29

Für Sanjay Patal, Oberhaupt des Haushalts, hatte alles schon vor Jahren angefangen. Es hatte mit den Träumen angefangen.

Nicht das Mädchen – von ihr hatte er nie geträumt, da war er sicher. Oder fast sicher. Das Mädchen von Nirgendwo – so nannten sie nun alle, sogar Old Chou; im Laufe eines einzigen Vormittags war das zu ihrem offiziellen Namen geworden. Dieses Mädchen von Nirgendwo war zu ihnen gekommen, ein junger, in seiner Blüte stehender Mensch; eine Geistererscheinung, die sich als Wesen aus Fleisch und Blut entpuppte. Dass so etwas schlicht unmöglich war, wurde durch ihre Existenz widerlegt. Er hatte sich durchforscht, aber er konnte sie nirgends finden, nicht in dem Teil, den er als sich selbst kannte, als Sanjay Patal, und auch nicht in dem anderen, in dem geheimen, träumenden Teil.

Denn das Gefühl wohnte in ihm, solange Sanjay zurückdenken konnte. Das Gefühl, das wie eine zweite Person war, eine Seele für sich, die in der seinen wohnte. Eine Seele mit einem Namen und einer Stimme, die in ihm sang: Sei der Meine. Ich bin dein, und du bist mein, und zusammen sind wir größer als die Summe, die Summe unserer Teile.

Seit er als Kind in der Zuflucht gewesen war, war dieser Traum zu ihm gekommen. Ein Traum von einer längst verschwundenen Welt und eine Stimme, die in ihm sang. In gewisser Hinsicht war es ein Traum wie jeder andere, ein Traum aus Tönen und Licht und Empfindungen. Ein Traum von der dicken Frau in ihrer Küche, aus deren Mund Rauch kam. Die Frau, wie sie Essen in die weite, weiche Höhle ihres Mundes schob, wie sie in ihr Telefon sprach, ein wunderliches Ding mit einer langen, schlangenhaften Schnur, wo man hier hineinsprach und dort hörte. Irgendwie wusste er, was dieses Ding war, dass es ein Telefon war, und so hatte Sanjay allmählich begriffen, dass es nicht einfach ein Traum war, den er träumte. Es war eine Vision. Eine Vision der Zeit Davor. Und die Stimme in ihm sang ihren geheimnisvollen Namen: Ich bin Babcock.

Ich bin Babcock. Wir sind Babcock.

Babcock. Babcock. Babcock.

Er hatte in Babcock damals einen imaginären Freund gesehen – nicht anders eigentlich als in einem Spiel der Fantasie. Aber das Spiel hörte nicht auf. Babcock war immer bei ihm, im Großen Saal und im Hof, beim Essen und wenn er abends ins Bett ging. Was in diesem Traum passierte, fühlte sich nicht anders an als in allen anderen Träumen, die er hatte. Es waren die üblichen Dinge, albern und kindisch: in der Badewanne sitzen, auf den Autoreifen spielen, ein Eichhörnchen beobachten, das Nüsse fraß. Manchmal träumte er so etwas, und manchmal träumte er von der dicken Frau in der Zeit Davor, und das alles war ohne Sinn und Verstand.

Er erinnerte sich an einen Tag vor langer Zeit, als sie im Kreis im Großen Saal gesessen hatten und die Lehrerin gesagt hatte: Sprechen wir darüber, was es bedeutet, ein Freund zu sein. Die Kinder hatten gerade zu Mittag gegessen, und er war erfüllt von dem warmen, schläfrigen Gefühl, das danach kam. Die anderen Kleinen lachten und alberten herum, aber er nicht; er war nicht so, er tat, was man ihm sagte, und als die Lehrerin in die Hände klatschte, um sie zur Ruhe zu bringen, hatte sie ihn angesehen, weil er als Einziger so brav war. Ihr gütiges Gesicht versprach, dass sie ihm jetzt ein Geschenk machen würde, das wunderbare Geschenk ihrer Aufmerksamkeit, und dann sagte sie: Erzähl uns, kleiner Sanjay, wer sind deine Freunde?

»Babcock«, antwortete er.

