14

Es ging schnell. Zweiunddreißig Minuten, in denen eine Welt zu Ende ging und eine neue geboren wurde.

»Was haben Sie da gesagt?«, fragte Richards, und dann hörte er – sie beide hörten – den Alarm. Den Alarm, der niemals, niemals ertönen sollte: ein mächtiges, atonales Brummen, das auf dem freien Gelände hin und her hallte und von überall zugleich zu kommen schien.

Sicherheitsstörung im Probandentrakt auf Ebene vier.

Richards drehte sich um und schaute zum Chalet hinüber. Kurzentschlossen fuhr er wieder herum und richtete die Pistole dahin, wo Doyle gerade noch gestanden hatte.

Doyle war verschwunden.

Verdammt, dachte er, und dann sprach er es aus: »Verdammt!« Jetzt waren zwei außer Kontrolle. Rasch ließ er den Blick über den Parkplatz wandern und hoffte auf eine Schussgelegenheit. Überall strahlten Scheinwerfer auf und überfluteten das Gelände mit künstlichem grellem Licht. Rufe hallten von den Baracken herüber, und Soldaten näherten sich im Laufschritt.

Er hatte keine Zeit, sich jetzt um Doyle zu kümmern.

Er rannte die Stufen zum Chalet hinauf, vorbei an dem Wachtposten, der ihm etwas zubrüllte – etwas über den Aufzug –, und nahm die Treppe zur Ebene zwei. Seine Füße berührten kaum die Stufen. Die Tür zu seinem Büro stand offen, und sofort ging sein Blick zu den Monitoren.

Zeros Zelle war leer.

Babcocks Zelle war leer.

Sämtliche Zellen waren leer.

Er drückte auf den Knopf für die allgemeine Sprechanlage. »Posten Ebene vier, hier Richards. Berichten Sie.«

Nichts. Kein Wort.

»Hauptlabor, berichten Sie. Kann mir jemand sagen, was da unten los ist, verdammt?«

Dann hörte er eine verängstigte Stimme. Fortes? »Sie haben sie rausgelassen!«

»Wer? Wer hat sie rausgelassen?«

Lautes Rauschen, und dann hörte Richards die ersten Schreie aus dem Lautsprecher, Schüsse und weitere Schreie. So schrien Männer, wenn sie starben.

»Heilige Scheiße!« Wiederum Rauschen. »Sie sind alle frei hier unten! Die verdammten Schrubber haben sie alle rausgelassen!«

Sofort schaltete Richards auf den Monitor für den Wachtposten auf Ebene drei. Ein großflächiges Gemälde aus Blut bedeckte die Wand. Der Posten, Davis, lag zusammengesunken darunter, das Gesicht auf die Fliesen gepresst, als suche er seinen verlorenen Bodenkontakt. Ein zweiter Soldat kam ins Bild, und Richards erkannte Paulson. Er hielt eine .45er in der Hand. Die Aufzugtür hinter ihm war offen. Paulson schaute direkt in die Kamera, steckte die Waffe in das Halfter und nahm eine Handgranate aus der Tasche – und dann noch zwei. Mit den Zähnen zog er die Stifte heraus und rollte die Granaten in den Aufzug. Noch einmal schaute er Richards an. Richards sah seinen leeren Blick, als er die .45er an die Schläfe hob und abdrückte.

Richards drückte auf den Schalter, der die Ebene abriegelte, aber es war zu spät. Er hörte die Explosion, die durch den Aufzugschacht dröhnte, und dann ein zweites Krachen, als die Trümmer der Aufzugkabine unten aufschlugen. Dann gingen alle Lichter aus.

Zuerst wusste Wolgast nicht, was er da hörte. In Amys stiller Kammer ertönte der Alarm so plötzlich, so absolut fremdartig, dass er alle anderen Gedanken aus Wolgasts Kopf vertrieb. Er sprang von seinem Stuhl neben Amys Bett auf und stürzte zur Tür. Aber natürlich ließ sie sich nicht öffnen. Sie waren eingesperrt. Der Alarm hörte nicht auf. Brannte es irgendwo? Nein, dachte er durch das Getöse in seinen Ohren, es war etwas anderes, etwas Schlimmeres. Er sah zu der Kamera in der Ecke hinauf.

»Fortes! Sykes, verdammt! Macht die Tür auf!«

Dann hörte er das Rattern automatischer Gewehre, gedämpft durch die dicken Wände. Einen Augenblick lang dachte er hoffnungsvoll an Rettung. Aber das war natürlich unmöglich. Wer sollte sie retten?

Bevor er noch einen weiteren Gedanken fassen konnte, ertönte ein mächtiger, alles erschütternder Knall und ein schreckliches Donnern, das mit einem zweiten Knall endete, begleitet von einem tiefen, dröhnenden Vibrieren wie bei einem Erdbeben. Der Raum versank in Finsternis.

Wolgast erstarrte. Völlige Dunkelheit umgab ihn, jede Spur von Licht fehlte, und er verlor die Orientierung. Der Alarm war auch verstummt. Er verspürte einen blinden Drang zum Weglaufen, aber er konnte nirgends hin. Es war, als weite sich der Raum und ziehe sich gleichzeitig um ihn herum zusammen.

»Amy, wo bist du? Hilf mir, dich zu finden!«

Stille. Wolgast atmete tief durch und hielt die Luft an. »Amy, sag was. Sag irgendwas!«

Er hörte sie, hinter ihm, ein leises Stöhnen.

»So ist es gut.« Er drehte sich um, lauschte angestrengt, versuchte, Entfernung und Richtung zu ermessen. »Noch mal. Ich finde dich.«

Er konzentrierte sich. Die anfängliche Panik wich einer Art von Zielstrebigkeit, einem Gefühl für das, was jetzt zu tun war. Vorsichtig tat Wolgast einen Schritt auf ihre Stimme zu, dann noch einen. Ein zweites Stöhnen, kaum hörbar. Der Raum war klein, höchstens fünf Meter im Quadrat. Warum also schien Amy im Dunkeln so weit weg zu sein? Draußen wurde nicht mehr geschossen; er hörte überhaupt nichts mehr, nur Amys leises Atmen, das ihn rief.

