35
Zweiundneunzig Jahre, acht Monate und sechsundzwanzig Tage lang, seit der letzte Bus den Berg hinaufgefahren war, hatten die Seelen der Ersten Kolonie so gelebt:
Unter den Scheinwerfern.
Unter dem Einen Gesetz.
Der Gewohnheit gehorchend.
Den Instinkten vertrauend.
Von-Tag-zu-Tag.
Sie selbst und diejenigen, die sie gezeugt hatten, waren ihre einzige Gesellschaft.
Sie lebten unter dem Schutz der Wache.
Unter dem Befehl des Haushalts.
Ohne die Army.
Ohne Erinnerung.
Ohne die Welt.
Ohne die Sterne.
Für Auntie, die allein in ihrem Haus auf der Lichtung lebte, begann die Nacht – die Nacht der Klingen und der Sterne – wie so viele Nächte davor: Sie saß am Tisch ihrer dampfdunstigen Küche und schrieb in ihr Buch. Am Nachmittag hatte sie einen Stoß Blätter von der Leine abgenommen, steif von der Sonne – sie fühlten sich immer an wie viereckige Stücke von eingefangenem Sonnenschein –, und die Zeit bis zum Abend damit verbracht, sie zuzurichten: Sie hatte die Kanten auf ihrem Schneidebrett begradigt, den Einband mit den Deckeln aus straffgespanntem Lammleder geöffnet und sorgfältig die Fäden gelöst, mit denen die Seiten an ihrem Platz gehalten wurden, und mit Nadel und Faden die neuen eingeheftet. Es war eine langwierige Arbeit, und als sie fertig war, gingen draußen die Lichter an.
Komisch, dass alle dachten, sie habe nur dieses eine Buch.
Der Band, an dem sie schrieb, war nach ihrer Erinnerung der siebenundzwanzigste seiner Art. Immer wenn sie eine Schublade öffnete oder Tassen in den Schrank stellte oder unter ihrem Bett fegte, fand sie einen – so kam es ihr jedenfalls vor. Vermutlich lag es daran, wie sie die Bände wegräumte, mal hierhin, mal dorthin, nicht säuberlich aufgereiht auf einem Regal, wo sie auf sie herunterschauten. Jedes Mal, wenn sie ein Buch fand, war es, als laufe sie einem alten Freund über den Weg.
Die meisten erzählten die gleichen Geschichten. Geschichten, an die sie sich erinnerte, von der Welt und wie sie war. Von Zeit zu Zeit kam ihr aus heiterem Himmel irgendeine Kleinigkeit zugeflogen, eine Erinnerung, die sie lange vergessen hatte. Das Fernsehen zum Beispiel, und das alberne Zeug, das sie sich da angeschaut hatte (das blaugrüne Flackern, und Daddys Stimme: Ida, stell das verdammte Ding ab, weißt du nicht, dass man dabei verblödet?). Manchmal brachte irgendetwas die Erinnerungen in Gang, ein Sonnenstrahl, der auf ein Blatt fiel, ein Windhauch mit einem bestimmten Geruch, und dann durchwehten sie die Gefühle, die Geister der Vergangenheit. Ein Herbsttag im Park, ein Springbrunnen im Wind, das Nachmittagslicht, das die sprühenden Tropfen in eine funkelnde Blume verwandelte. Ihre Freundin Sharise, die unten an der Ecke wohnte; sie saß neben ihr auf der Treppe und zeigte ihr einen Zahn, der ihr ausgefallen war, hielt den blutigen Stumpf in der flachen Hand, damit Auntie ihn anschauen konnte (Die Zahnfee gibt’s nicht, ich weiß schon, aber sie bringt mir immer einen Dollar.) Ihre Mama in ihrem hellgrünen Lieblingssommerkleid, wie sie in der Küche die Wäsche faltete, und die Duftwolke von einem Handtuch, das sie ausschlug und dann vor der Brust zusammenlegte. Wenn so etwas geschah, würde es eine gute Nacht zum Schreiben werden. Erinnerungen führten zu anderen Erinnerungen wie ein Flur mit lauter Türen, durch den Aunties Geist wandern konnte, bis die Morgensonne durch die Fenster hereinschien.
Aber nicht heute Nacht, dachte Auntie, als sie die Federspitze in den Tintenbecher tauchte und das Blatt Papier mit der Hand glattstrich. Heute war keine Nacht für die Welt von früher. Heute wollte sie über Peter schreiben. Sie rechnete damit, dass er gleich kommen würde, dieser Junge mit den Sternen in sich.
Die Dinge kamen ihr auf ganz eigene Art in den Sinn. Vermutlich, dachte sie, lag es daran, dass sie so lange gelebt hatte – als wäre sie selbst ein Buch, ein Buch aus lauter Jahren. Sie erinnerte sich an die Nacht, als Prudence Jaxon vor der Tür gestanden hatte. Die Frau war schwerkrank; der Krebs weit fortgeschritten. Sie stand vor der Tür und drückte den Karton an die Brust, zerbrechlich und mager, als könne der Wind sie wegwehen. Auntie hatte es in ihrem Leben schon so oft gesehen, dieses Böse in den Knochen. Man konnte nie etwas anderes tun als zuzuhören und zu tun, was der kranke Mensch wollte, und das tat Auntie in jener Nacht auch für Prudence Jaxon. Sie nahm den Karton und bewahrte ihn auf, und nicht einmal einen Monat später war die Frau tot.
Irgendwann wird der richtige Augenblick da sein. Das waren Prudence Jaxons Worte gewesen. Wahre Worte, denn so war es mit allen Dingen. Alles im Leben kam zu seiner Zeit, wie ein Zug, den man erwischen musste. Manchmal war es einfach; man brauchte nur einzusteigen, der Zug war bequem und komfortabel und voller Leute, die einen in der gedämpften Stille anlächelten, und ein Schaffner knipste die Fahrkarte und zerzauste einem das Haar mit seiner großen Hand und sagte: Was für ein hübsches kleines Mädchen du bist, und was für ein Glück die junge Lady hat, dass sie mit ihrem Daddy so eine weite Reise mit der Eisenbahn machen darf. Und man versank im traumhaft weichen Sitzpolster, trank Ginger Ale aus einer Dose und sah zu, wie die Welt in magischer Stille draußen vor dem Fenster vorbeizog, die Wolkenkratzer der City im klaren Herbstlicht, und dann die Rückseiten der Häuser mit der flatternden Wäsche an den Leinen und ein Bahnübergang mit einer Schranke, vor der ein Junge mit seinem Fahrrad stand und winkte, und schließlich die Wälder und Felder und eine einsame Kuh, die Gras fraß.
Aber nicht über den Zug wollte sie schreiben, sondern über Peter. (Wohin waren sie eigentlich gefahren?, überlegte Auntie. Wohin waren sie mit der Eisenbahn gefahren, sie beide zusammen, sie und ihr Daddy, Monroe Jaxon? Grandma und die Verwandten hatten sie besucht, fiel ihr ein, an einem Ort namens »unten im Süden«. Peter und der Zug. Manchmal war es ganz einfach, und dann wieder war es anders, überhaupt nicht einfach; die Dinge des Lebens kamen brüllend herangerast, und nur mit Müh und Not konnte man sie packen und festhalten. Das alte Leben war zu Ende, und der Zug brachte einen in ein neues, und ehe man sich versah, stand man im Staub, und überall waren Hubschrauber und Soldaten, und die einzige Erinnerung an die Familie war das Bild, das man in seiner Manteltasche fand, das Bild, das die eigene Mutter beim Abschied dort hineingeschoben hatte.