Er musste nicht lange nachdenken. Das Wort war ganz von allein aus seinem Mund gekommen. Sofort erkannte er, wie groß der Fehler gewesen war, diesen geheimen Namen auszusprechen: Als er ungeschützt in der Luft hing, schien er zu welken, zu schrumpfen. Die Lehrerin runzelte ratlos die Stirn. Das Wort sagte ihr nichts. Babcock?, wiederholte sie. Hatte sie richtig gehört? In diesem Augenblick begriff Sanjay, dass nicht alle wussten, wer es war. Natürlich nicht. Wie kam er darauf, dass sie es wussten? Babcock war etwas Besonderes, etwas, das ihm allein gehörte, und dass er den Namen so gedankenlos ausgesprochen hatte, nur weil er gefällig und brav sein wollte, war ein Fehler gewesen. Mehr als ein Fehler: eine Entweihung. Indem er den Namen aussprach, hatte er ihm seine Besonderheit genommen. Wer ist Babcock, kleiner Sanjay? In der furchtbaren Stille, die jetzt eintrat – alle Kinder waren verstummt, gebannt von diesem fremdartigen Wort –, hörte er jemanden kichern. In seiner Erinnerung war es Demo Jaxon, den er schon damals gehasst hatte. Aber dann kicherte noch einer und noch einer, und das spöttische Gelächter wanderte im Kreis der Kinder herum wie die Funken um ein Feuer. Demo Jaxon – natürlich war er es gewesen. Sanjay kam auch aus einer Ersten Familie, aber Demo mit seinem lockeren Lächeln und seiner Beliebtheit benahm sich, als gebe es noch eine zweite, vornehmere Kategorie, die Ersten der Ersten, und zu denen gehöre niemand außer ihm, Demo Jaxon.

Am meisten kränkte ihn jedoch Raj. Der kleine Raj, zwei Jahre jünger als Sanjay, hätte ihn respektieren und den Mund halten sollen, aber auch er lachte mit. Er saß im Schneidersitz links neben Sanjay – wenn Sanjay auf sechs Uhr und Demo auf dem Mittag saß, war Raj irgendwo im Vormittag –, und Sanjay sah entsetzt, wie sein kleiner Bruder Demo einen kurzen, fragenden Blick zuwarf und seinen Beifall suchte. Siehst du?, fragte sein Blick. Siehst du, dass ich mich auch über Sanjay lustig machen kann? Die Lehrerin klatschte wieder in die Hände und versuchte, sie zur Ordnung zu rufen. Sanjay wusste, wenn er nicht schnell reagierte, würde ihn diese Sache in alle Ewigkeit verfolgen. Immer würde der schrille Chor ihres Gelächters in den Ohren gellen – beim Essen, nach dem Löschen des Lichts, im Hof, wenn die Lehrerin ihnen den Rücken zugedreht hätte. Babcock! Babcock! Babcock! Wie ein unanständiges Wort oder Schlimmeres. Sanjay hat einen kleinen Babcock!

Er wusste, was er sagen musste.

»Verzeihung, Lehrerin. Ich meinte Demo. Demo ist mein Freund.« Er schenkte dem kleinen Jungen, der ihm gegenübersaß, sein ernsthaftestes Lächeln, diesem Jungen mit dem dunklen Haarschopf – Jaxon-Haar –, den perlweißen Zähnen und dem rastlos umherwandernden Blick. Wenn Raj es konnte, konnte er es auch. »Demo Jaxon ist mein allerbester Freund.«

Seltsam, dass er sich jetzt, so viele Jahre später, an diesen Tag erinnerte. Demo Jaxon, spurlos verschwunden, und Willem, und auch Raj. Die Hälfte der Kinder, die an jenem Nachmittag im Kreis gesessen hatten, waren inzwischen tot oder befallen. Die Dunkle Nacht hatte die meisten geholt, und die Übrigen waren auf ihre Weise verschwunden, jeder zu seiner Zeit. Es war wie ein langsames Nagen, ein Gefressenwerden. So war das Leben, so fühlte es sich an. So viele Jahre waren seitdem vergangen – das Verstreichen der Zeit an sich war schon so etwas wie ein Wunder –, und Babcock war stets bei ihm gewesen. Wie eine leise drängende Stimme in ihm, die ihm ein Freund war, wenn andere es nicht sein konnten, auch wenn sie nicht immer in Worten redete. Babcock war sein Gefühl für die Welt. Seit dem Tag in der Zuflucht hatte er nie wieder von ihm gesprochen.

