52

»Es tut mir leid, Peter«, sagte Olson. »Ich kann nicht alle deine Freunde im Auge behalten.«

Peter hatte erfahren, dass Michael kurz vor Sonnenuntergang verschwunden war. Sara war ins Krankenrevier gegangen, um nach ihm zu sehen, und hatte sein Bett leer vorgefunden. Das ganze Gebäude war leer.

Sie waren in zwei Gruppen ausgeschwärmt: Sara, Hollis und Caleb suchten das Gelände ab, und Alicia und Peter waren zu Olson gegangen. In seinem Haus, hatte der Mann erzählt, habe einst der Gefängnisdirektor gewohnt. Es war ein kleines, zweigeschossiges Gebäude auf einem sonnenverbrannten Grundstück zwischen dem Arbeitscamp und dem alten Gefängnis.

»Ich rede mit Billie«, versprach Olson. »Vielleicht weiß sie, wo er ist.« Er wirkte gehetzt, als hätten sie ihn mitten in einer wichtigen Arbeit gestört. Trotzdem machte er sich die Mühe, ihnen sein beruhigendes Lächeln zu schenken. »Sicher ist alles in Ordnung mit ihm. Mira hat ihn vor ein paar Stunden im Krankenrevier gesehen. Er sagte, es gehe ihm besser, und er wolle sich ein bisschen umsehen. Ich dachte, wahrscheinlich ist er zu euch gegangen.«

»Er konnte kaum laufen«, sagte Peter. »Vermutlich keinen Schritt tun.«

»Dann kann er nicht weit gekommen sein, oder?«

»Sara sagt, das Krankenrevier ist leer. Sind dort normalerweise nicht ein paar Leute?«

»Nicht unbedingt. Wenn es Michael besser ging, hätten sie keinen Grund, dort zu bleiben.« Olsons Miene verfinsterte sich. Er sah Peter an. »Er taucht sicher wieder auf. Ich rate euch, geht in euer Quartier zurück und wartet dort auf ihn.«

»Ich weiß nicht …«

Olson hob die Hand und schnitt ihm das Wort ab. »Ich gebe euch nur einen Rat und schlage vor, ihr nehmt ihn an. Und seht zu, dass ihr nicht noch mehr von euren Freunden verliert.«

Bis jetzt hatte Alicia geschwiegen. Auf ihre Krücken gestützt, stieß sie Peter mit der Schulter an. »Komm.«

»Aber …«

»Ist schon gut.« Sie wandte sich an Olson. »Es ist sicher alles okay. Wenn du uns brauchst, weißt du, wo du uns findest.«

Sie gingen zurück, durch das Gewirr von Baracken. Alles war seltsam still, niemand war unterwegs. Als sie an dem Schuppen vorbeikamen, in dem die Party stattgefunden hatte, war er verlassen. In allen Häusern war es dunkel. Peters Haut prickelte, als die kühlende Wüstennacht herabsank, aber er wusste, dass es nicht nur an den frischen Temperaturen lag. Er spürte die Augen der Leute, die ihn hinter den Fenstern beobachteten.

»Sieh nicht hin«, sagte Alicia. »Ich spüre es auch. Einfach weitergehen.«

Als sie zu ihrer Baracke kamen, kehrten auch Hollis und die andern zurück. Sara war außer sich vor Sorge. Peter berichtete ihnen von der Unterredung mit Olson.

»Sie haben ihn irgendwohin gebracht, nicht wahr?«, sagte Lish.

Es sah ganz so aus. Aber wohin, und in welcher Absicht? Olson log, das war offensichtlich. Und was noch seltsamer war: Olson wollte anscheinend, dass sie es wussten.

»Wer ist jetzt da draußen, Hightop?«

Caleb hatte seinen Posten an der Tür eingenommen. »Die beiden Üblichen. Sie lungern auf der anderen Seite herum und tun, als ob sie uns nicht beobachteten.«

»Sonst noch jemand?«

»Nein. Ist totenstill da draußen. Auch keine Kinder.«

»Geh Maus wecken«, sagte Peter. »Sag ihr nichts. Bring sie und Amy her. Mit ihrem Gepäck.«

»Hauen wir ab?« Calebs Blick huschte zu Sara und wieder zurück. »Was ist mit Akku?«

»Ohne ihn gehen wir nirgendwohin. Jetzt lauf.«

Caleb verschwand wie der Blitz. Peter und Alicia wechselten einen Blick. Irgendetwas war im Gange. Sie würden schnell handeln müssen.