Als Auntie hörte, wie es klopfte und wie die Fliegentür klappernd auf- und wieder zuging, als der Besucher eintrat, hatte sie mit ihrer dummen alten Heulerei schon fast wieder aufgehört. Sie hatte sich geschworen, es bleiben zu lassen. Ida, hatte sie zu sich selbst gesagt, Schluss damit. Vorbei ist vorbei. Aber nach all den Jahren wurde ihr immer noch schwer ums Herz, wenn sie an ihre Mutter dachte, wie sie ihr das Bild in die Tasche geschoben und gewusst hatte, wenn Ida es fände, wären sie beide schon tot.
»Auntie?«
Sie hatte Peter erwartet, Peter mit seinen Fragen nach dem Mädchen, aber er war es nicht. Sie erkannte das Gesicht nicht, das da verschwommen vor ihr schwebte. Ein gequetschtes, schmales Männergesicht, das aussah, als hätte es in einer Tür geklemmt.
»Ich bin’s, Jimmy, Auntie. Jimmy Molyneau.«
Jimmy Molyneau? Das konnte nicht stimmen. War Jimmy Molyneau nicht tot?
»Auntie, du weinst ja.«
»Natürlich weine ich. Hab was ins Auge gekriegt.«
Er hatte sich ihr gegenüber auf den Stuhl sinken lassen. Als sie die richtige Brille an den Kordeln um ihren Hals gefunden hatte, sah sie, dass er wirklich, wie er behauptete, ein Molyneau war. Diese Nase – das war eine Molyneau-Nase.
»Was willst du denn? Du kommst wegen dem Walker?«
»Du weißt davon, Auntie?«
»Heute Morgen kam ein Läufer durch. Sagte, sie hätten ein Mädchen gefunden.«
Ihr war nicht ganz klar, was er eigentlich wollte. Er wirkte irgendwie traurig, ja mutlos. Normalerweise wäre ihr ein bisschen Gesellschaft ganz willkommen gewesen, aber als das Schweigen sich in die Länge zog und dieser fremde, missmutige Mann, an den sie sich nur vage erinnern konnte, einfach nur vor ihr hockte wie ein geprügelter Hund, wurde sie allmählich ungeduldig. Einer, der nichts wollte, sollte nicht einfach irgendwo hereinplatzen.
»Ich weiß eigentlich gar nicht, warum ich gekommen bin. Ich glaube, ich sollte dir etwas sagen.« Er seufzte tief und rieb sich das Gesicht. »Eigentlich müsste ich auf der Mauer sein, weißt du.«
»Wenn du es sagst.«
»Na ja. Der First Captain gehört da eigentlich hin, oder? Auf die Mauer?« Er sah sie nicht an; er starrte auf seine Hände und schüttelte den Kopf, als wäre die Mauer vielleicht der letzte Ort auf Erden, an dem er sein wollte. »Das ist ein Ding, was? First Captain. Ich.«
Dazu hatte Auntie nichts zu sagen. Was immer in dem Mann vorging, es hatte nichts mit ihr zu tun. Manchmal konnte man etwas Kaputtes nicht mit Worten reparieren, und das hier war anscheinend so ein Fall.
»Glaubst du, ich könnte eine Tasse Tee bekommen, Auntie?«
»Wenn du willst, koche ich dir welchen.«
»Wenn es keine Umstände macht.«
Doch, es machte Umstände, aber sie kam wohl nicht darum herum. Sie stemmte sich hoch und setzte den Teekessel auf. Die ganze Zeit saß dieser Mann, Jimmy Molyneau, schweigend am Tisch und starrte auf seine Hände. Als der Kessel zu summen anfing, goss sie den Tee durch das Sieb in zwei Becher und brachte sie zum Tisch.
»Vorsicht. Er ist heiß.«
Er nippte vorsichtig daran. Anscheinend hatte er überhaupt keine Lust mehr, zu reden. Genau besehen sollte es ihr recht sein. Die Leute kamen ab und zu vorbei, um über Probleme zu reden, über private Angelegenheiten. Vermutlich nahmen sie an, weil sie so allein hier wohnte, hatte sie auch niemanden, dem sie es weitersagen könnte. Meistens waren es Frauen, die über ihre Männer reden wollten, aber nicht immer. Vielleicht hatte dieser Jimmy Molyneau ein Problem mit seiner Frau.
»Weißt du, was die Leute über deinen Tee sagen, Auntie?« Stirnrunzelnd starrte er in seinen Becher, als schwimme die Antwort, die er haben wollte, darin herum.
»Was denn?«
»Dass er der Grund ist, weshalb du so lange lebst.«
Tiefes Schweigen machte sich breit. Er nahm einen letzten Schluck Tee, verzog das Gesicht wegen des Geschmacks und stellte den Becher auf den Tisch.
»Danke, Auntie.« Müde stand er auf. »Ich gehe jetzt wohl besser. War nett, mit dir zu reden.«
»Schon in Ordnung.«
An der Tür blieb er stehen und legte eine Hand an den Rahmen. »Ich bin Jimmy«, sagte er. »Jimmy Molyneau.«
»Ich weiß, wer du bist.«
»Für alle Fälle«, sagte er. »Falls jemand fragt.«
Die Ereignisse, die mit Jimmys Besuch bei Auntie begannen, sollten falsch in Erinnerung bleiben. Mit dem Namen fing es an. Die Nacht der Klingen und der Sterne umfasste in Wahrheit drei Nächte und die zwei Tage dazwischen. Aber wie immer bei solchen Begebenheiten – denen es bestimmt ist, noch viele Jahre lang erzählt und wiedererzählt zu werden – schien die Zeit komprimiert worden zu sein. Das ist an sich nichts Ungewöhnliches: Das Gedächtnis neigt dazu, solch Geschehen nachträglich eine Kohärenz zu verleihen, angefangen mit dem zeitlichen Rahmen. In dieser Jahreszeit. In jenem Jahr. In der Nacht der Klingen und der Sterne.
Ferner verkompliziert wurde die ganze Sache dadurch, dass die Geschichte jener Nacht des Sechsundfünfzigsten des Sommers, aus denen sich dann der Rest ergab, im Grunde aus einer Reihe von Einzelgeschichten bestand, die sich zeitlich überlappten. Überall geschah etwas. Zum Beispiel: Während Old Chou aus dem Bett aufstand, das er mit seiner jungen Frau Constance teilte, und von einem geheimnisvollen Drang getrieben zum Lagerhaus auf der anderen Seite der Kolonie eilte, hatte Walter Fisher den gleichen Gedanken. Doch der Umstand, dass er zu betrunken war, um sich die Stiefel zuzubinden, sollte seinen Besuch im Lagerhaus und die Entdeckung dessen, was dort lag, um vierundzwanzig Stunden verzögern. Miteinander gemeinsam hatten diese zwei Männer, dass sie beide das Mädchen gesehen hatten, das Mädchen von Nirgendwo, als der Haushalt am Abend zuvor das Krankenrevier aufgesucht hatte; es traf allerdings auch zu, dass nicht alle, die ihr begegnet waren, die gleiche Reaktion an den Tag legten. Dana Curtis zum Beispiel blieb davon völlig unberührt, und Michael Fisher ebenfalls. Das Mädchen war selbst nicht die Quelle, sondern der Kanal, der Weg, auf dem ein gewisses Gefühl – das Gefühl verlorener Seelen – in die Köpfe der Empfänglichsten gelangte. Es gab andere, wie etwa Alicia, die weder jetzt noch später davon berührt werden würden. Im Gegensatz zu Sara Fisher und Peter Jaxon, die auf harmlose, aber nicht weniger beunruhigende Weise Zeugen der Macht dieses Mädchens geworden waren: Beide suchten sie Zwiesprache mit den Toten.