Tatsächlich war es nach und nach noch einmal zu etwas anderem geworden, dieses Gefühl von Babcock, und auch die Träume hatten sich verändert. Nicht der mit der dicken Frau aus der Zeit Davor, den er ab und zu immer noch träumte. (Und wenn er es sich überlegte – was hatte er eigentlich im Lichthaus gewollt, in jener seltsamen Nacht? Er wusste es nicht mehr.) Es ging nicht mehr um die Vergangenheit, sondern um die Zukunft und um seinen Platz, um Sanjays Platz in dem Neuen, das sich darin entfaltete. Etwas würde geschehen, etwas Großes. Er wusste nicht genau, was. Die Kolonie konnte nicht ewig bestehen, da hatte Demo recht gehabt, und Joe Fisher auch. Irgendwann würde das Licht ausgehen. Sie lebten von geborgter Zeit. Die Army war fort, tot, und sie würde nie mehr kommen. Ein paar Leute klammerten sich noch immer an diesen Gedanken, aber nicht er, nicht Sanjay Patal. Nein – was immer da kommen würde, die Army war es nicht.

Natürlich wusste er von den Gewehren. Die Gewehre waren kein richtiges Geheimnis. Demos Gewehre, aus dem Bunker der Army. Nicht Raj hatte ihm davon berichtet. Damit hatte Sanjay auch gar nicht gerechnet, aber dass sein Bruder mit Demo gemeinsame Sache machte, kränkte ihn. Raj hatte Mimi von dem Versteck erzählt und die hatte es Gloria weitererzählt. Mimi, Rajs schwatzhafte Frau, konnte ein Geheimnis nicht länger als fünf Sekunden für sich behalten; sie war schließlich eine Ramirez. Und Gloria hatte sich eines Morgens beim Frühstück verplappert, in den Tagen, nachdem Demo Jaxon völlig unbewaffnet zum Tor hinausgeschlüpft war. Ich weiß nicht genau, ob du davon wissen sollst, hatte sie gesagt.

Zwölf Kisten, hatte sie mit vertraulich gesenkter Stimme erzählt, mit dem ganzen Ernst einer eifrigen Schülerin. Unten im Kraftwerk, hinter einer verschiebbaren Wand. Blitzblanke neue Gewehre, Army-Gewehre aus einem Bunker, den Demo und Raj und die andern gefunden hatten. War das wichtig?, hatte Gloria wissen wollen. War es richtig gewesen, dass sie es ihm erzählte? Aber ihre Bangigkeit war nur gespielt. Ihre Stimme sagte das eine, doch in ihren Augen hatte er die Wahrheit gesehen. Sie wusste, was diese Gewehre bedeuteten. Ja, hatte er gesagt und gleichmütig genickt. Ja, ich glaube, es könnte wichtig sein. Ich glaube, am besten behalten wir es für uns. Danke, Gloria, dass du es mir gesagt hast.

Sanjay bildete sich nicht ein, er sei der Einzige. Er war an jenem Morgen geradewegs zu Mimi gegangen und hatte ihr unmissverständlich verboten, irgendjemandem davon zu erzählen. Aber ein solches Geheimnis zu bewahren, war unmöglich. Zander musste Bescheid wissen. Das Kraftwerk war sein Reich. Wahrscheinlich war auch Old Chou informiert, denn Demo hatte ihm immer alles erzählt. Dass Soo davon wusste, glaubte er nicht, und auch nicht Jimmy oder Dana, Willems Tochter. Sanjay hatte ihnen vorsichtig auf den Zahn gefühlt und nichts Verräterisches entdecken können. Aber sicher gab es noch andere. Theo Jaxon zum Beispiel – und wem konnte der es anvertraut haben? Wem hatten diese Leute – ganz im Vertrauen, wie Gloria beim Frühstück – zugeflüstert: »Ich muss dir ein Geheimnis verraten«? Die Frage war also nicht, ob die Gewehre zum Vorschein kommen würden, sondern nur, wann und unter welchen Umständen. Und die zweite Frage – er hatte seine Lektion in der Zuflucht gelernt – lautete: Wer war wessen Freund?

