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Sanjay Patal wollte Old Chou aufsuchen. Es gab Dinge zu besprechen und zu entscheiden. Die Sache mit Sam und Milo, zum Beispiel – das war ein Stolperstein, mit dem er nicht gerechnet hatte –, und die Frage, was mit Caleb und mit dem Mädchen passieren sollte.
Das Mädchen. Etwas an ihren Augen.
Aber als er das Krankenrevier verließ, überkam ihn mit einem Mal eine unerwartete Schwere. Vermutlich war das nur natürlich – die halbe Nacht auf den Beinen, dann ein solcher Vormittag, so viel zu tun und zu reden und zu bedenken, so viele Sorgen. Die Leute machten sich oft lustig über den Haushalt: Das sei kein richtiger Job, nicht wie eins der Gewerbe. Theo Jaxon war es gewesen, der die Bezeichnung »Klempnerkomitee« erfunden hatte, ein Scherz, der Sanjay zutiefst getroffen hatte. Aber das lag daran, dass sie keine Vorstellung von der Verantwortung hatten. Sie war eine schwere Last, die man zu tragen hatte und niemals ganz ablegen konnte. Sanjay war fünfundvierzig Jahre alt; das war nicht mehr jung, aber als er jetzt über den Kiesweg ging, fühlte er sich viel älter.
Um diese Tageszeit würde Old Chou im Bienenhaus sein. Ob das Tor offen oder geschlossen war, war den Bienen gleichgültig. Doch der Gedanke an den weiten Weg dorthin unter der hohen, heißen Mittagssonne und an die Leute, denen er unterwegs vielleicht begegnen und mit denen er würde sprechen müssen, erfüllte ihn mit einer plötzlichen Müdigkeit, die wie ein grauer Nebel durch sein Hirn zog. Im selben Augenblick wusste er, er musste sich hinlegen. Old Chou wäre auch später noch da. Und fast ehe er sich versah, stapfte er langsam über die schattige Lichtung zu seinem Haus, trat durch die Tür (lauschte nach Gloria, hörte aber nichts), stieg die knarrende Treppe hinauf ins Dachgeschoss mit seinen spinnwebverhangenen Winkeln und legte sich auf sein Bett. Er war müde, so müde. Wie lange mochte es her sein, dass er sich mitten am Tag ein Nickerchen gestattet hatte? Er war eingeschlafen, bevor er diese Frage zu Ende gedacht hatte.
Einige Zeit später erwachte er mit einem ätzend sauren Geschmack im Mund, und das Blut rauschte in seinen Ohren. Er fühlte sich, als sei er nicht aufgewacht, sondern aus dem Schlaf geschleudert worden. Sein Kopf war leergepumpt. Er hatte tief und fest geschlafen! Sanjay blieb still liegen und genoss das Gefühl, in dem er schwebte. Irgendwann wurde ihm bewusst, dass er Stimmen von unten hörte – Glorias Stimme und eine tiefere, eine Männerstimme, Jimmy oder Ian oder vielleicht Galen. Er lag da und lauschte, und irgendwann wurde ihm klar, dass noch mehr Zeit verstrichen war, und die Stimmen waren verstummt. Wie schön, einfach so dazuliegen. Schön und ein bisschen seltsam, denn eigentlich, dachte er, hätte er schon vor einer Weile aufstehen müssen. Es wurde Abend; das sah er durch das Fenster. Die Dämmerung färbte den grellweißen Sommerhimmel rosarot, und er hatte noch zu tun. Jimmy würde wissen wollen, was wegen des Kraftwerks unternommen werden und wer morgen früh hinausreiten sollte (allerdings konnte Sanjay sich im Moment nicht genau erinnern, weshalb darüber entschieden werden musste). Und dann war da immer noch der Junge, Caleb, den alle aus irgendeinem Grund Hightop nannten (vielleicht hatte es etwas mit seinen Schuhen zu tun). So viele Dinge … Aber je länger er dalag, desto ferner und verschwommener erschienen ihm diese Sorgen, als beträfen sie jemand anderen.
»Sanjay?«
Gloria stand in der Tür. Ihre Anwesenheit erreichte ihn nicht körperlich, sondern nur als Stimme: eine körperlose Stimme, die im Dunkeln seinen Namen rief.
»Warum bist du im Bett?«
Ich weiß es nicht, dachte er. Seltsam, ich weiß nicht, warum ich in diesem Bett liege.
»Es ist schon spät, Sanjay. Die Leute suchen dich.«
»Ich habe … ein Nickerchen gemacht.«
»Ein Nickerchen?«
»Ja, Gloria. Ein Nickerchen. Ich habe geschlafen.«
Seine Frau schien über ihm zu sein. Ihr glattes, rundes Gesicht schwebte körperlos im grauen Meer seines Blickfelds. »Warum hältst du die Decke so fest?«
»Wie denn? Wie halte ich die Decke fest?«
»Ich weiß nicht. Sieh doch selbst.«
Als er sich die Anstrengung vorstellte, die das kosten würde, erschien sie ihm gewaltig, und er wollte es gar nicht erst versuchen. Trotzdem gelang es ihm irgendwie: Er hob den Kopf vom schweißfeuchten Kissen und schaute an sich hinunter. Offenbar hatte er das Laken im Schlaf vom Bett gezogen und zu einem Strick zusammengedreht, den er quer über den Leib gelegt hatte und fest mit beiden Händen umklammerte.
»Sanjay, was ist los mit dir? Warum redest du so?«
Ihr Gesicht war immer noch über ihm, aber er konnte sich nicht darauf konzentrieren. Es blieb unscharf. »Mir geht’s gut. Ich war nur müde.«
»Aber jetzt bist du nicht mehr müde.«
»Nein. Ich glaube nicht. Aber vielleicht schlafe ich noch ein bisschen.«
»Jimmy war hier. Er will wissen, was wegen dem Kraftwerk passieren soll.«
Das Kraftwerk. Was war damit?
»Was soll ich ihm sagen, wenn er wiederkommt?«
Jetzt fiel es ihm ein. Jemand musste zum Kraftwerk hinunterreiten und die Anlage sichern – was immer da im Gange sein mochte.
»Galen«, sagte er.
»Galen? Was ist mit ihm?«
Aber ihre Frage erreichte ihn nur nebelhaft. Seine Augen hatten sich wieder geschlossen. Glorias Gesicht löste sich auf, und ein anderes trat an seine Stelle: das Gesicht eines Mädchens. So klein. Ihre Augen. Etwas war mit ihren Augen.
»Was ist mit Galen, Sanjay?«
»Es wäre gut für ihn, meinst du nicht?«, hörte er jemanden sagen. Ein Teil seiner selbst war noch in diesem Raum, aber der andere, der träumende Teil, war es nicht mehr. »Sag ihm, er soll Galen schicken.«