First Captain Jimmy Molyneau hatte sich an diesem Abend noch nicht auf der Mauer blicken lassen, was bei der Wache zu beträchtlicher Verwirrung geführt hatte, sodass man Sanjays Neffen Ian in aller Hast zum zeitweilig stellvertretenden First Captain ernannte. Jimmy lauerte derweil in der Dunkelheit vor seinem Haus am Rand der Lichtung und versuchte zu entscheiden, ob er ins Lichthaus gehen, jeden dort töten und die Scheinwerfer abschalten sollte oder nicht. Der Drang, diesen entscheidenden letzten Schritt zu tun, war zwar schon den ganzen Tag über immer stärker geworden, aber erst als er in Aunties dampfdunstiger Küche in seinen Tee starrte, hatte der Gedanke in seinem Kopf konkrete Formen angenommen, und hätte ihn jetzt jemand zufällig gesehen und gefragt, was er da mache, hätte er wohl nicht gewusst, was er sagen sollte. Er hätte es nicht erklären können, dieses Verlangen, das zugleich tief aus seinem Innern aufstieg und dennoch nicht ganz sein eigenes zu sein schien. Im Haus schliefen seine Töchter Alice und Avery und seine Frau Karen. Im Laufe seiner Ehe hatte es Zeiten gegeben, etliche Jahre, in denen er Karen nicht so geliebt hatte, wie er es hätte tun sollen (insgeheim war er verliebt in Soo Ramirez). Aber nie hatte er an ihrer Liebe zu ihm gezweifelt: Sie erschien ihm grenzenlos und unerschütterlich, und der Beweis dafür waren ihre beiden Mädchen, die ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten waren. Alice war elf, Avery neun. Angesichts ihrer sanften Augen, ihrer zarten, herzförmigen Gesichter und ihrer lieben, melancholischen Wesensart – beide brachen manchmal beim geringsten Anlass in Tränen aus – spürte Jimmy immer die beruhigende Kraft des historischen Kontinuums. Und wenn die Düsternis über ihn kam, wie sie es mitunter tat, eine dunkle Flut, die sich anfühlte, als ertrinke er von innen heraus, dann war es immer der Gedanke an seine Töchter, der ihn rettete.
Und doch, je länger er sich hier im Dunkeln herumdrückte, desto mehr war es, als habe der Drang, die Scheinwerfer auszuschalten, absolut nichts zu tun mit dem Gedanken an seine schlafende Familie und sei deshalb von ihm auch nicht zu beeinflussen. Er fühlte sich innerlich seltsam, sehr seltsam, als breche sein Sehvermögen zusammen. Er trat aus dem Schatten des Hauses hervor, und als er am Fuße der Mauer angekommen war, wusste er, was er zu tun hatte. Er empfand überwältigende Erleichterung, so wohltuend wie ein heißes Bad, als er die Leiter zur Feuerplattform neun hinaufstieg. Die Feuerplattform neun bezeichnete man auch als Soloposten: Wegen ihrer Lage über dem Durchbruch in der Mauer, durch den die Hauptstromleitung hereinführte, war sie von den benachbarten Plattformen aus nicht zu sehen. Hier war der Dienst am schlimmsten, am einsamsten, und hier, das wusste Jimmy, würde Soo Ramirez heute Nacht sein.
Zwar war das, was sie empfand, noch nichts Konkreteres als ein namenloses Grauen, aber auch Soo war den ganzen Abend voller Unruhe. Dieses unbestimmte Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte, wurde allerdings überlagert von anderen, persönlicheren Gedanken – dem Groll und der tiefen Enttäuschung, dass sie vom Posten des First Captain hatte zurücktreten müssen. In den Stunden nach dem Hearing hatte sie festgestellt, dass ihr diese Entwicklung letztlich entgegenkam – die Verantwortung forderte allmählich ihren Tribut –, und irgendwann hätte sie ohnehin abtreten müssen. Aber eine Entlassung war nicht der Abgang, den sie sich gewünscht hatte. Sie war geradewegs nach Hause gegangen, hatte sich in die Küche gesetzt und zwei Stunden lang geweint. Sie war dreiundvierzig Jahre alt und hatte nichts mehr vor sich außer Nächten auf der Mauer und gelegentlichen, pflichtschuldigen Mahlzeiten mit Cort, der es gut meinte, aber dem schon vor tausend Jahren der Gesprächsstoff ausgegangen war, und so war die Wache alles, was sie hatte. Cort war in den Stallungen wie immer, und einen kurzen Moment lang wünschte sie, er wäre zu Hause, aber es war auch in Ordnung, dass er nicht da war, denn sonst hätte er wahrscheinlich nur dagestanden mit diesem hilflosen Gesicht und sich nicht zu helfen gewusst. (Drei tote Babys in ihrem Bauch – drei! –, und selbst da hatte er nie gewusst, was er sagen sollte. Damals, vor vielen Jahren.)
Sie konnte niemandem die Schuld geben außer sich selbst. Das war das Schlimmste. Diese blöden Bücher! Soo hatte sie im Gemeingut gefunden, als sie ziellos in den Containern gestöbert hatte, in denen Walter all das Zeug aufbewahrte, das niemand haben wollte. Es war alles nur wegen der blöden Bücher! Denn kaum hatte sie das erste aufgeschlagen – der brüchige Einband hatte geknistert, und sie hatte tatsächlich im Schneidersitz auf dem Boden gesessen wie ein Kind im Morgenkreis –, hatte es sie erfasst wie ein Strudel im Abfluss und sie aufgesogen. (»Ja, wenn das nicht Mr Talbot Carver ist«, rief Charlene DeFleur aus, während sie in ihrem langen, raschelnden Ballkleid die Treppe hinabschritt, die Augen in unverhohlenem Schrecken weit aufgerissen angesichts des hochgewachsenen, breitschultrigen Mannes, der da in der Halle stand, angetan mit einer staubigen Reithose, deren Stoff sich straff um seine männliche Gestalt schmiegte. »Was haben Sie sich nur dabei gedacht, herzukommen, wenn mein Vater nicht da ist?«) Die Ballschönheit von Jordana Mixon. The Passionate Press, Irvington, New York 2014. Da war auch ein Bild von der Autorin, innen auf der hinteren Umschlagseite: eine lächelnde Frau mit langem dunklem Haar, die zurückgelehnt in einem Bett mit spitzenbesetzten Kissen ruhte. Arme und Hals waren entblößt, und auf ihrem Kopf saß ein eigentümliches, scheibenförmiges Hütchen, zu klein, um auch nur den Regen abzuhalten.