Wolgast hatte das Fußende ihres Bettes gefunden und tastete sich an den Chromstahlstangen entlang, als die Notbeleuchtung anging: zwei Lichtstrahlen kamen aus den Ecken an der Decke über der Tür. Es war kaum hell genug, um etwas zu sehen, aber es genügte. Das Zimmer war unverändert; was immer draußen passierte, hatte sie noch nicht erreicht.

Er setzte sich an Amys Bett und fühlte nach ihrer Stirn. Immer noch warm – aber das Fieber war gesunken, und ihre Haut war ein bisschen feucht. Wegen des Stromausfalls war die Infusionspumpe stehen geblieben. Er überlegte, was er tun sollte, und beschloss, sie abzunehmen. Vielleicht war das falsch, doch er glaubte es nicht. Er hatte oft genug zugesehen, wie Fortes und die andern den Tropf auswechselten, um das Ritual zu kennen. Er drehte an der Klemme, stoppte den Durchfluss der Flüssigkeit und zog die lange Nadel aus dem Gummiventil am Ende der Kanüle, die in der Haut ihrer Hand steckte. Auch die Kanüle brauchte Amy nicht mehr; also zog er sie sanft heraus. Amy zuckte zusammen: ein gutes Zeichen. Der Einstich blutete nicht, aber um sicherzugehen, bedeckte er ihn mit einer Mullkompresse und klebte sie mit Pflaster vom Materialwagen fest. Dann wartete er.

Ein paar Minuten vergingen. Amy bewegte sich unruhig, als träume sie. Wolgast dachte plötzlich, wenn er ihren Traum sehen könnte, würde er irgendwie wissen, was draußen vor sich ging. Doch darauf kam es jetzt sowieso nicht mehr an. Sie waren tief unter der Erde, abgeriegelt von der Außenwelt. Ebenso gut hätte man sie in ein Grab sperren können.

Wolgast hatte schon fast aufgegeben, als er hinter sich das Zischen des Druckausgleichs hörte. Hoffnung flammte auf; endlich kam Hilfe. Die Tür hinter ihm öffnete sich, und die Silhouette eines Menschen war zu erkennen. Der Mann machte einen Schritt in den Raum hinein und wurde jetzt von den beiden Notleuchten angestrahlt. Er trug keinen Schutzanzug. Wolgast hatte ihn noch nie zuvor gesehen. Der Fremde hatte langes Haar, wild und zerzaust und von grauen Strähnen durchzogen, und einen ungepflegten, verfilzten Bart. Sein Laborkittel war zerknautscht und fleckig. Er blieb an Amys Bett stehen, vom Schreck gelähmt wie jemand, der Opfer eines Unfalls oder Zeuge einer schrecklichen Katastrophe geworden war. Wolgasts Anwesenheit hatte er noch mit keiner Regung zur Kenntnis genommen.

»Sie weiß es«, sprach er leise vor sich hin, den Blick auf Amy gerichtet. »Woher weiß sie es?«

»Wer sind Sie?«, fragte Wolgast. »Was ist hier los?«

Der Mann schien ihn noch immer nicht zu hören. Er strahlte etwas Unheimliches aus, eine überaus befremdliche Ruhe. »Es ist seltsam«, sagte er nach einer Weile und stieß einen tiefen Seufzer aus. Er fasste sich an den Bart, und dann ließ er den Blick über den nackten Raum schweifen. »Das alles. Ist es das … was ich wollte? Ich wollte, dass es einen gibt, wissen Sie. Als ich gesehen habe, als ich wusste, was sie vorhatten, wollte ich, dass es wenigstens einen gibt.«

»Einen was? Was ist mit Sykes passiert?«, fragte Wolgast.

Endlich schien der Fremde Notiz von ihm zu nehmen.

Er sah Wolgast erst prüfend, dann finster an. »Sykes? Oh, der ist tot. Ich glaube, alle sind tot. Meinen Sie nicht auch?«

»Inwiefern tot?«

»Tot, hinüber, zerfetzt höchstwahrscheinlich. Die, die Glück hatten, jedenfalls.« Er schüttelte ungläubig den Kopf, ganz langsam. »Das hätten Sie sehen sollen, wie die von den Bäumen runtergeschossen kamen. Wie Fledermäuse. So was hätten wir vorhersehen müssen.«

Wolgast verstand überhaupt nichts mehr. »Bitte. Ich habe keine Ahnung … wovon Sie reden.«

Der Fremde zuckte mit den Achseln. »Nun, Sie werden schon noch dahinterkommen. Früher, als Ihnen lieb ist. Tut mir leid.« Er sah Wolgast an. »Sie müssen mich entschuldigen, Agent Wolgast. Meine Manieren. Es ist schon eine Weile her bei mir. Ich bin Jonas Lear.« Er lächelte verzagt. »Der Leiter des Projekts. Oder auch nicht. Unter den gegebenen Umständen würde ich eher sagen, hier leitet niemand mehr etwas.«

Lear. Der Name sagte Wolgast nichts. »Ich habe eine Explosion gehört …«

»Ja, ganz recht«, unterbrach Lear ihn. »Das dürfte der Aufzug gewesen sein. Ich möchte annehmen, das war einer der Soldaten. Aber ich hatte mich in der Kühlkammer im Labor eingeschlossen, deshalb habe ich nichts davon mitgekriegt.« Lear seufzte schwer und sah sich noch einmal in dem kleinen Raum um. »Nicht gerade ein Augenblick grandiosen Heldentums, nicht wahr, Agent Wolgast? Dass ich mich in der Kühlkammer verkrochen habe? Wissen Sie, ich wünschte wirklich, es gäbe hier noch einen Stuhl. Ich würde mich gern hinsetzen. Ich weiß nicht, wie lange es her ist, dass ich gesessen habe.«

Wolgast sprang auf. »Nehmen Sie meinen. Herrgott, bitte sagen Sie mir, was los ist.«

Aber Lear schüttelte den Kopf. Sein fettiges Haar schwang hin und her. »Dazu ist keine Zeit, fürchte ich. Wir müssen gehen. Es ist alles vorbei, nicht wahr, Amy?« Er schaute auf die schlafende Gestalt hinunter und berührte sanft die verbundene Hand. »Endlich vorbei.«

»Was ist vorbei?«, fragte Wolgast verzweifelt.

Als Lear den Kopf hob, sah er, dass der Mann Tränen in den Augen hatte.

»Alles«, sagte er.