Deshalb hatte er gewollt, dass Mausami mit dem Wachdienst aufhörte, sich von Theo Jaxon fernhielt.

Sanjay wusste es seit dem Tag ihrer Geburt: Sie war der Grund für alles. Natürlich gab es Zeiten – noch bis heute –, da wünschte sich Sanjay einen Sohn. Er spürte, dass es sein Leben vollkommen gemacht hätte. Aber Gloria war einfach nicht fähig gewesen, ihm einen Sohn zu schenken: die üblichen Fehlgeburten und falschen Alarme, und irgendwann war ihre Blutung versiegt. Mausami war nach einer Schwangerschaft zur Welt gekommen, in deren Verlauf sich noch einmal eine Katastrophe anzubahnen schien. Gloria hatte ständig geblutet, und die qualvolle, zwei Tage dauernde Entbindung war Sanjay, der im Vorzimmer des Krankenreviers ihrem verzweifelten Stöhnen hatte lauschen müssen, wie eine Tortur erschienen, die kein Mensch überstehen konnte.

Doch Gloria hatte es geschafft. Ausgerechnet Prudence Jaxon war es gewesen, die ihm seine Tochter herausbrachte. Er hatte dagesessen, den Kopf in den Händen vergraben, völlig leer nach dem stundenlangen Warten und den furchtbaren Lauten aus dem Entbindungszimmer. Er hatte sich inzwischen schon damit abgefunden, dass das Kind sterben würde und Gloria mit ihm, und dass er allein zurückbleiben würde. So nahm er das in Windeln gewickelte Bündel völlig verständnislos in Empfang, und im ersten Moment glaubte er, Prudence reiche ihm sein totes Kind. Es ist ein Mädchen, hatte Prudence gesagt, ein gesundes Mädchen. Selbst da hatte es noch einen Augenblick gedauert, bis der Gedanke zu ihm durchgedrungen war, bis er diese Worte mit dem seltsamen neuen Etwas in seinen Armen verband. Du hast eine Tochter, Sanjay. Und als er das Wickeltuch zur Seite schob und ihr Gesicht sah, so verblüffend in seiner Menschlichkeit, den winzigen Mund, das schwarze Flaumhaar und die sanften, vorquellenden Augen, da wusste er, dass das, was er jetzt empfand, zum ersten und einzigen Mal in seinem Leben Liebe war.

Und dann hätte er sie beinahe verloren. Eine bittere Ironie des Schicksals, dass sie sich mit Theo Jaxon einlassen musste, mit dem Sohn, der seinem Vater so ähnlich war. Mausami hatte es vor ihm und auch vor Gloria zu verheimlichen versucht. Aber Sanjay sah, was da im Gange war. Er hatte schon damit gerechnet, dass sie Theo heiraten wollte, und es deshalb wie eine Rettung empfunden, als Gloria ihm die Neuigkeit erzählte: Galen Strauss, nach all dem! Nicht dass Galen der Mann gewesen wäre, den er für seine Tochter ausgesucht hätte. Durchaus nicht. Er hätte einen robusteren Mann vorgezogen, einen wie Hollis Wilson oder Ben Chou. Aber Galen war nicht Theo Jaxon, und darauf kam es an. Er hatte nichts mit den Jaxons gemein, und es war für jeden offensichtlich, dass er Mausami liebte. Wenn diese Liebe im Kern ein Element von Schwäche, ja, von Verzweiflung enthielt, konnte Sanjay das in Kauf nehmen.

Das alles ging ihm durch den Kopf, als er jetzt am Halbtag auf der Krankenstation stand und das Mädchen betrachtete. Dieses Mädchen von Nirgendwo. Es war, als seien die einzelnen Stränge seines Lebens, Mausami und Babcock und Gloria und die Gewehre und alles andere, in dieser unfassbaren Person zusammengeflochten, in dem Geheimnis, das sie verkörperte.

