzt noch etwas unternehmen wird.«

»Vielleicht nicht. Ich will nur, dass es klar ist. Und es war auch keine Bitte. Verhalt dich einfach dementsprechend. Greer? Verstanden?«

Der Major nickte.

Doch ihre Ankündigung war überflüssig. Sie wussten es, als sie die letzte Kehre über der Oberen Weide erreicht hatten. Sie konnten die Mauer jetzt sehen. Sie ragte zwischen den Bäumen auf. Die Feuerposten waren verwaist, und von der Wache war keine Spur. Eine gespenstische Stille hing über dem Ort. Das Tor stand offen und war unbewacht.

Die Kolonie war leer.

Sie fanden zwei Leichen.

Die erste war Gloria Patel. Sie hatte sich im Großen Raum in der Zuflucht erhängt, zwischen leeren Betten und Pritschen. Sie war auf eine hohe Trittleiter gestiegen und hatte den Strick an einem Deckenbalken in der Nähe der Tür befestigt. Die Leiter lag jetzt unter ihren Füßen auf dem Boden. Es sah aus, als hätte sie sich gerade eben erst die Schlinge um den Hals gelegt und die Leiter weggestoßen.

Die andere Tote war Auntie. Peter war es, der sie fand. Sie saß auf einem Küchenstuhl auf der kleinen Lichtung vor ihrem Haus. Sie war schon seit Monaten tot, das konnte er sehen, aber ihr Äußeres war kaum verändert. Nur als er die Hand auf ihrem Schoß berührte, spürte er die kalte Starre des Todes. Ihr Kopf war nach hinten geneigt, und ihr Gesicht sah friedlich aus, als sei sie einfach eingeschlafen. Er wusste, sie war herausgekommen, als es dunkel geworden war und die Scheinwerfer nicht angingen. Sie hatte einen Stuhl in den Garten getragen und sich hingesetzt und die Sterne angeschaut.

»Peter.« Alicia berührte seinen Arm, als er noch vor der Toten kauerte. »Peter, was willst du jetzt tun?«

Gewaltsam riss er den Blick von Auntie los, und erst jetzt merkte er, dass er Tränen in den Augen hatte. Die andern standen wie stumme Zeugen hinter Alicia.

»Wir sollten sie hier beerdigen. Bei ihrem Haus, in ihrem Garten.«

»Das werden wir tun«, sagte Alicia behutsam. »Ich meinte die Scheinwerfer. Es wird bald dunkel. Michael sagt, wir haben genug Strom.«

Er blickte an ihr vorbei zu Michael hinüber, und der nickte.

»Okay«, sagte er.

Sie schlossen das Tor und versammelten sich auf dem Sonnenfleck – alle außer Michael, der ins Lichthaus gegangen war. Es fing an zu dämmern, und der Himmel färbte sich violett. Alles war wie in einem Schwebezustand; nicht einmal die Vögel sangen. Mit einem hörbaren Plopp strahlte das Flutlicht auf und übergoss sie alle mit grellem, endgültigem Gleißen.

Michael erschien. »Für diese Nacht dürften wir in Sicherheit sein.«

Peter nickte. Eine Zeitlang schwiegen sie alle im Angesicht einer unausgesprochenen Wahrheit: Noch eine Nacht, und die Lichter der Ersten Kolonie würden für immer erlöschen.

»Und was jetzt?«, fragte Alicia.

In der Stille spürte Peter jeden seiner Freunde. Alicia, deren Mut ein Teil von ihm war. Michael, der rank und schlank geworden war, ein Mann. Greer mit seiner weisen, soldatischen Haltung. Und Amy. Er dachte an all das, was er gesehen hatte, und an die, die gestorben waren – nicht nur die, die er gekannt hatte, sondern auch alle andern –, und er wusste, wie die Antwort lautete.