Lear führte sie den Korridor hinunter. Wolgast trug Amy auf dem Arm. Brandgeruch hing in der Luft, wie von geschmolzenem Plastik. Als sie um die Ecke vor dem Aufzug bogen, sah Wolgast die erste Leiche.

Es war Fortes. Viel war nicht von ihm übrig. Sein Körper sah verschmiert aus, als habe etwas Riesiges ihn niedergeschlagen und über den Boden geschleift. Blutpfützen glitzerten im flimmernden Licht der Notbeleuchtung. Ein Stück weiter lag noch einer. Es dauerte einen Moment, bis Wolgast begriff, dass es auch Fortes war, nur ein anderer Teil von ihm.

Amys Augen waren geschlossen, aber Wolgast drückte ihr Gesicht trotzdem an sich, damit sie nichts davon sah. Hinter Fortes lagen noch zwei weitere Leichen, vielleicht auch drei – er konnte es nicht erkennen. Der Boden war glitschig vom Blut; seine Füße rutschten darin aus, im Schleim menschlicher Überreste.

Der Aufzug war explodiert; an seiner Stelle klaffte nur noch ein Loch, erleuchtet von den sprühenden Funken zerrissener Stromkabel. Die schweren Stahltüren waren quer durch den Flur geschossen und hatten die gegenüberliegende Wand durchschlagen. Im schräg einfallenden Licht der Notbeleuchtung sah Wolgast noch zwei Tote: Soldaten, die von den Trümmern der Tür zerrissen worden waren. Ein Dritter lehnte an der Wand, saß da wie zur Siesta, aber er saß in seinem eigenen Blut. Sein Gesicht sah müde und welk aus, und die Uniform hing schlaff an seiner Gestalt, als sei sie ein paar Nummern zu groß.

Wolgast riss seinen Blick von ihm los. »Wie kommen wir hier raus?«

»Hier entlang«, sagte Lear. Der Nebel schien sich bei ihm gelichtet zu haben; er handelte jetzt mit drängender Zielstrebigkeit. »Schnell.«

Wieder ging es einen Korridor hinunter. Überall offene Türen – schwere Stahlabsperrungen wie die vor Amys Zimmer. Und auf dem Boden lagen noch mehr Leichen, doch Wolgast wollte – konnte – sie nicht mehr zählen. Die Wände waren von Einschusslöchern übersät, und überall lagen Patronenhülsen aus blinkendem Messing. Dann kam ein Mann aus einer Tür – besser gesagt, er stolperte heraus. Ein dicker, weicher Mann wie einer von denen, die Wolgast sein Essen gebracht hatten. Aber Wolgast kannte ihn nicht. Der Mann drückte die Hand auf einen tiefen Riss an seinem Hals, und das Blut floss zwischen seinen Fingern hindurch, wo sie sich in das Fleisch pressten. Sein Hemd, ein OP-Hemd, wie Wolgast es trug, war von einem glitzernden Latz aus Blut bedeckt.

»Hey«, sagte er. »Hey.« Er sah die drei an und schaute den Gang hinauf und hinunter. Das Blut schien er gar nicht zu bemerken, oder es kümmerte ihn nicht. »Was ist mit dem Licht passiert?«

Wolgast wusste nicht, was er sagen sollte. Mit der Wunde müsste der Mann eigentlich längst schon tot sein. Wolgast konnte es kaum fassen, dass der Kerl noch stehen konnte.

»Uhhh«, sagte der Mann und fing an zu wackeln. »Langsam. Ich muss mich hinsetzen.«

Schwerfällig sank er zu Boden; er sackte in sich zusammen wie ein Zelt ohne Stangen. Er atmete tief ein und schaute zu Wolgast auf. Sein Körper wurde von heftigen Zuckungen geschüttelt.

»Schlafe … ich?«

Wolgast antwortete nicht. Die Frage ergab keinen Sinn.

Lear legte Wolgast die Hand auf die Schulter. »Lassen Sie ihn. Wir haben keine Zeit.«

Der Mann leckte sich die Lippen. Er hatte so viel Blut verloren, dass er auszutrocknen begann. Seine Lider fingen an zu flattern, und seine Hände lagen schlaff wie leere Handschuhe neben ihm auf dem Boden.

»Denn ich sage Ihnen, ich hatte verdammt noch mal den übelsten Traum, den Sie sich denken können. Grey, hab ich zu mir gesagt, du hast den schlimmsten Alptraum der Welt.«

»Ich glaube, es war kein Traum«, sagte Wolgast.

Der Mann dachte darüber nach und schüttelte den Kopf. »Das hatte ich befürchtet.«

Er zuckte in einem heftigen Krampf zusammen, als habe ihn ein Stromschlag getroffen. Lear hatte recht. Man konnte nichts für ihn tun. Das Blut aus seinem Hals hatte sich blauschwarz verfärbt.

»Tut mir leid«, sagte er. »Wir müssen weiter.«

»Sie glauben, Ihnen tut’s leid«, sagte der Mann, und sein Kopf schlug gegen die Wand.

»Agent …«

Greys Gedanken waren anscheinend woanders. »Das war nicht bloß ich, wissen Sie«, sagte er und schloss die Augen. »Das waren wir alle.«

Sie hasteten weiter und gelangten in einen Raum mit Spinden und Bänken. Eine Sackgasse, dachte Wolgast, aber Lear nahm einen Schlüssel aus der Tasche und öffnete eine Tür mit der Aufschrift »Technik«.

Wolgast ging hindurch. Lear kniete am Boden und benutzte ein kleines Messer, um eine Metallluke in der Wand aufzustemmen. Sie klappte an einem Scharnier auf, und Wolgast beugte sich vor, um hindurchzuschauen. Die Öffnung war höchstens einen Quadratmeter groß.

»Geradeaus, ungefähr zehn Meter, und dann kommen sie an eine Stelle, wo ein Schacht senkrecht nach oben führt. Darin ist eine Leiter für Wartungsarbeiten. Sie geht bis zur Oberfläche.«

Mindestens fünfzehn Meter in pechschwarzer Dunkelheit mit Amy auf dem Arm eine Leiter hinauf. Wolgast wusste nicht, wie er das schaffen sollte.