Sie schien zu schlafen. Jedenfalls sah es aus, als schlafe sie. Sanjay hatte Sara mit Jimmy in den Vorraum verbannt, und Ben und Galen bewachten draußen die Tür. Warum er das veranlasst hatte, hätte er nicht genau sagen können, aber etwas in ihm wollte, dass er dieses Mädchen allein in Augenschein nahm. Sie war offensichtlich schwer verletzt, und nach allem, was Sara gesagt hatte, nahm Sanjay nicht an, dass sie überleben würde. Aber als sie jetzt mit geschlossenen Augen und ganz still vor ihm lag, langsam und ruhig atmend und ohne dass ihr Gesicht eine Spur von Kampf oder Not erkennen ließ, konnte er sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie widerstandsfähiger war, als sie aussah. Eine solche Verwundung durch den Armbrustbolzen eines Wächters hätte einen erwachsenen Mann umgebracht, ganz zu schweigen von einem Mädchen in ihrem Alter … sechzehn? Dreizehn? Jünger oder älter? Sara hatte sie gewaschen, so gut sie konnte, und ihr etwas angezogen, ein Baumwollhemd, das vorn zu öffnen war. Der nicht eben feine Stoff war nach jahrelangem Waschen zu einem winterlichen Grau verschlissen. Nur der rechte Ärmel war ausgefüllt; der linke hing verstörend leer herunter, als enthalte er ein unsichtbares Glied. Das Hemd war offen, und er sah den dicken Wollverband um ihre Brust und die linke Schulter, der bis zum Ansatz ihres hellweißen Halses reichte. Sie hatte nicht den Körper einer Frau, das konnte er deutlich sehen. Hüften und Brust waren schmal wie bei einem Jungen, und ihre Beine, die unter dem Saum des Hemdes hervorragten, waren fohlenhaft schlank, die Knie knochig wie bei einem Kind. Es war erstaunlich, dass an solchen Knien nicht die eine oder andere Narbe zu sehen war, die Spuren eines kleinen Unglücks – eines Sturzes von der Schaukel oder einer Spielplatzrauferei.

Und ihre Haut, dachte Sanjay, als sein Blick an ihr heraufwanderte und sie noch einmal ganz betrachtete, ihre Knie, ihre Arme und schließlich ihr Gesicht. Nicht weiß, nicht blass – diese beiden Worte waren keine angemessene Beschreibung des Strahlens, das von ihr ausging. Als habe die Helligkeit ihrer Haut nichts mit fehlenden Pigmenten zu tun, sondern komme von woanders her. Ein inneres Strahlen. Er konnte eine leichte Bräune entdecken, wo die Sonne sie berührt hatte, an Händen, Armen und Gesicht, und einen Streifen von verblassten Sommersprossen, der sich quer über ihre Wangen und die Nase zog. Sie waren es, die in ihm ein Gefühl von väterlicher Zärtlichkeit weckten, ihn an früher erinnerten: Mausami hatte als Kind genau solche Sommersprossen gehabt.

Die Kleidung und der Rucksack des Mädchens waren verbrannt worden, aber vorher hatte der Haushalt mit dicken Handschuhen den ärmlichen, blutgetränkten Inhalt untersucht. Sanjay wusste nicht, was er erwartet hatte – jedenfalls nicht das, was er gefunden hatte. Der Rucksack selbst war aus gewöhnlichem grünem Segeltuch. Vielleicht Militärgepäck, wer weiß? Ein paar Gegenstände waren nach allgemeiner Ansicht wirklich nützlich – ein Taschenmesser, ein Büchsenöffner, ein dickes Bindfadenknäuel –, aber das meiste wirkte bunt zusammengewürfelt. Es war nicht zu erkennen, was das alles bedeutete: ein überraschend runder, glatter Stein, ein sonnengebleichtes Stück von einem Knochen, eine Halskette mit einem aufklappbaren, aber leeren Medaillon, ein Buch mit dem mysteriösen Titel Charles Dickens’ Weihnachtsgeschichte, Illustrierte Ausgabe. Der Bolzen war mitten hindurchgefahren und hatte das Buch aufgespießt; die Seiten waren aufgequollen vom Blut des Mädchens. Old Chou hatte sich erinnert, dass Weihnachten in der Zeit Davor ein Fest gewesen war, vergleichbar mit der Ersten Nacht. Aber Genaues wusste niemand.