Als Walter Fisher neben ihr aufgetaucht war, war Soo schon beim dritten Kapitel angelangt. Der Klang seiner Stimme war so zudringlich gewesen, so anders als die Worte auf den Seiten des Buches, dass sie tatsächlich zusammengezuckt war. Was Gutes dabei?, hatte Walter gefragt und neugierig die Brauen hochgezogen. Scheint dich ja ziemlich zu interessieren. Weil du es bist, hatte er dann gesagt, kann ich dir die ganze Kiste für ein Achtel überlassen. Soo hätte feilschen sollen; denn Walter Fisher setzte den Preis immer zu hoch an. Aber im Grunde ihres Herzens hatte sie die Bücher längst gekauft. Okay, hatte sie gesagt und die Kiste aufgehoben. Abgemacht.
Die Geliebte des Leutnants, Tochter des Südens, Braut wider Willen, Gefahren der Liebe – noch nie im Leben hatte Soo etwas Ähnliches gelesen. Wenn sie sich die Zeit Davor ausmalte, war sie immer gleichbedeutend mit Maschinen gewesen – mit Autos und Motoren und Fernsehgeräten und Küchenherden und anderen Apparaten aus Metall und Draht, die sie in Banning gesehen hatte, ohne zu wissen, wozu sie gut waren. Vermutlich war es auch eine Welt der Menschen gewesen, aller möglichen Menschen, die Tag für Tag ihren Geschäften nachgingen. Aber weil diese Menschen nicht mehr da waren und sie nur die kaputten Maschinen zurückgelassen hatten, dachte Soo immer nur an die Maschinen.
Die Welt, die sie zwischen den Deckeln dieser Bücher fand, war erstaunlicherweise gar nicht so anders wie ihre eigene. Die Leute ritten auf Pferden und heizten ihre Häuser mit Holz und beleuchteten die Zimmer mit Kerzen, und diese äußere Ähnlichkeit hatte sie überrascht und zugleich ihr Herz für die Geschichten geöffnet, lauter glückliche Geschichten über die Liebe. Auch Sex kam vor, jede Menge Sex, aber er hatte kein bisschen Ähnlichkeit mit dem Sex, den sie mit Cort kannte. Er war feurig und leidenschaftlich, und manchmal merkte sie, dass sie die Seiten hastig überfliegen wollte, um zu einer dieser Szenen zu kommen. Aber das tat sie nicht; sie wollte, dass es möglichst lange dauerte.
Niemals hätte sie eins mit auf die Mauer nehmen dürfen, aber sie hatte es getan in der Nacht, als das Mädchen erschien. Das war ihr großer Fehler gewesen. Sie hatte es eigentlich nicht vorgehabt. Sie hatte das Buch den ganzen Tag in ihrem Beutel mit sich herumgetragen und auf eine freie Minute gehofft, und sie hatte vergessen, dass es da war. Na ja, vielleicht nicht gerade vergessen – aber ganz sicher war es nicht ihre Absicht gewesen, einen kurzen Besuch im Arsenal zu machen, wie sie es dann getan hatte. Aber dort, wo niemand sie sehen konnte, hatte sie es allein und in aller Stille herausgeholt und angefangen zu lesen. Das Buch war Die Ballschönheit (sie hatte inzwischen alle Bücher gelesen und wieder von vorn angefangen), und als sie den Anfang jetzt zum zweiten Mal las – wie die ungestüme Charlene die Treppe herunterkam und den arroganten, backenbärtigen Talbot Carver erblickte, den Gegenspieler ihres Vaters, den sie liebte, aber auch hasste –, da empfand sie wieder jenes Prickeln, diesmal jedoch noch stärker, denn sie wusste bereits, dass Charlene und Talbot am Ende zueinanderfinden würden. Das war das Beste an den Geschichten: Sie gingen immer gut aus.
Das alles ging Soo durch den Kopf, als sie vierundzwanzig Stunden später, nicht mehr im Rang des First Captain, aber noch immer mit der Ballschönheit im Beutel (warum konnte sie das verdammte Buch nicht einfach zu Hause lassen?) Schritte hinter sich hörte. Als sie sich umdrehte, sah sie, wie Jimmy Molyneau von der Leiter auf Feuerplattform neun trat. Natürlich war es Jimmy. Wahrscheinlich wollte er sich an ihrem Unglück weiden oder sich entschuldigen oder beides zugleich. Obwohl er besser den Mund halten sollte, dachte Soo verbittert, nachdem er bei der Ersten Glocke nicht zum Dienst erschienen war.
Jimmy?, sagte sie. Wo zum Teufel hast du gesteckt?
Die Nacht war voller Träume. In den Häusern und in der Kaserne, in der Zuflucht und im Krankenrevier wanderten Träume durch die schlafenden Seelen der Ersten Kolonie und senkten sich hier und da herab wie umherschwebende Geister.
Manche, wie Sanjay Patal, hatten einen geheimen Traum, der sie schon ihr Leben lang verfolgt hatte. Manchmal wussten sie von diesem Traum, manchmal nicht; der Traum war wie ein unterirdischer Fluss, der unablässig strömte und ab und zu an die Oberfläche kam, um für kurze Zeit im Tageslicht aufzuscheinen, als wandelten die Träumenden gleichzeitig in zwei Welten. Manche träumten von einer Frau in ihrer Küche, aus deren Mund Rauch herauskam. Andere, wie der Colonel, hatten von einem Mädchen im Dunkeln geträumt. Manche dieser Träume wurden zu Alpträumen – woran Sanjay sich nicht erinnerte und niemals erinnert hatte, war der Teil des Traums, in dem das Messer vorkam –, und manchmal war der Traum überhaupt nicht wie ein Traum, sondern realer als die Realität, und er ließ den Träumer hilflos in die Nacht hinausstolpern.
Woher kamen sie? Woraus bestanden sie? Waren es Träume, oder war es mehr – die Andeutung einer verborgenen Realität, einer unsichtbaren Ebene des Daseins, die sich nur in der Nacht offenbarte? Warum meinte man, es seien Erinnerungen – und nicht nur das, sondern die Erinnerungen eines anderen? Und warum schien in dieser Nacht die gesamte Einwohnerschaft der Ersten Kolonie in dieser Traumwelt zu versinken?