»Es muss noch einen anderen Weg geben.«

Lear schüttelte den Kopf. »Es gibt keinen.«

Er nahm Amy, während Wolgast in den Gang hineinkroch. Im Sitzen und mit eingezogenem Kopf würde er Amy um die Taille fassen und mitziehen können. Er rutschte rückwärts hinein, bis er die Beine ausstrecken konnte, Lear legte Amy dazwischen. Sie schien jetzt am Rande des Bewusstseins zu schweben. Durch ihr dünnes Hemd spürte Wolgast noch immer die Wärme des Fiebers auf ihrer Haut.

»Denken Sie daran, was ich gesagt habe. Zehn Meter.«

Wolgast nickte.

»Sehen Sie sich vor.«

»Was hat diese Männer umgebracht?«

Aber Lear antwortete nicht. »Passen Sie gut auf sie auf«, sagte er nur.

Wolgast rutschte los; mit einem Arm umschlang er Amys Taille, mit dem andern zog er sich immer tiefer in den Schacht. Erst als die Klappe sich hinter ihm schloss, begriff er, dass Lear nie die Absicht gehabt hatte, mitzukommen.

Die Glühstäbe waren jetzt überall, im ganzen Chalet. Richards hörte die Schreie und die Schüsse. Er steckte ein paar Extra-Magazine aus seinem Schreibtisch ein und lief die Treppe hinauf zu Sykes Büro.

Das Zimmer war leer. Wo war Sykes?

Sie mussten einen Sicherheitsring bilden und die Glühstäbe darin einschließen. Mit erhobener Waffe verließ er Sykes’ Büro.

Etwas bewegte sich durch den Korridor.

Es war Sykes. Als Richards ihn erreichte, saß er auf dem Boden und lehnte an der Wand. Seine Brust hob und senkte sich wie die eines Kurzstreckenläufers, und sein Gesicht glänzte von Schweiß. Er umklammerte seinen Unterarm; aus einem breiten Riss direkt über dem Handgelenk strömte das Blut. Seine Pistole, eine .45er, lag neben der nach oben zeigenden Hand auf dem Boden.

»Sie sind überall«, sagte Sykes und schluckte. »Warum hat er mich nicht umgebracht? Der Schweinehund hat mir ins Gesicht gesehen.«

»Welcher war es?«

»Wen interessiert das, verdammt?« Sykes zuckte die Achseln. »Ihr Kumpel. Babcock. Was ist das mit euch beiden?« Ein Zittern ging durch seinen Körper. »Mir geht’s nicht gut«, sagte er und übergab sich.

Richards sprang zurück, aber nicht schnell genug. Der Geruch von Galle stieg herauf, und noch etwas anderes, etwas Elementares, Metallisches wie umgepflügte Erde. Richards spürte die Nässe durch Hose und Socken. Ohne Sykes anzusehen, wusste er, dass das Erbrochene mit Blut gemischt war.

»Fuck!«

Er richtete die Pistole auf Sykes.

»Bitte«, sagte Sykes, und er meinte, bitte ja, oder vielleicht, bitte nein, aber so oder so, dachte Richards, tat er ihm einen Gefallen, als er die Waffe auf Sykes’ Brust richtete, auf den idealen Punkt. Er drückte ab.

Lacey sah, wie der Erste aus einem der oberen Fenster kam. So schnell! Schnell wie das Licht! Wie würde ein Mensch sich bewegen, wenn er aus Licht wäre! Im Handumdrehen war er vorüber, schnellte sich vom Dach in die Höhe, flog über das Gelände hinweg und landete hundert Meter weiter in einer Baumgruppe. Ein mannsgroßer Blitz von pulsierender Leuchtkraft, kometengleich.

Sie hatte den Alarm gehört, als der Lastwagen auf das Gelände fuhr. Die beiden Männer vorn in der Kabine hatten kurz debattiert – sollten sie einfach wieder wegfahren? Lacey hatte den Augenblick genutzt, um hinten hinauszuspringen und geduckt in den Wald zu laufen. Dort hatte sie den Dämon gesehen, der aus dem Fenster geflogen kam. Die Baumwipfel, in denen er landete, fingen sein Gewicht erschauernd auf.

Lacey sah es kommen.

Der Fahrer ließ die Heckklappe des Lastwagens herunter. Artillerie, hatte der Posten gesagt: Gewehre? Der Laster war voller Gewehre.

Die Baumwipfel schwankten wieder. Ein grüner Streifen schoss auf den Mann herunter.

Oh!, dachte Lacey. Oh! Oh!

Dann kamen noch mehr aus dem Gebäude, flogen aus Fenstern und Türen und erhoben sich in die Höhe. Zehn, elf, zwölf. Und Soldaten überall, rennend, schreiend und schießend, aber ihre Kugeln bewirkten nichts; die Dämonen waren zu schnell, oder die Kugeln waren harmlos für sie. Die Dämonen fielen auf die Soldaten, und einer nach dem andern starb.

Deshalb war sie gekommen – um Amy vor den Dämonen zu retten.

Schnell, Lacey. Schnell.

Sie trat unter den Bäumen hervor.

»Halt!«

Lacey erstarrte. Sollte sie die Hände heben? Der Soldat kam aus dem Wald hinter ihr, wo er sich versteckt hatte. Ein guter Junge, der das tat, was er für seine Pflicht hielt. Bemühte sich, keine Angst zu haben, obwohl er natürlich welche hatte: Sie spürte, wie er sie in heißen Wellen ausstrahlte. Er wusste nicht, was mit ihm passieren würde. Sie empfand zärtliches Mitleid.

»Wer sind Sie?«

»Ich bin niemand«, sagte Lacey, und dann kam der Dämon auf ihn herab – bevor er auch nur seine Waffe heben, bevor er das Wort vollenden konnte, das er sprach, als er starb –, und Lacey rannte auf das Gebäude zu.

Wolgast schwitzte und keuchte, als sie unter dem senkrecht nach oben führenden Schacht angekommen waren. Ein matter Lichtschimmer fiel herab. Hoch oben sah er den Doppelstrahl einer Notbeleuchtung, und noch weiter darüber die unbewegten Blätter eines großen Ventilators. Der zentrale Belüftungsschacht.

»Amy, Kleines«, sagte er. »Amy, du musst aufwachen.«

Ihre Lider flatterten und schlossen sich wieder. Er schob ihre Arme um seinen Nacken und stand auf. Ihre Beine schlangen sich um seine Taille, aber er spürte, dass sie keine Kraft hatte.