So konnte nur das Mädchen selbst seine Geschichte erzählen. Dieses Mädchen von Nirgendwo in seiner Kapsel des Schweigens. Was ihr Auftauchen bedeutete, lag auf der Hand: Da draußen lebte noch jemand. Wer und wo diese Leute auch sein mochten, sie hatten eine der Ihren in die Wildnis hinausgetrieben, ein wehrloses Mädchen, das irgendwie den Weg hierhergefunden hatte. Das hätte eigentlich eine gute Nachricht sein müssen, fand Sanjay, als er darüber nachdachte, ein Grund zum Feiern. Und doch hatte ihre Ankunft nichts als beklommenes Schweigen hervorgerufen. Nicht ein einziges Mal hatte er jemanden sagen hören: Wir sind nicht allein. Das bedeutet es. Es gibt doch andere da draußen.

Es war wegen der Lehrerin, dachte er. Nicht, weil die Lehrerin tot war, obwohl das sicher auch eine Rolle spielte. Es lag an dem, was sie sagte, wenn man aus der Zuflucht entlassen wurde. Wenn die Leute daran zurückdachten und die Geschichte von ihrer Entlassung erzählten, taten sie es meist mit einem Lachen ab. Unfassbar, was für ein Theater ich gemacht habe, sagten sie dann alle. Ihr hättet sehen sollen, wie ich geheult habe! Als sprächen sie nicht von ihrem eigenen kindlichen Ich, von unschuldigen Wesen, denen man Mitgefühl und Verständnis entgegenbringen sollte, sondern von jemand ganz anderem, weit entfernt und ein bisschen lächerlich. Und es stimmte: Wenn man erst einmal wusste, dass die Welt ein Ort war, wo der Tod wütete, dann kam einem das Kind, das man gewesen war, fremd vor. Es hatte ihm in der Seele wehgetan, als er Mausamis enttäuschtes Gesicht gesehen hatte, wie sie aus der Zuflucht kam. Manche Leute kamen nie darüber weg, aber die meisten schafften es irgendwie, weiterzumachen. Man fand eine Möglichkeit, die Hoffnung nicht ganz aufzugeben, sie in eine Flasche zu füllen und irgendwo auf ein Regal zu stellen und die Pflichten des Lebens zu erfüllen. Sanjay selbst hatte es getan, Gloria und auch Mausami – sie alle.

Aber jetzt war dieses Mädchen da. Alles an ihr war ein Schlag ins Gesicht der Tatsachen. Dass jemand – zumal ein schutzloses Kind – plötzlich auftauchte, war so fundamental verstörend wie Schneefall mitten im Sommer. Sanjay hatte es in den Augen der andern gesehen, bei Old Chou und Walter Fisher und Soo und Jimmy und dem ganzen Rest. Es war falsch. Es passte nicht. Hoffnung war etwas, das Schmerzen bereitete, und so war es mit diesem Mädchen. Eine schmerzhafte Sorte Hoffnung.

Er räusperte sich – wie lange hatte er dagestanden und sie angeschaut? –, dann sprach er sie an.

»Wach auf.«

Keine Reaktion. Aber ihm war, als sehe er hinter ihren geschlossenen Lidern etwas aufflackern. Er sprach noch einmal, lauter jetzt.

»Wenn du mich hören kannst, wach auf.«

Ein Geräusch hinter ihm unterbrach ihn. Sara kam durch den Vorhang, gefolgt von Jimmy.

»Bitte, Sanjay. Lass sie schlafen.«

»Diese Frau ist eine Gefangene, Sara. Es gibt Dinge, die wir wissen müssen.«

»Sie ist keine Gefangene, sie ist eine Patientin.«

Er schaute wieder auf das Mädchen hinunter. »Sie sieht nicht aus, als läge sie im Sterben.«

»Ich weiß nicht, ob sie stirbt oder nicht. Es ist ein Wunder, dass sie noch lebt, bei dem Blutverlust. Gehst du jetzt bitte hinaus? Ich weiß nicht, wie ich den Laden hier sauber halten soll, wenn ihr alle hier durchmarschiert.«

Sanjay sah, wie abgekämpft die Frau war. Ihr Haar war verschwitzt und zerzaust, ihre Augen glasig vor Erschöpfung. Es war für alle eine lange Nacht gewesen, und der Tag hatte noch länger gedauert. Trotzdem lag Autorität in ihrem Blick: Hier bestimmte sie die Regeln.