In der Zuflucht träumte eine der drei »Jots«, die kleine Jane Ramirez von einem Bären. Sie war die Tochter von Belle und Rey Ramirez – desselben Rey Ramirez, der sich in diesem Moment am Elektrozaun zu knisternder Asche verbrannte, nachdem er sich plötzlich beängstigend allein in der Kraftwerksstation gefühlt und einem dunklen Verlangen nachgegeben hatte, das er weder beschreiben noch zügeln konnte. Jane war gerade vier Jahre alt geworden. Bären kannte sie aus Büchern und aus den Geschichten, die die Lehrerin erzählte: große, freundliche Geschöpfe des Waldes mit pelzigem Wanst und sanftem Gesicht, in denen eine gutmütige tierische Weisheit wohnte. Das galt auch für den Bären in ihrem Traum, zumindest am Anfang. Jane hatte noch nie einen echten Bären gesehen, aber einen Viral schon. Sie gehörte zu den Kleinen in der Zuflucht, die den Viral Arlo Wilson mit eigenen Augen gesehen hatten. Sie war aus ihrem Bettchen aufgestanden, das in der letzten Reihe stand, am weitesten entfernt von der Tür – sie hatte Durst und wollte die Lehrerin um einen Becher Wasser bitten –, als er unter dem ohrenbetäubenden Krachen von Glas, Metall und Holz durch das Fenster hereingesprungen und praktisch auf ihr gelandet war. Zuerst hatte sie ihn für einen Mann gehalten, denn er sah aus wie ein Mann, genauso raumfüllend und präsent. Aber er trug keine Kleider, und etwas war anders an ihm, vor allem an seinen Augen und seinem Mund. Und er leuchtete. Er sah sie traurig an – sein trauriger Blick hatte sie an einen Bären denken lassen –, und Jane wollte ihn fragen, was ihm fehle und warum er so leuchte, aber da hörte sie hinter sich einen Schrei, und die Lehrerin kam auf sie zugerannt. Wie eine Wolke zog sie über Jane hinweg und ließ das Messer, das sie immer verborgen in einer Scheide unter den wallenden Röcken trug, auf ihn nieder. Was als Nächstes kam, konnte Jane nicht sehen – sie war hingefallen und kroch davon –, aber sie hörte einen leisen Aufschrei und ein reißendes Geräusch und einen dumpfen Aufschlag. Dann wurde wieder geschrien – »Hier drüben«, rief jemand, »ja, schau her!« –, und sie hörte Gebrüll und Rufe und aufgeregte Erwachsene, Mütter und Väter, die hin und her rannten, und ehe Jane sich versah, zerrte eine weinende Frau sie unter ihrer Pritsche hervor und schleifte sie mit all den anderen Kleinen die Treppe hinauf. (Erst später wurde ihr klar, dass diese Frau ihre Mutter war.)
Niemand hatte ihr diese verwirrenden Ereignisse erklärt, und Jane hatte auch niemandem erzählt, was sie gesehen hatte. Die Lehrerin war nicht mehr da; ein paar Kinder, Fanny Chou und Bowow Greenberg und Bart Fisher, verbreiteten tuschelnd, sie sei tot. Aber das glaubte Jane nicht. Tot sein bedeutete, dass man sich hinlegte und für immer einschlief, und die Frau, deren fliegenden Sprung sie gesehen hatte, war kein bisschen müde gewesen. Im Gegenteil – in diesem Augenblick war die Lehrerin wundersam und machtvoll lebendig gewesen, beseelt von einer Anmut und einer Kraft, die Jane noch nie gesehen hatte.
Janes Leben hier war fest geregelt. Die Zuflucht bot Ordnung, Sicherheit und Routine. Natürlich gab es die üblichen Streitereien und Kränkungen, und an manchen Tagen schien die Lehrerin von morgens bis abends brummig zu sein. Aber im Allgemeinen war die Welt, die Jane kannte, von einer Liebenswürdigkeit durchdrungen, die von der Lehrerin ausging: Ihre Person strahlte eine mütterliche Wärme aus, wie die Sonnenstrahlen Luft und Erde erwärmten. Jetzt, in den verwirrenden Nachwehen der nächtlichen Ereignisse, spürte Jane, dass sie einen kurzen Augenblick lang ins Innere dieser Frau geschaut hatte, die so selbstlos für sie gesorgt hatte.
Sie hatte erkannt, dass es Liebe war, was sie dort gesehen hatte. Es konnte nichts anderes als die Macht der Liebe sein, was die Lehrerin da in die Höhe geschnellt hatte, in die wartenden Arme des leuchtenden Bärenmannes. Er war ein Bärenprinz, der gekommen war, um sie in sein Schloss im Wald zu holen. Und vielleicht war die Lehrerin jetzt dort, und deshalb hatte man die Kleinen alle nach oben gebracht: damit sie dort auf sie warteten. Wenn sie zurückkäme, wenn sie als Königin des Waldes gefeiert würde, dann würde man sie alle wieder hinunter in den Schlafsaal bringen, um die Lehrerin willkommen zu heißen und ein großes Fest zu feiern.
Das waren die Geschichten, die Jane sich beim Einschlafen erzählte, in einem Raum zusammen mit fünfzehn anderen Kindern, die alle ihre eigenen Träume träumten. Janes Traum begann als Neufassung der vergangenen Nacht; sie sprang im Großen Saal auf ihrem Bett herum, als sie den Bären hereinkommen sah. Diesmal kam er aber nicht durch das Fenster, sondern durch die Tür, die klein und weit weg war, und er sah anders aus als in der Nacht davor, bärenhafter, dick und pelzig wie die Bären in den Büchern, und weise und freundlich kam er auf allen vieren auf sie zu. Als er am Fußende ihres Bettes angekommen war, hockte er sich auf die Hinterbeine und richtete sich langsam auf, und sie sah den daunenweichen Pelzteppich auf seinem dicken, runden Bauch, den riesigen Bärenkopf mit den feucht schimmernden Bärenaugen und die großen, paddelförmigen Tatzen. Es war ein wundervoller Anblick, seltsam und zugleich nicht unerwartet – wie ein Geschenk, mit dem Jane schon immer gerechnet hatte. Bewunderung für dieses große, edle Wesen durchströmte ihr vierjähriges Herz. Er blieb eine Weile so stehen und betrachtete sie nachdenklich, und dann redete er sie an, während sie immer noch glücklich auf und ab hüpfte, und sagte mit der dunklen, männlichen Stimme seiner Waldheimat: Hallo, kleine Jane. Ich bin Mister Bär. Ich bin gekommen, um dich zu fressen.
Das klang lustig. Jane fühlte das Kitzeln im Bauch, mit dem das Lachen anfing. Aber der Bär reagierte nicht, und als der Augenblick sich in die Länge zog, sah sie, dass er auch noch andere Eigenschaften hatte, verstörende Eigenschaften: seine Krallen, die weiß und gekrümmt an seinen dicken Tatzen saßen, seinen breiten, starken Kiefer, seine Augen, die nicht mehr freundlich oder weise aussahen, sondern dunkel und erfüllt von unergründlichen Absichten. Wo waren die anderen Kinder? Warum war Jane allein im Großen Saal? Aber sie war nicht allein; die Lehrerin war jetzt auch in ihrem Traum und stand neben dem Bett. Sie sah aus wie immer. Nur ihre Gesichtszüge waren ein wenig verschwommen, als trage sie eine Schleiermaske. Komm jetzt, Jane, drängte die Lehrerin. Die anderen Kleinen hat er alle schon gefressen. Jetzt sei brav und hör auf zu springen, damit Mister Bär dich auch fressen kann. Ich – will – nicht, antwortete Jane und hüpfte weiter, denn sie wollte nicht gefressen werden. Die Bitte der Lehrerin klang zwar eher albern als beängstigend, aber trotzdem. Ich – will – nicht. Ich mein’s ernst, sagte die Lehrerin warnend, und ihre Stimme wurde lauter. Ich bitte dich noch einmal in aller Freundlichkeit, kleine Jane. Ich zähle bis drei. Ich – will – nicht. Siehst du?, sagte die Lehrerin zu dem Bären, der immer noch aufrecht am Fußende stand. Genervt hob sie die blassen Arme. Siehst du es jetzt? Damit muss ich mich den ganzen Tag herumschlagen. Das kann einen schon um den Verstand bringen. Okay, Jane, sagte sie dann, du willst es nicht anders. Sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.