Gleich darauf war der Junge wieder da. »Sie sind weg.«

»Wie weg?«

Caleb war aschfahl im Gesicht. »Nebenan ist niemand mehr, Peter.«

Das war alles seine Schuld. Bei der hastigen Suche nach Michael hatte er die beiden Frauen alleingelassen. Er hatte Amy alleingelassen. Wie hatte er so dumm sein können?

Alicia hatte ihre Krücken beiseitegelegt und wickelte den Verband von ihrem Bein. Darunter kam das Messer zum Vorschein, das sie am Abend ihrer Ankunft dort versteckt hatte. Die Krücken waren ein Trick; die Wunde war fast ganz verheilt. Alicia stand auf.

»Es wird Zeit, dass wir die Gewehre finden«, sagte sie.

Was immer Billie ihm ins Wasser getan hatte, die Wirkung hielt noch an.

Michael lag auf der Ladefläche eines Pick-ups unter einer Plastikplane. Die Ladefläche war voll von klappernden Rohren. Billie hatte ihm befohlen, still zu liegen und keinen Mucks von sich zu geben, aber das Nervenflattern war fast unerträglich. Wie kam sie dazu, ihm ein solches Gebräu einzuflößen und dann zu erwarten, dass er ganz still dalag? Das Zeug wirkte wie das Gegenteil von Schnaps: als singe jede Zelle seines Körpers einen einzigen Ton. Als liefen seine Gedanken durch einen Filter, der ihnen eine helle, pulsierende Klarheit verlieh.

Schluss mit den Träumen, hatte sie gesagt. Schluss mit der fetten Lady mit ihrem Rauch und dem Geruch und der schrecklichen, kratzigen Stimme. Woher wusste Billie, was er träumte?

Einmal hatten sie angehalten, kurz hinter dem Krankenrevier, das sie durch den Hinterausgang verlassen hatten. Irgendein Checkpoint. Michael hörte eine Stimme, die er nicht kannte; jemand fragte Billie, wohin sie wolle. Unter der Plane hörte Michael beklommen zu.

»Auf dem östlichen Feld ist eine Leitung gebrochen«, sagte Billie. »Olson sagt, ich soll diese Rohre hinausbringen, damit die Arbeitskolonne morgen anfangen kann.«

»Wir haben Neumond. Du solltest nicht draußen sein.«

Neumond, dachte Michael. Was war denn so wichtig am Neumond?

»Hör zu, Olson hat es gesagt. Wende dich an ihn, wenn du willst.«

»Wie wollt ihr denn rechtzeitig zurück sein?«

»Das lass meine Sorge sein. Können wir jetzt durchfahren oder nicht?«

Das Schweigen wirkte angespannt. Schließlich sagte die Stimme: »Aber seht zu, dass ihr zurück seid, bevor es dunkel ist.«

Jetzt war eine Weile vergangen, und Michael spürte, dass der Truck wieder langsamer fuhr. Er zog die Plane zur Seite und sah den violetten Abendhimmel und eine dicke Staubwolke, die hinter dem Truck verwehte. Die Berge waren eine ferne Wölbung am Horizont.

»Du kannst jetzt herunterkommen.«

Billie stand an der Heckklappe. Michael kletterte dankbar von der Ladefläche; endlich konnte er sich wieder bewegen. Sie parkten vor einem riesigen Blechschuppen, mindestens zweihundert Meter lang und mit einem tonnenförmig gewölbten Dach. Dahinter sah er die Umrisse rostiger Treibstofftanks. Das Gelände war überzogen von einem Netz von Bahngleisen, die in alle Himmelsrichtungen führten.

Eine kleine Seitentür öffnete sich, und ein Mann kam heraus und auf sie zu. Er war mit Schmiere und Öl bedeckt; sein Gesicht war praktisch schwarz davon. Er hielt etwas in den Händen, das er mit einem schmutzigen Lappen bearbeitete. Vor ihnen blieb er stehen und musterte Michael von oben bis unten. In einem Halfter an seinem Bein steckte ein kurzläufiges Schrotgewehr. Michael erkannte ihn wieder. Es war der Fahrer, der sie aus Las Vegas hierhergebracht hatte.