»Jetzt«, sagte er, »ziehen wir in den Krieg.«

Passage Trilogie Bd. 1 - Der Übergang
titlepage.xhtml
978-3-641-05067-2-1.xhtml
978-3-641-05067-2-2.xhtml
978-3-641-05067-2-3.xhtml
978-3-641-05067-2-4.xhtml
978-3-641-05067-2-5.xhtml
978-3-641-05067-2-6.xhtml
978-3-641-05067-2-7.xhtml
978-3-641-05067-2-8.xhtml
978-3-641-05067-2-9.xhtml
978-3-641-05067-2-10.xhtml
978-3-641-05067-2-11.xhtml
978-3-641-05067-2-12.xhtml
978-3-641-05067-2-13.xhtml
978-3-641-05067-2-14.xhtml
978-3-641-05067-2-15.xhtml
978-3-641-05067-2-16.xhtml
978-3-641-05067-2-17.xhtml
978-3-641-05067-2-18.xhtml
978-3-641-05067-2-19.xhtml
978-3-641-05067-2-20.xhtml
978-3-641-05067-2-21.xhtml
978-3-641-05067-2-22.xhtml
978-3-641-05067-2-23.xhtml
978-3-641-05067-2-24.xhtml
978-3-641-05067-2-25.xhtml
978-3-641-05067-2-26.xhtml
978-3-641-05067-2-27.xhtml
978-3-641-05067-2-28.xhtml
978-3-641-05067-2-29.xhtml
978-3-641-05067-2-30.xhtml
978-3-641-05067-2-31.xhtml
978-3-641-05067-2-32.xhtml
978-3-641-05067-2-33.xhtml
978-3-641-05067-2-34.xhtml
978-3-641-05067-2-35.xhtml
978-3-641-05067-2-36.xhtml
978-3-641-05067-2-37.xhtml
978-3-641-05067-2-38.xhtml
978-3-641-05067-2-39.xhtml
978-3-641-05067-2-40.xhtml
978-3-641-05067-2-41.xhtml
978-3-641-05067-2-42.xhtml
978-3-641-05067-2-43.xhtml
978-3-641-05067-2-44.xhtml
978-3-641-05067-2-45.xhtml
978-3-641-05067-2-46.xhtml
978-3-641-05067-2-47.xhtml
978-3-641-05067-2-48.xhtml
978-3-641-05067-2-49.xhtml
978-3-641-05067-2-50.xhtml
978-3-641-05067-2-51.xhtml
978-3-641-05067-2-52.xhtml
978-3-641-05067-2-53.xhtml
978-3-641-05067-2-54.xhtml
978-3-641-05067-2-55.xhtml
978-3-641-05067-2-56.xhtml
978-3-641-05067-2-57.xhtml
978-3-641-05067-2-58.xhtml
978-3-641-05067-2-59.xhtml
978-3-641-05067-2-60.xhtml
978-3-641-05067-2-61.xhtml
978-3-641-05067-2-62.xhtml
978-3-641-05067-2-63.xhtml
978-3-641-05067-2-64.xhtml
978-3-641-05067-2-65.xhtml
978-3-641-05067-2-66.xhtml
978-3-641-05067-2-67.xhtml
978-3-641-05067-2-68.xhtml
978-3-641-05067-2-69.xhtml
978-3-641-05067-2-70.xhtml
978-3-641-05067-2-71.xhtml
978-3-641-05067-2-72.xhtml
978-3-641-05067-2-73.xhtml
978-3-641-05067-2-74.xhtml
978-3-641-05067-2-75.xhtml
978-3-641-05067-2-76.xhtml
978-3-641-05067-2-77.xhtml
978-3-641-05067-2-78.xhtml
978-3-641-05067-2-79.xhtml
978-3-641-05067-2-80.xhtml
978-3-641-05067-2-81.xhtml
978-3-641-05067-2-82.xhtml
978-3-641-05067-2-83.xhtml
978-3-641-05067-2-84.xhtml
978-3-641-05067-2-85.xhtml
978-3-641-05067-2-86.xhtml
978-3-641-05067-2-87.xhtml
978-3-641-05067-2-88.xhtml
978-3-641-05067-2-89.xhtml
978-3-641-05067-2-90.xhtml
978-3-641-05067-2-91.xhtml
978-3-641-05067-2-92.xhtml
978-3-641-05067-2-93.xhtml
978-3-641-05067-2-94.xhtml
978-3-641-05067-2-95.xhtml