»Du musst dich festhalten, Amy. Bitte. Du musst.«

Ihr Körper straffte sich, trotzdem würde er sie mit dem einen Arm halten müssen, und so hätte er nur eine Hand frei, um sich an der Leiter hinaufzuziehen. O Gott.

Er drehte sich zu der Leiter um und setzte den Fuß auf die erste Sprosse. Es war wie eine dieser Aufgaben in einem standardisierten Test. Brad Wolgast trägt ein kleines Mädchen auf dem Arm. In einem schlecht beleuchteten Belüftungsschacht muss er eine fünfzehn Meter hohe Leiter hinaufsteigen. Das Mädchen ist nur halb bei Bewusstsein. Wie kann Wolgast ihrer beider Leben retten?

Dann sah er, wie er es tun könnte. Sprosse für Sprosse würde er sich mit der rechten Hand hochziehen, dann den Ellenbogen dieser Hand um die Sprosse schlingen und Amys Gewicht auf dem Knie balancieren, um die Hände zu wechseln und die nächste Sprosse zu erreichen. Erst die linke, dann die rechte Hand, immer abwechselnd, und Amys Gewicht hin und her verlagern, Sprosse um Sprosse, bis sie oben wären.

Wie viel mochte sie wiegen? Fünfzig Pfund? Ein Gewicht, das im Augenblick des Händewechsels von der Kraft eines Armes getragen werden musste.

Wolgast begann zu klettern.

Richards hörte an den Schüssen und Schreien, dass die Glühstäbe jetzt draußen waren.

Er hatte gewusst, was mit Sykes vorging. Wahrscheinlich würde es mit ihm auch passieren, denn Sykes hatte ihm sein infiziertes Blut auf die Füße gekotzt. Er bezweifelte, dass er diese Sache bis zum Ende überleben würde. Hey, Cole, dachte er. Hey, Cole, du Ratte, du kleiner Scheißer. War es das, was du vorhattest? Ist das deine Pax Americana? Denn ich sehe hier nur eine Möglichkeit, wie das alles ausgehen kann.

Jetzt interessierte ihn nur noch eins: ein sauberer Abgang, und eine gute Show zum Schluss.

Der Vordereingang des Chalets war übersät mit Glasscherben und Einschusslöchern, und die Türen waren halb aus den Angeln gerissen und hingen schief herunter. Drei Soldaten lagen tot auf dem Boden; es sah aus, als seien sie im Chaos von den eigenen Leuten erschossen worden. Vielleicht hatten sie sich sogar absichtlich gegenseitig erledigt, damit es schneller ging. Richards hob seine Springfield und sah die Waffe an. Wieso dachte er, dass die Pistole ihm helfen würde? Die Gewehre der Soldaten würden auch nichts bringen. Er brauchte etwas Größeres. Die Waffenkammer war auf der anderen Seite des Geländes, hinter den Baracken. Er würde hinübersprinten müssen.

Er schaute zur Tür hinaus. Zumindest brannten draußen die Lichter noch. Gut, dachte er. Besser jetzt als später, denn wahrscheinlich gab es kein Später. Weder für ihn noch für sonst jemanden. Er rannte los.

Die Soldaten waren überall, sie rannten versprengt umher und schossen auf nichts und aufeinander. Es gab nicht einmal den Anschein einer organisierten Verteidigung, geschweige denn einen Angriff auf das Chalet. Richards rannte, so schnell er konnte, und rechnete jederzeit damit, eine Kugel abzubekommen.

Er hatte das Gelände halb überquert, als er den Fünftonner sah. Er stand am Rand des Parkplatzes, nachlässig schräg geparkt, mit offenen Türen. Er wusste, was darin war.

Vielleicht brauchte er nicht bis zur anderen Seite zu laufen.

»Agent Doyle.«

Doyle lächelte. »Lacey.«

Sie waren im Erdgeschoss des Chalets, in einem kleinen, mit Schreibtischen und Aktenschränken vollgestopften Raum. Doyle hatte sich hier unter einem Schreibtisch verkrochen, gewartet, seit die Schießerei angefangen hatte. Hatte auf Lacey gewartet. Er stand auf.

»Wissen Sie, wo sie sind?«

Lacey zögerte. Sie hatte Schrammen im Gesicht und am Hals und Blattfetzen im Haar.

Sie nickte. »Ja.«

»Ich … habe Sie gehört«, sagte Doyle. »All die Wochen hindurch.« Eine Schleuse brach in ihm auf, als er sie sah. Seine Stimme klang tränenerstickt. »Ich weiß nicht, wie ich das konnte.«

Sie nahm seine Hand. »Das war nicht ich, die Sie gehört haben, Agent Doyle.«

Zumindest konnte Wolgast nicht nach unten schauen. Er schwitzte jetzt heftig, und seine Handflächen und Finger waren glitschig, wenn er die Sprossen umklammerte, um sich hochzuziehen. Seine Arme zitterten vor Anstrengung, und die Ellenbeugen, die er um die Sprossen hakte, wenn er die Hände wechselte, fühlten sich an, als seien sie bis auf die Knochen wundgescheuert. Er wusste, es gab einen Augenblick, da der Körper einfach seine Grenzen erreichte, eine unsichtbare Linie, hinter die man nicht mehr zurückkonnte, wenn man sie einmal überschritten hatte. Er schob diese Gedanken beiseite und kletterte weiter.

Amys Arme, in seinem Nacken verschränkt, ließen nicht locker. Zusammen stiegen sie weiter, eine Sprosse nach der andern.

Der Ventilator war jetzt nicht mehr so weit weg. Wolgast spürte einen leisen Lufthauch auf seinem Gesicht, kühl und vom Duft der Nacht erfüllt. Er reckte den Hals und suchte die Wände des Schachts nach einer Öffnung ab.

Er entdeckte eine, drei Meter über ihnen, neben der Leiter: ein offener Seitenkanal.

Er würde Amy zuerst hineinschieben müssen. Irgendwie würde er sein eigenes Gewicht und ihres auf der Leiter balancieren müssen, während er sie zur Seite schwenkte und in die Öffnung schob, und dann müsste er selbst hineinklettern.