»Und du sagst mir Bescheid, wenn sie aufwacht?«

»Ja. Das weißt du doch.«

Sanjay wandte sich an Jimmy, der vor dem Vorhang stand. »Okay, Jimmy. Wir gehen.«

Aber der Mann reagierte nicht. Er schaute – nein, er starrte das Mädchen an.

»Jimmy?«

Jetzt erst riss er sich von ihr los. »Was hast du gesagt?«

»Ich habe gesagt, wir gehen. Wir lassen Sara arbeiten.«

Jimmy schüttelte verwundert den Kopf. »Entschuldige. Ich glaube, ich war einen Moment lang abwesend.«

»Du solltest ein bisschen schlafen«, stellte Sara fest. »Du auch, Sanjay.«

Sie gingen hinaus auf die Veranda, wo Ben und Galen Wache standen. Die beiden schwitzten in der Hitze. Anfangs hatten sich hier Neugierige versammelt, die unbedingt einen Blick auf den Walker werfen wollten, aber Ben und Galen hatten sie wieder weggeschickt. Es war schon nach Halbtag, und nur wenige Leute waren unterwegs. Gegenüber sah Sanjay einen Arbeitstrupp, der mit Masken, schweren Stiefeln und Eimern unterwegs zur Zuflucht war, um den Schlafsaal noch einmal sauber zu schrubben.

»Ich weiß nicht, was es ist«, sagte Jimmy. »Aber irgendetwas an diesem Mädchen … Hast du ihre Augen gesehen?«

Sanjay war verblüfft. »Ihre Augen waren geschlossen, Jimmy.«

Jimmy starrte auf den Boden, als habe er etwas verloren und könne es nicht wiederfinden. »Wenn ich’s mir recht überlege … ja, kann sein, dass sie wirklich geschlossen waren«, sagte er. »Aber wie komme ich dann darauf, dass sie mich angesehen hat?«

Sanjay schwieg. Die Frage ergab keinen Sinn. Trotzdem war etwas an dem, was Jimmy da sagte. Als Sanjay das Mädchen angeschaut hatte, hatte ihn das deutliche Gefühl beschlichen, beobachtet zu werden. Er sah zu Galen und Ben hinüber. »Weiß einer von euch beiden, wovon der Kerl da redet?«

Ben zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Vielleicht steht sie auf dich, Jimmy.«

Jimmy fuhr herum. In seinem schweißnassen Gesicht lag tatsächlich Panik. »Hört auf mit den Witzen! Geht doch rein und seht selbst, was ich meine. Es ist unheimlich, ich sag’s euch.«

Ben warf einen kurzen Blick zu Galen hinüber, aber der zuckte nur hilflos die Achseln. »Himmel noch mal«, sagte Ben, »es war nur ein Scherz. Wieso regst du dich auf?«

»Es war nicht lustig, verdammt. Und was hast du zu grinsen, Galen?«

»Ich? Ich habe doch gar nichts gesagt.«

Sanjay platzte der Kragen. »Das reicht, ihr drei. Und Jimmy – niemand betritt dieses Gebäude. Verstanden?«

Jimmy nickte zerknirscht. »Ja. Alles klar.«

»Ich mein’s ernst. Egal, wer es ist.«

Sanjay starrte Jimmy durchdringend an. Der Mann war keine Soo Ramirez, das stand fest, und er war auch keine Alicia. Sanjay fragte sich, ob er ihn möglicherweise gerade deshalb für diesen Job auserwählt hatte.