An dieser Stelle nahm der Traum seine letzte, unheimliche Wendung ins Reich des Alptraums. Die Lehrerin packte Jane bei den Handgelenken und drückte sie auf das Bett herunter. Aus der Nähe sah Jane, dass an dem Hals der Frau ein Stück fehlte, wie bei einem Apfel, in den jemand gebissen hatte, und etwas Faseriges hing dort herab, ein paar baumelnde Streifen und Schläuche, nass und glitzernd und ekelhaft. Erst jetzt begriff Jane, dass die anderen Kinder nicht da waren, weil sie tatsächlich gefressen worden waren, genau wie es die Lehrerin gesagt hatte. Mister Bär hatte sie alle aufgefressen, eins nach dem anderen. Aber er war nicht mehr Mister Bär, er war ein leuchtender Mann. Lass mich los, schrie Jane. Ich will nicht, schrie Jane, ich will nicht! Aber sie war nicht stark genug, um Widerstand zu leisten. Und so musste sie zusehen, wie erst ihr Fuß und ihr Knöchel und dann das ganze Bein in seiner dunklen Schnauze verschwand.
Die Träume zeugten davon, wie verschieden die Sorgen und Ängste waren. Es gab so viele Träume, wie es Träumende gab. Gloria Patal träumte von einem riesigen Bienenschwarm, der ihren Körper bedeckte. Ein Teil ihrer selbst wusste, dass die Bienen symbolisch zu verstehen waren. Jede Biene, die über ihre Haut kroch, war eine Sorge, die sie im Leben begleitete. Kleine Sorgen, zum Beispiel, ob es an einem Tag, an dem sie im Freien arbeiten wollte, regnen würde oder nicht. Oder ob Mimi, Rajs Witwe und ihre einzige echte Freundin, wütend auf sie war, weil sie nicht, wie sonst täglich, auf einen Sprung bei ihr vorbeigeschaut hatte. Aber auch größere Sorgen. Sorgen um Sanjay und um Mausami. Die Sorge, dass die Schmerzen in ihrem Kreuz und der Husten, den sie manchmal hatte, Vorboten von etwas Schlimmerem sein könnten. Zu diesem Katalog gehörte auch die wehmütige Liebe zu jedem der Babys, die sie nicht hatte austragen können, und der bange Knoten, der sich bei jeder Abendglocke in ihrem Magen zusammenschnürte und der mit der Befürchtung zu tun hatte, dass ihr Schicksal und das der anderen im Grunde schon besiegelt war. Es ließ sich nicht vermeiden, daran zu denken, dass ihre Chancen gering waren. Man tat sein Bestes und machte weiter wie gehabt, aber Fakten waren Fakten. Eines Tages würden diese Lichter ausgehen. Die größte Sorge von allen war deshalb vielleicht die, dass man eines Tages erkennen würde, worauf sämtliche Sorgen des Lebens hinausliefen: auf die Sehnsucht danach, einfach keine Sorgen mehr zu haben.
Das waren die Bienen: große und kleine Sorgen; und im Traum wimmelten sie auf ihr herum, auf ihren Armen und Beinen, auf dem Gesicht und in den Augen, sogar in den Ohren. Die Umgebung dieses Traums entsprach ihrem letzten wachen Augenblick; nachdem sie erfolglos versucht hatte, ihren Mann aus dem Bett zu holen, und nachdem sie Jimmy und Ian und Ben und die anderen abgewimmelt hatte, die gekommen waren, um sich mit ihm zu beraten – über den Jungen Caleb –, war Gloria am Küchentisch eingeschlafen. Ihr Kopf war nach hinten gefallen, ihr Mund stand offen, und ein leises Schnarchen kam aus ihrer Kehle. Das alles war auch in dem Traum so (das Geräusch ihres Schnarchens war das Summen der Bienen), und nur der Schwarm war dazugekommen, war aus Gründen, die ihr nicht völlig klar waren, in die Küche eingedrungen, während sie schlief, und hatte sich geschlossen auf sie gelegt wie eine große, zitternde Wolldecke. Jetzt erschien es völlig normal, dass Bienen so etwas taten. Wieso hatte sie sich nicht besser vorgesehen? Gloria fühlte das prickelnde Scharren der winzigen Füße auf ihrer Haut, das summende Schwirren ihrer Flügel. Sie wusste, wenn sie sich bewegte, ja wenn sie nur atmete, würde sie die Bienen zu tödlicher Wut reizen, und sie würden sie alle stechen. Sie blieb in diesem Zustand qualvoller Reglosigkeit – es war ein Traum der Bewegungsunfähigkeit –, und als sie Sanjays Schritte auf der Treppe hörte und seine Anwesenheit in der Küche spürte, und als er dann wortlos hinausging und die Fliegentür klatschend zufiel, ertönte in Glorias Kopf ein lautloser Schrei, der sie ins Hier und Jetzt zurückholte und zugleich jede Erinnerung an das Geschehene auslöschte: Als sie aufwachte, hatte sie nicht nur die Bienen vergessen, sondern auch die Sache mit Sanjay.
Auf der anderen Seite der Kolonie lag Elton, sein Leben lang ein Träumer prachtvoll ausgeschmückter, erotischer Fantasien, in seiner eigenen Duftwolke auf der Pritsche und hatte einen guten Traum. Diesen Traum – den Traum im Heu – hatte Elton am liebsten, denn er war wahr, ein Traum aus dem Leben. Auch wenn Michael es ihm nicht glaubte – und warum sollte er auch? –, hatte es vor vielen Jahren eine Zeit gegeben, als Elton, ein Mann von zwanzig Jahren, die Gunst einer unbekannten Frau genoss, die ihn anscheinend erwählt hatte, weil seine Blindheit für sein Schweigen garantierte. Wenn er nicht wusste, wer die Frau war – und sie sprach nie mit ihm –, konnte er auch nichts erzählen. Vermutlich war sie verheiratet, und vielleicht wollte sie ein Kind, das sie mit ihrem Mann nicht bekommen konnte, oder sie wollte auch nur ein bisschen Abwechslung. (In Augenblicken des Selbstmitleids fragte Elton sich, ob sie es als Mutprobe betrachtet hatte.) Eigentlich kam es nicht darauf an. Ihre stets nächtlichen Besuche waren ihm willkommen. Manchmal weckte ihn das Erlebnis mit seinen ausgeprägten Empfindungen einfach auf, als sei die Realität aus einem Traum erwachsen, in den sie dann wieder zurückkehrte und die leeren Nächte befeuerte, die danach kamen. Dann wieder kam die Frau zu ihm, nahm ihn schweigend bei der Hand und führte ihn woandershin. So wie in dem Heutraum, der sich in der Scheune abspielte, umgeben vom Wiehern der Pferde und von dem süßen, trockenen Duft von frisch gemähtem Gras. Die Frau sprach nicht; die einzigen Laute, die aus ihrem Mund kamen, waren Laute der Liebe, und es war viel zu schnell zu Ende. Ein Haarbüschel streifte seine Wange, als die Frau sich mit einem letzten, erschauernden Ausatmen von ihm löste und wortlos erhob. Er träumte diese Ereignisse immer genau so, wie sie gewesen waren, bis zu dem Augenblick, als er allein auf dem Boden der Scheune lag und sich nur wünschte, er hätte die Frau sehen oder wenigstens hören können, wie sie seinen Namen sprach. Dann schmeckte er Salz auf den Lippen und wusste, dass er weinte.