Sie hatten die Öffnung erreicht. Bis zum Ventilator war es weiter, als er gedacht hatte. Noch einmal mindestens zehn Meter. Er schätzte, dass sie irgendwo in Höhe des Erdgeschosses des Chalets waren. Vielleicht sollte er noch höher klettern und einen anderen Ausgang suchen. Aber seine Kräfte waren fast erschöpft. Er brachte sein rechtes Knie in Stellung, damit es Amys Gewicht aufnehmen konnte, und streckte die linke Hand aus. Seine Fingerspitzen berührten eine konturlose Wand aus kühlem Metall, glatt wie Glas, aber dann fand er die Kante. Er zog die Hand zurück. Noch drei Sprossen, das dürfte genügen. Er atmete tief durch und stieg weiter, bis die Öffnung in Höhe seiner Füße lag.

»Amy«, keuchte er. Sein Mund und seine Kehle waren knochentrocken. »Wach auf. Du musst versuchen, aufzuwachen, Kleines.«

Er spürte, wie ihr Atem an seinem Hals sich veränderte, als sie sich bemühte, zu sich zu kommen.

»Amy, du musst mich loslassen, wenn ich es dir sage. Ich werde dich festhalten. Da ist eine Öffnung in der Wand. Du musst versuchen, die Füße hineinzuschieben.«

Das Mädchen antwortete nicht. Hoffentlich hatte sie ihn gehört. Er versuchte sich vorzustellen, wie das alles genau funktionieren sollte – wie er erst sie und dann sich selbst in diesen Seitentunnel zwängen sollte. Aber ihm lief die Zeit davon. Wenn er noch länger wartete, würde er überhaupt keine Kraft mehr haben.

Jetzt.

Er zog das Knie an und hob Amy hoch. Ihre Arme lösten sich von seinem Nacken, und mit seiner freien Hand packte er sie beim Handgelenk, sodass sie wie ein Pendel über der Röhre hing, und dann sah er, wie es gehen würde: Seine andere Hand ließ die Leiter los, ihr Gewicht zog ihn nach links, der Öffnung entgegen, und dann waren ihre Füße drinnen, und sie rutschte in die Öffnung.

Er glitt immer mehr nach unten. Unaufhaltsam. Seine Füße verloren den Kontakt mit der Leiter, seine Hände scharrten hektisch an der Wand entlang, seine Finger fanden schließlich die Kante der Seitenöffnung. Ein feiner Metallgrat schnitt sich in seine Haut.

»Hoaa!«, schrie er, und seine Stimme hallte durch das Rohr nach unten. Seine Füße baumelten ins Leere. »Hooaaa!«

Er hätte nicht sagen können, wie er es schaffte. Adrenalin. Amy. Weil er nach allem, was passiert war, einfach noch nicht sterben wollte. Mit aller Kraft zog er sich hoch, seine Ellenbogen krümmten sich langsam und brachten ihn unerbittlich nach oben – erst den Kopf, dann die Brust, dann die Taille, und schließlich glitt er vollends in den Tunnel.

Einen Augenblick lang blieb er still liegen und rang nach Luft. Dann hob er den Kopf und sah Licht vor sich, irgendeine Öffnung im Boden. Er schlang die Arme um Amys Taille, wie er es vorher getan hatte, und dann rutschte er auf dem Rücken voran. Das Licht wurde heller, als sie näher kamen. Es schimmerte durch eine vergitterte Öffnung herauf.

Das Gitter war von der anderen Seite festgeschraubt.

Er war den Tränen nahe. Sie waren so weit gekommen! Aber selbst wenn er durch das enge Gitter greifen und die Schrauben mit den Fingern hätte erreichen können – er hatte kein Werkzeug, keine Möglichkeit, sie herauszudrehen. Und zurückzukriechen war ausgeschlossen. Er hatte keine Kraft mehr.

Etwas bewegte sich dort unten.

Er drückte Amy fest an sich und dachte an die Männer, die er gesehen hatte: Fortes, den Soldaten in der Blutlache, den Mann namens Grey. So wollte er nicht sterben. Er schloss die Augen, hielt den Atem an und war absolut still.

Dann hörte er eine Stimme, leise und fragend: »Chief?«

Es war Doyle.

Eine der Kisten vom Lastwagen stand bereits dahinter auf dem Boden. Es sah aus, als habe jemand mit dem Abladen angefangen und dann fluchtartig das Weite gesucht. Richards warf einen kurzen Blick auf die Ladefläche und fand ein Stemmeisen.

Mit einem kurzen Schnappen brach das Scharnier. In der Kiste lagen, in Schaumstoff gebettet, zwei Raketenwerfer vom Typ RPG-29. Er hob sie mit der Halterung heraus und entdeckte darunter die Raketen, mit Flossen versehene Zylinder, etwa einen halben Meter lang und bestückt mit Panzerabwehr-Sprengköpfen mit Tandemhohlladung, die in der Lage waren, einen modernen Kampfpanzer zu durchschlagen. Richards hatte gesehen, was sie anrichten konnten.

Er hatte sie angefordert, als der Befehl gekommen war, die Glühstäbe zu verlegen. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste, hatte er gedacht. Sag Laut Aaah.

Er schob die erste Rakete in den Werfer. Eine kurze Drehung, und er hörte das beruhigende Summen, das ihm sagte, dass der Sprengkopf scharf war. Jahrtausende des technischen Fortschritts, die ganze Geschichte der menschlichen Zivilisation, schienen in diesem Summen enthalten zu sein – im Summen eines einsatzbereiten Raketenwerfers. Das RPG-29 war mehrfach verwendbar, aber Richards wusste, dass er nur einen Schuss frei hatte. Er hob die Waffe auf die Schulter, brachte die Zielvorrichtung in ihre Position und trat vom Lastwagen weg.

»Hey!«, schrie er, und genau in diesem Augenblick, als seine Stimme in der Dunkelheit verhallte, empfand er einen kalten Schauer von Übelkeit, der aus seinen Eingeweiden heraufquoll. Der Boden unter seinen Füßen schwankte wie ein Bootsdeck auf hoher See. Schweißperlen traten auf sein Gesicht. In einer willkürlichen Schaltung seines Hirns spürte er den Drang zum Blinzeln. Ah. Es ging schneller, als er gedacht hatte. Er schluckte angestrengt und ging noch einmal zwei Schritte weiter ins Licht hinein, und dann richtete er das RPG auf die Baumwipfel

»Hier, Miez, Miez!«, schrie er.