»Was sollen wir mit Hightop anfangen?«, fragte Jimmy. »Ich meine, wir schmeißen ihn doch nicht wirklich raus, oder?«

Der Junge, dachte Sanjay müde. Caleb Jones war plötzlich der Letzte, über den er sich den Kopf zerbrechen wollte. Caleb hatte den ersten Stunden der Krise die Klarheit verliehen, die sie erforderte: Die Leute brauchten etwas oder jemanden als Zielscheibe für ihren Zorn. Aber bei Licht betrachtet erschien es einfach nur grausam, den Jungen auszusetzen – eine sinnlose Geste, die alle später bereuen würden. Und der Junge hatte wirklich Mut. Als die Anklage verlesen wurde, hatte er vor dem Haushalt gestanden und ohne Zögern die ganze Schuld auf sich genommen. Manchmal entdeckte man Mut bei den seltsamsten Leuten, und Sanjay hatte ihn bei dem Schrauber namens Caleb Jones gefunden.

»Haltet ihn einfach weiter unter Bewachung.«

»Und was ist mit Sam Chou?«

»Was soll mit ihm sein?«

Jimmy zögerte. »Die Leute reden, Sanjay. Sam und Milo und ein paar andere. Sie wollen ihn aussetzen.«

»Wo hast du das gehört?«

»Ich gar nicht. Galen hat es gehört.«

»Ich habe es gehört«, erklärte Galen. »Genau gesagt, Kip hat es mir erzählt. Er war zu Hause bei seiner Familie und hat gehört, wie ein paar von ihnen darüber sprachen.«

Kip war ein Läufer, Milos ältester Sohn. »Und? Was hat er gehört?«

Galen zuckte unsicher die Achseln, als wolle er sich von seiner eigenen Geschichte distanzieren. »Dass Sam sagt, wenn wir ihn nicht vor die Mauer setzen, wird er es tun.«

Das hätte er kommen sehen müssen, dachte Sanjay. Es war das Letzte, was er gebrauchen konnte: dass die Leute die Sache selbst in die Hand nahmen. Aber Sam Chou … so hitzig loszustürmen, passte nicht zu diesem Mann, der so sanft war wie nur irgendjemand, den Sanjay je gekannt hatte. Sam war verantwortlich für die Treibhäuser, eine Aufgabe, die schon immer von einem Chou übernommen worden war, und angeblich umgluckte er die Erbsen, Möhren und Salatpflanzen auf seinen Beeten, als wären es Haustiere. Vermutlich hatte es mit all seinen Kindern zu tun – jedes Mal, wenn Sanjay sich umdrehte, reichte Sam seinen Schnaps zur Feier des freudigen Ereignisses herum, und die Andere Sandy war schon wieder schwanger.

»Ben, er ist dein Cousin. Weißt du etwas darüber?«

»Woher sollte ich? Ich war den ganzen Morgen hier.«

Sanjay befahl ihnen, die Wache am Gefängnis zu verdoppeln, und machte sich davon. Es war wirklich verdammt still, dachte er. Nicht einmal die Vögel sangen. Er musste wieder daran denken, wie er das Mädchen angeschaut und dabei das Gefühl gehabt hatte, dass sie ihn sah. Als durchforsche ihr Geist hinter dem süßen Gesicht – und sie hatte in der Tat etwas Süßes an sich, fand er, eine babyhafte Süße, die ihn an Mausami erinnerte, wie sie als kleines Kind im Schlafsaal in ihr Bettchen kletterte und darauf wartete, dass Sanjay sich über sie beugte und ihr einen Gutenachtkuss gab –, als durchforsche ihr Geist, der Geist dieses Mädchens, hinter den Augenlidern, den Vorhängen aus zarter Haut, den Raum. Jimmy irrte sich nicht; sie hatte etwas an sich. Etwas war mit ihren Augen.

»Sanjay?«

Er merkte, dass seine Gedanken wegdrifteten und ihn davontrugen wie eine Strömung. Er drehte sich um und sah Jimmy auf der obersten Stufe. Mit zusammengekniffenen Augen stand er erwartungsvoll vorgebeugt da, und die Worte einer noch unausgesprochenen Erklärung stockten auf seinen Lippen.

»Was ist?« Sanjay hatte plötzlich eine trockene Kehle. »Was ist los?«

Jimmy öffnete den Mund, aber er brachte kein Wort heraus.

»Nichts weiter«, sage er schließlich. »Sara hat recht. Ich könnte wirklich ein bisschen Schlaf gebrauchen.«

Passage Trilogie Bd. 1 - Der Übergang
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