Aber nicht heute Nacht. Heute Nacht, als es zu Ende war, beugte sie sich über sein Gesicht und flüsterte ihm ins Ohr.
»Jemand ist im Lichthaus, Elton.«
Sara Fisher war im Krankenrevier und träumte nicht, aber das Mädchen tat es anscheinend. Von der leeren Pritsche aus, auf der sie saß, sah Sara, dass die Augen des Mädchens hin und her flackerten, als wanderten sie über eine unsichtbare Landschaft. Sara hatte Dale mit Mühe und Not überreden können, den Mund zu halten. Sie hatte ihm versprochen, den Haushalt gleich morgen zu informieren, denn jetzt müsse das Mädchen schlafen. Und wie um diese Behauptung zu untermauern, hatte das Mädchen genau das getan und sich zusammengerollt. Sara betrachtete sie und fragte sich, was das Ding in ihrem Nacken gewesen war, was Michael herausfinden würde und warum sie, wenn sie das Mädchen anschaute, glaubte, sie träume von Schnee.
Es gab nicht wenige andere, die auch nicht schliefen. Die Nacht war voll von wachen Seelen. Galen Strauss zum Beispiel: Er stand auf seinem Posten auf der Nordmauer – Feuerplattform zehn – und blinzelte in den Lichtkreis der Scheinwerfer, und zum hundertsten Mal an diesem Tag sagte er sich, er sei kein Vollidiot. Dass er das Bedürfnis hatte, sich das einzureden – er hatte sich tatsächlich dabei ertappt, dass er die Worte vor sich hin murmelte – bedeutete natürlich, dass er doch einer war. Das wusste sogar er. Er war ein Idiot. Er war ein Idiot, weil er dachte, er könnte Mausami dazu bringen, ihn so zu lieben, wie er sie liebte. Er war ein Idiot, weil er sie geheiratet hatte, obwohl alle Welt wusste, dass sie Theo Jaxon liebte. Er war ein Idiot, weil er seinen Stolz heruntergeschluckt hatte, als sie ihm von dem Baby erzählte und ihm diese blöde Lüge mit den drei Monaten aufgetischt hatte. Weil er ein dämliches Lächeln aufgesetzt und nur gesagt hatte: ein Baby. Wow. Was sagt man dazu.
Er wusste verdammt genau, von wem das Kind war. Einer der Schrauber, Finn Darrell, hatte ihm von der Nacht unten im Kraftwerk erzählt. Finn war aufgestanden, um zu pinkeln; er hatte ein Geräusch aus einem der Lagerräume gehört und war hingegangen, um nachzusehen. Die Tür war geschlossen, erzählte er, aber man brauchte sie nicht aufzumachen, um zu wissen, was dahinter los war. Finn war ein Typ, dem es ein bisschen zu viel Spaß machte, einem etwas zu erzählen, wovon er glaubte, man müsse es wissen. Seinen Worten war anzumerken, dass er sehr viel länger vor der Tür gestanden hatte, als nötig war. Mensch, hatte er gesagt, macht sie dabei immer solche Geräusche?
Dieser verfluchte Finn Darrell. Dieser verfluchte Theo Jaxon.
Trotzdem hatte Galen sich einen hoffnungsvollen Moment lang der Vorstellung hingegeben, das Kind könne das Verhältnis zwischen ihnen vielleicht verbessern. Das war dämlich, aber er hatte es trotzdem gehofft. Natürlich hatte das Kind die Streitereien zwischen ihnen in Wirklichkeit nur verschärft. Wenn Theo von seinem Ritt ins Tal zurückgekommen wäre, hätten sie es ihm wahrscheinlich auf der Stelle gebeichtet. Galen konnte sich die Szene gut vorstellen: Es tut uns leid, Galen. Wir hätten es dir sagen müssen. Es ist einfach irgendwie … passiert. Demütigend – aber immerhin wäre es dann vorbei gewesen. Wie die Dinge jetzt lagen, würden er und Maus in Ewigkeit mit dieser Lüge leben müssen. Wahrscheinlich würden sie einander schließlich verachten, wenn sie es nicht jetzt schon taten.
Diese Gedanken gingen ihm durch den Kopf, und zugleich dachte er auch mit Grauen an den nächsten Morgen, wenn er zum Kraftwerk würde reiten müssen. Der Befehl war von Ian gekommen, aber Galen hatte das dumpfe Gefühl, dass es nicht Ians Idee gewesen war – wahrscheinlich steckte Jimmy dahinter, vielleicht, auch Sanjay. Er durfte einen Läufer mitnehmen, aber das war alles; sie konnten niemanden sonst entbehren. Mach den Laden da unten dicht, und warte auf die nächste Ablösungsmannschaft, hatte Ian gesagt. Drei Tage, Maximum. Okay, Galen? Schaffst du das? Und natürlich hatte er gesagt, ja, kein Problem. Er hatte sich sogar ein bisschen geschmeichelt gefühlt. Im Laufe der nächsten Stunden hatte er allerdings gemerkt, dass er seine schnelle Zustimmung bereute. Er war noch nicht oft im Tal gewesen, und es war furchtbar dort – all die leeren Gebäude und die Slims, die in ihren Autos schmorten –, aber das war nicht das eigentliche Problem. Das Problem war: Galen hatte Angst. Die Leute wussten nicht, wie schlecht seine Augen in Wirklichkeit waren. Nicht einmal Maus wusste es. Sie wussten es natürlich, aber nicht wirklich, sie kannten nicht das ganze Ausmaß, und es schien jeden Tag schlimmer zu werden. Sein Gesichtsfeld war auf weniger als zwei Meter geschrumpft, und alles, was weiter weg war, verschwand zusehends in rauchiger Leere, all die schwankenden Gestalten und formlosen Farben und Lichtflecken. Er hatte alle möglichen Brillen aus dem Lagerhaus ausprobiert, aber keine hatte geholfen. Von den Brillen bekam er nur Kopfschmerzen, die sich anfühlten, als bohrte ihm jemand eine Messerklinge in die Schläfe, und deshalb hatte er es schon längst aufgegeben. Stimmen konnte er ziemlich gut unterscheiden, und meistens konnte er das Gesicht in die richtige Richtung drehen, doch er sah so vieles nicht, und er wusste, dass er deshalb schwerfällig und dumm erschien, aber das war er nicht. Er wurde nur blind.
Und jetzt würde er – Second Captain der Wache – morgen früh den Berg hinunterreiten, um das Kraftwerk zu sichern. Ein Auftrag, der ihm in Anbetracht dessen, was mit Zander und Arlo passiert war, wie ein Himmelfahrtskommando vorkam. Hoffentlich würde er noch Gelegenheit finden, mit Jimmy darüber zu reden und ihn vielleicht zur Vernunft zu bringen, aber bisher war der Kerl nicht aufgetaucht.