Eine bange Minute verging, während Doyle diverse Schubladen durchwühlte, bis er ein Taschenmesser gefunden hatte. Er stieg auf einen Stuhl und schraubte mit der Klinge das Gitter ab. Wolgast ließ Amy zu ihm hinunter und sprang dann selbst.

Er begriff nicht gleich, wen er vor sich sah.

»Schwester Lacey?«

Sie drückte das schlafende Mädchen an sich. »Agent Wolgast.«

Wolgast sah Doyle an. »Ich verstehe nicht …«

»Nicht?« Doyle zog die Brauen hoch. Er trug einen OP-Anzug wie Wolgast. Er war ihm zu groß und hing lose an seinem Körper. »Glauben Sie mir.« Er lachte kurz. »Ich verstehe es auch nicht.«

»Hier sind überall Tote«, sagte Wolgast. »Irgendetwas … Ich weiß es nicht. Es gab eine Explosion.« Er wusste nicht weiter.

»Das wissen wir.« Doyle nickte. »Wird Zeit, dass wir verschwinden.«

Sie gingen hinaus in den Flur. Wolgast vermutete, dass sie irgendwo im hinteren Teil des Chalets waren. Es war still; nur vereinzelt hörten sie draußen noch Gewehrschüsse. Schnell, und ohne zu reden, liefen sie zum vorderen Eingang. Wolgast sah die toten Soldaten, die dort lagen.

Lacey drehte sich zu ihm um. »Nehmen Sie das Kind«, sagte sie. »Nehmen Sie Amy.«

Er gehorchte. Viel Kraft hatte er in den Armen nicht mehr, aber er drückte sie fest an sich. Sie stöhnte leise; sie versuchte aufzuwachen und kämpfte gegen die Macht, die sie im Zwielicht festhielt. Sie gehörte in ein Krankenhaus, doch selbst wenn er hier eins finden könnte, was sollte er dann sagen? Wie wollte er das alles erklären? Die Luft an der Tür war winterlich kalt, und Amy fröstelte in ihrem dünnen Hemd.

»Wir brauchen ein Fahrzeug«, sagte Wolgast.

Doyle huschte zur Tür hinaus. Eine Minute später war er wieder da und hielt einen Autoschlüssel in der Hand. Irgendwo hatte er auch eine Pistole gefunden, eine .45er. Er führte Wolgast und Lacey zum Fenster und zeigte hinaus.

»Der ganz hinten, am Ende des Parkplatzes. Der silberne Lexus. Sehen Sie ihn?«

Wolgast sah ihn. Der Wagen war mindestens hundert Meter weit entfernt.

»Nette Karre«, sagte Doyle. »Man sollte meinen, der Fahrer lässt den Schlüssel nicht einfach unter der Sonnenblende.« Doyle drückte ihm die Schlüssel in die Hand. »Nehmen Sie die. Sie gehören Ihnen. Für alle Fälle.«

Es dauerte einen Moment. Dann begriff Wolgast. Der Wagen war für ihn, für ihn und Amy. »Phil …«

Doyle hob die Hände. »Keine Widerrede.«

Wolgast sah Lacey an, und sie nickte. Dann kam sie zu ihnen. Sie küsste Amy und strich ihr über das Haar, und dann gab sie auch ihm einen Kuss auf die Wange. Eine tiefe Ruhe und ein Gefühl der Gewissheit strahlte von dort, wo ihr Mund ihn berührt hatte, durch seinen ganzen Körper. So etwas hatte er noch nie empfunden.

Sie gingen hinaus, Doyle vorneweg. Im Schutze des Gebäudes bewegten sie sich schnell voran. Wolgast kam kaum mit. Irgendwo hörte er wieder Schüsse, aber anscheinend wurde nicht auf sie geschossen, sondern in die Höhe, auf Bäume und Dächer. Wahllos wie bei irgendeiner gespenstischen Festlichkeit. Jedes Mal hörte er einen Schrei, es war einen Augenblick lang still, und dann wurde weiter geschossen.

Sie erreichten die Ecke des Gebäudes. Auf der einen Seite war der Wald, auf der anderen der hell erleuchtete Parkplatz. Der Lexus stand ganz weit hinten, und das Heck war ihnen zugewandt. Sonst waren keine anderen Autos auf dem Parkplatz, die ihnen Deckung geboten hätten.

»Wir müssen einfach rennen«, sagte Doyle. »Sind Sie so weit?«

Wolgast war außer Atem, aber er nickte.

Sie rannten los, auf den Wagen zu.

Richards fühlte ihn, bevor er ihn sah. Er fuhr herum und schwenkte das RPG wie einen Hochsprungstab.

Es war nicht Babcock.

Es war nicht Zero.

Es war Anthony Carter.

Er hockte fünf Meter von ihm entfernt, hob den Kopf, drehte das Gesicht zur Seite und schaute Richards abschätzend an. Seine Haltung hatte etwas von einem Hund. Blut glitzerte auf seinem Gesicht, auf den klauenartigen Händen, den Reihen seiner nadelspitzen Zähne. Ein klickendes Geräusch kam aus seiner Kehle. Langsam und in einer genussvoll trägen Bewegung richtete er sich auf. Richards nahm seinen Mund ins Visier.

»Aufmachen«, sagte Richards und feuerte.

Schon als die Rakete aus dem Lauf schoss und die Wucht des Rückstoßes ihn rückwärts taumeln ließ, wusste er, dass er nicht getroffen hatte. Da, wo Carter gestanden hatte, war niemand mehr. Carter war in der Luft. Carter flog. Dann fiel er, schnellte auf Richards herunter. Die Panzerabwehrrakete explodierte und riss die Front des Chalets auf, doch das hörte Richards nur dumpf – das Krachen verhallte, wich in unglaubliche Ferne zurück –, denn er erlebte das für ihn völlig neue Gefühl, in zwei Hälften gerissen zu werden.

Die Explosion erreichte Wolgast als weißer Blitz. Eine Wand aus Hitze und Licht traf seine linke Gesichtshälfte wie ein Schlag. Dann wurde er hochgewirbelt, und Amy glitt aus seinen Armen. Er schlug auf dem Asphalt auf und rollte zweimal um sich selbst, ehe er auf dem Rücken liegen blieb.