»Ist er das?«

Billie nickte.

Der Mann trat an Michael heran, bis sein Gesicht nur noch eine Handbreit entfernt war, und schaute ihm in die Augen – erst in das eine, dann in das andere, und dabei drehte er den Kopf hin und her. Sein Atem roch nach saurer Milch, und seine Zähne waren schwarz verfärbt. Michael musste sich zusammennehmen, um nicht zurückzuweichen.

»Wie viel hast du ihm gegeben?«

»Genug«, sagte Billie.

Der Mann sah ihn noch einmal skeptisch an. Dann trat er zurück und spuckte einen braunen Speichelstrahl auf den harten Boden. »Ich bin Gus.«

»Michael.«

»Ich weiß, wer du bist.« Er hielt den Gegenstand in seinen Händen hoch, damit Michael ihn ansehen konnte. »Weißt du, was das ist?«

Michael nahm das Teil in die Hand. »Eine Solenoidspule, vierundzwanzig Volt. Ich würde sagen, sie stammt aus einer Treibstoffpumpe, einer großen.«

»Ach ja? Und was ist daran kaputt?«

Michael gab die Spule achselzuckend zurück. »Nichts, soweit ich sehe.«

Gus sah Billie an und runzelte die Stirn. »Er hat recht.«

»Ich hab’s doch gesagt.«

»Sie behauptet, du kennst dich mit elektrischen Anlagen aus. Kabelbäume, Generatoren, Steuerungseinheiten.«

Michael zuckte wieder die Achseln. Er scheute sich immer noch, allzu viel preiszugeben, aber etwas, irgendein Instinkt, sagte ihm, dass er den beiden vertrauen konnte. Sie hatten nicht zum Vergnügen den weiten Weg hierher mit ihm gemacht.

»Zeig mir, was ihr habt.«

Sie gingen quer über den Hof zum Blechschuppen. Von drinnen hörte Michael das Dröhnen tragbarer Generatoren und den metallischen Klang von Werkzeugen. Sie traten durch die Tür ein, aus der Gus gekommen war. Scheinwerfer auf hohen Masten beleuchteten die Halle. Mehrere Männer in ölverschmierten Overalls gingen hin und her.

Was Michael sah, ließ ihn wie angewurzelt stehen bleiben.

Es war eine Eisenbahn. Eine Diesellokomotive. Und keine verrostete Antiquität – das Ding sah aus, als könne es tatsächlich fahren. Sie war mit einer schützenden Metallpanzerung verkleidet, Stahlplatten von mindestens einem Dreiviertelzoll Dicke. Ein mächtiger Kuhfänger ragte nach vorn, und auch vor den Frontscheiben waren dicke Stahlplatten montiert, die nur einen schmalen Sehschlitz für den Lokführer offen ließen. Drei kastenförmige Wagen standen dahinter.

»Die mechanischen und pneumatischen Systeme funktionieren alle«, erklärte Gus. »Wir haben die Acht-Volt-Batterien mit den tragbaren Generatoren aufgeladen. Das einzige Problem ist der Kabelbaum. Wir kriegen den Strom nicht von den Batterien zur Pumpe.«

In Michaels Ohren rauschte das Blut. Er holte tief Luft, um das Unruhegefühl in ihm zu unterdrücken. »Habt ihr Schaltpläne?«

Gus führte ihn zu einem wackligen Tisch, auf dem er Zeichnungen ausgebreitet hatte, große Bögen von sprödem Papier, mit blauer Tinte überzogen. Michael warf einen Blick darauf.

»Das ist ein Chaos«, stellte er dann fest. »Es könnte ein paar Wochen dauern, bis ich das Problem finde.«

»Ein paar Wochen haben wir aber nicht«, sagte Billie.

Michael hob den Kopf. »Wie lange habt ihr an dem Ding gearbeitet?«

»Vier Jahre«, sagte Gus. »Mehr oder weniger.«

»Und wie viel Zeit habe ich?«

Billie und Gus wechselten einen sorgenvollen Blick.

»Drei Stunden«, sagte Billie.

Passage Trilogie Bd. 1 - Der Übergang
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