Es dröhnte in seinen Ohren, und sein Atem schien tief unten in der Brust in einer Röhre festzustecken. Über sich sah er das tiefe, samtige Schwarz des Nachthimmels und die Sterne, Hunderte und Aberhunderte von Sternen, und einige von ihnen regneten herab.

Sternschnuppen, dachte er. Dann dachte er: Amy. Dann dachte er: Schlüssel.

Er hob den Kopf. Amy lag ein paar Meter weiter, mit dem Gesicht nach oben. Rauch hing in der Luft, dick und beißend. Im flackernden Schein des brennenden Chalets sah sie aus, als schlafe sie: eine Gestalt aus einem Märchen, die Prinzessin, die eingeschlafen war und nicht aufwachen konnte. Wolgast rollte sich auf alle viere herum und tastete den Boden in panischer Hast nach dem Schlüssel ab. Er spürte, das eins seiner Ohren verletzt war; es war, als habe sich ein Vorhang über die linke Hälfte seines Kopfes gelegt, der alle Geräusche aufsaugte. Der Schlüssel, der Schlüssel. Erst jetzt merkte er, dass er ihn noch in der Hand hielt. Er hatte ihn gar nicht verloren.

Wo waren Doyle und Lacey?

Er ging zu Amy. Soweit er sehen konnte, hatte sie den Sturz und die Explosion unversehrt überstanden. Er schob die Hände unter ihre Arme, legte sie über seine Schulter und lief zu dem Lexus, so schnell er konnte.

Er bückte sich, um Amy hineinzuschieben und auf den Rücksitz zu legen. Dann stieg er selbst ein und drehte den Schlüssel im Zündschloss. Die Scheinwerfer strahlten hell über das Gelände.

Etwas schlug auf die Motorhaube.

Ein Tier. Nein – irgendein monströses Ding, das fahlgrün glimmerte. Er sah die Augen und das, was darin war, und er wusste, dieses seltsame Wesen auf der Motorhaube war Anthony Carter.

Carter erhob sich, als Wolgast den Rückwärtsgang einlegte und Vollgas gab. Er rutschte herunter. Wolgast sah ihn im Scheinwerferlicht des Lexus; er rollte über den Boden und schnellte dann blitzartig – so schnell, dass das Auge den Bewegungen fast nicht folgen konnte – in die Luft und war verschwunden.

Was zum Teufel …?

Wolgast trat auf die Bremse und riss das Lenkrad herum. Der Wagen kam in Richtung Ausfahrt zum Stehen. Die Beifahrertür wurde aufgerissen: Lacey. Sie kletterte schnell hinein, ohne ein Wort zu sagen. Blut lief ihr übers Gesicht und tropfte auf ihre Bluse. Sie hatte eine Pistole in der Hand. Verblüfft schaute sie sie an und ließ sie fallen.

»Wo ist Doyle?«

»Ich weiß es nicht.«

Er legte den Vorwärtsgang ein und gab Gas.

Dann sah er Doyle. Er kam quer über den Platz auf den Lexus zugerannt und schwenkte seine .45er.

»Fahren Sie los!«, schrie er. »Fahren Sie!«

Etwas krachte auf das Wagendach, und Wolgast wusste, dass es Carter war. Carter hockte auf dem Dach des Lexus. Wolgast bremste so stark, dass sie alle nach vorn geschleudert wurden. Carter rutschte vom Dach auf die Haube, aber dort hielt er sich fest. Wolgast hörte, wie Doyle auf ihn schoss, dreimal kurz hintereinander. Wolgast sah, wie eine Kugel Carter mit einem aufsprühenden Funken in die Schulter traf. Carter schien es kaum zu bemerken.

»Hey!«, schrie Doyle. »Hier bin ich! Hey!«

Carter hob den Kopf und sah Doyle. Er sprang von der Haube des Lexus, als Doyle einen letzten Schuß abfeuerte. Wolgast drehte sich um und sah, wie die Kreatur, die einst Anthony Carter gewesen war, auf Doyle herabfiel und ihn umschloss wie ein riesiger Mund.

Im Handumdrehen war es vorbei.

Wolgast trat das Gaspedal durch. Der Wagen schoss quer über einen Rasenstreifen, und die Räder drehten durch, bis sie kreischend auf den Asphalt gelangten. Sie rasten den langen Fahrweg hinunter, weg von dem brennenden Chalet und zwischen den Bäumen der Allee hindurch. Alles flog an ihnen vorbei. Fünfzig, sechzig, siebzig Meilen pro Stunde.

»Was war das?«, fragte Wolgast und sah zu Lacey hinüber. »Was war das?«

»Halten Sie hier, Agent.«

»Was? Das ist nicht Ihr Ernst.«

»Sie werden uns kriegen. Sie folgen dem Blut. Sie müssen anhalten.« Sie legte ihm eine Hand auf den Arm, fest und beharrlich. »Bitte. Tun Sie, was ich sage.«

Wolgast lenkte den Lexus an den Straßenrand. Lacey drehte sich zu ihm herum, und jetzt sah er die Wunde oben an ihrer Schulter, einen glatten Durchschuss dicht unterhalb des Deltamuskels.

»Schwester Lacey …«

»Das ist nichts«, sagte Lacey. »Nur Fleisch und Blut. Aber ich soll nicht mit Ihnen gehen. Das sehe ich jetzt.« Sie berührte seinen Arm und lächelte – ein letztes, segnendes Lächeln und zugleich ein glückliches Lächeln. Ein Lächeln nach den Strapazen einer langen Reise, die jetzt zu Ende war.

»Geben Sie acht auf sie, Agent Wolgast. Amy gehört Ihnen. Sie werden wissen, was zu tun ist.« Sie stieg aus und schlug die Tür zu, bevor Wolgast noch ein Wort sagen konnte.

Im Rückspiegel sah er, wie sie in die Richtung zurückrannte, aus der sie gekommen waren. Sie winkte mit hocherhobenen Armen. Eine Warnung? Nein, sie rief sie auf sich herab. Sie kam keine dreißig Meter weit, bevor ein Licht aus den Bäumen herabschoss, dann noch eins und ein drittes – so viele, dass Wolgast nicht länger hinschauen konnte. Er gab Gas und fuhr weiter, so schnell es ging, ohne noch einmal zurückzuschauen.

Passage Trilogie Bd. 1 - Der Übergang
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