Apropos – wo steckte Jimmy eigentlich? Soo war irgendwo da draußen, und Dana Curtis auch; weil Arlo und Theo nicht mehr da waren und Alicia endgültig vom Wachdienst suspendiert war, hatte Dana ihre Arbeit als Ausbilderin aufgegeben und bewachte jetzt die Mauer wie alle andern. Galen kam gut mit ihr aus, und die Tatsache, dass sie jetzt dem Haushalt angehörte, dachte er, würde ihr vielleicht ein bisschen Einfluss auf Jimmy verschaffen. Vielleicht sollten sie beide sich über diesen Ritt unterhalten. Soo war auf Neun, Dana auf Acht. Wenn er sich beeilte, könnte er in ein paar Minuten wieder auf seinem Posten sein. Und übrigens, was er da hörte – Stimmen, scheinbar ganz in der Nähe, aber Geräusche trugen nachts ziemlich weit –, war das nicht Soo Ramirez? Und gehörte die andere Stimme nicht Jimmy? Wenn er jetzt Dana auftreiben könnte, genügten vielleicht ein paar richtige Worte, um Jimmy zur Einsicht zu bringen. Vielleicht könnten Soo oder Dana sagen, ja, natürlich, ich kann auch runter zum Kraftwerk reiten, und wieso sollte es ausgerechnet Galen tun?
Nur zwei Minuten, dachte Galen, und er nahm seine Armbrust und ging davon.
Zu selben Zeit saßen Peter und Alicia in dem alten Wohnwagen und spielten Karten. Sie hatten nur noch das Licht der Scheinwerfer, und so wurde ihr Spiel unkonzentriert, aber beiden war es schon lange gleichgültig, wer gewann – falls es sie überhaupt je interessiert hatte. Peter überlegte, ob er Alicia erzählen sollte, was im Krankenrevier passiert war, dass er eine Stimme im Kopf gehört hatte, aber mit jeder Minute fiel es ihm schwerer. Er wusste nicht, wie er es erklären sollte. Er hatte Worte in seinem Kopf gehört. Seine Mutter vermisste ihn. Ich muss träumen, sagte er sich, und als Alicia ungeduldig ihre Karten hob und ihn damit aus seinen Gedanken riss, schüttelte er nur den Kopf. Es ist nichts weiter, sagte er. Du legst aus.
Auch Sam Chou war zu dieser Stunde wach, um halb-plus-eins im Log der Wache. Er war ein Mann, der nichts so sehr liebte wie sein gemütliches Bett und die zärtlichen Arme seiner Frau. Aber Sandy war in die Zuflucht gezogen – sie hatte angeboten, so lange dortzubleiben, bis man eine Nachfolgerin für die Lehrerin gefunden hatte –, und so war Sam aus seinem gewohnten Rhythmus gerissen und starrte an die Decke. Außerdem bedrückte ihn ein Gefühl, das er, als der Tag in die Nacht überging, als Verlegenheit erkannt hatte. Diese komische Geschichte vor dem Gefängnis: Er hatte keine Erklärung dafür. In der Hitze des Augenblicks hatte er aufrichtig geglaubt, etwas müsse geschehen. Aber in den Stunden seitdem – er hatte seine Kinder in der Zuflucht besucht, die die Erlebnisse anscheinend gut überstanden hatten – hatte Sam festgestellt, dass er über die Sache mit Caleb erheblich maßvoller urteilte. Caleb war schließlich noch ein Junge, und Sam sah jetzt ein, dass sich dadurch, dass man ihn hinauswarf, nichts bessern würde. Er hatte auch ein schlechtes Gewissen, weil er Belle so aufgestachelt hatte – solange Rey unten im Kraftwerk war, musste die Frau ja außer sich vor Sorge sein. Er und Alicia konnten einander zwar nicht ausstehen, er musste jedoch zugeben, dass es nur gut gewesen war, dass sie sich eingeschaltet hatte. Was hätte nicht alles passieren können, wenn sie es nicht getan hätte. Sam hatte später nochmals mit Milo geredet und ihm vorgeschlagen, über alles in Ruhe nachzudenken, und wenn sie darüber geschlafen hätten, würde die Sache vielleicht schon ganz anders aussehen. Milo hatte mit unverhohlener Erleichterung reagiert. Okay, gut, hatte er gesagt. Vielleicht hast du recht. Mal sehen, wie wir morgen früh darüber denken.
Und jetzt hatte Sam Gewissensbisse wegen der Angelegenheit, und ein bisschen verwirrt war er außerdem, denn es passte nicht zu ihm, so wütend zu werden. Es war überhaupt nicht seine Art. Einen Augenblick lang da draußen vor dem Gefängnis hatte er es wirklich geglaubt: Jemand musste dafür bezahlen. Es war völlig gleichgültig gewesen, dass es nur ein wehrloser Junge war, der wahrscheinlich geglaubt hatte, jemand auf der Mauer habe ihm befohlen, das Tor zu öffnen. Und das Sonderbarste war eigentlich, dass Sam die ganze Zeit kaum oder gar nicht an das Mädchen gedacht hatte, an den Walker, und dabei war sie der Grund dafür, dass die ganze Sache überhaupt passiert war. Er sah, wie das Licht der Scheinwerfer auf der Dachtraufe über seinem Kopf glänzte, und fragte sich, wie das hatte kommen können. Mein Gott, dachte er. Nach all den Jahren – ein Walker. Und nicht bloß ein Walker, sondern ein junges Mädchen noch dazu. Sam gehörte nicht zu denen, die immer noch glaubten, dass die Army kommen würde – man musste schon ziemlich dämlich sein, um daran nach all den Jahren noch zu glauben –, aber ein solches Mädchen hatte etwas zu bedeuten. Es bedeutete, dass noch jemand am Leben war. Vielleicht sogar viele Menschen. Und als er darüber nachdachte, stellte er fest, dass ihm diese Vorstellung seltsam … unbehaglich war. Er hätte nicht genau sagen können, warum, aber dieses Mädchen von Nirgendwo war ein Mosaikstein, der nicht ins Bild passte. Und was wäre, wenn all diese Leute plötzlich aus heiterem Himmel hereinschneiten? Was, wenn sie nur der Anfang einer ganzen Welle von Walkern wäre, die den Schutz der Scheinwerfer suchten? Lebensmittel und Brennstoff gab es hier nicht in unbegrenzter Menge. Sicher, in den Anfangstagen der Kolonie hatte man es wahrscheinlich nicht übers Herz gebracht, die Walker abzuweisen. Aber war die Situation heute nicht ein bisschen anders? Nach so langer Zeit? Nachdem alles irgendwie ins Gleichgewicht gekommen war? Denn Tatsache war, dass Sam Chou sein Leben liebte. Er gehörte nicht zu den Sorgenmachern, den Bedenkenträgern, den Hütern dunkler Gedanken. Er kannte solche Leute – Milo war so jemand –, doch Sams Sache war das nicht. Natürlich konnten schreckliche Dinge passieren, doch das war doch immer schon so gewesen, und einstweilen hatte er sein Bett und sein Haus und seine Frau und seine Kinder, sie hatten genug zu essen, sie hatten Kleider, und sie hatten den Schutz der Scheinwerfer. War das nicht genug? Und je länger Sam darüber nachdachte, desto klarer wurde ihm, dass nicht Caleb derjenige war, mit dem etwas geschehen musste, sondern das Mädchen. Und das würde er Milo morgen früh vielleicht sagen: Mit diesem Mädchen von Nirgendwo muss etwas geschehen.
Michael Fisher war ebenfalls wach. Die meiste Zeit betrachtete er Schlafen als Zeitverschwendung, als eine der unsinnigen Forderungen des Körpers an den Geist. Seine Träume – wenn er überhaupt Lust hatte, sich an sie zu erinnern – waren allesamt Variationen von dem, was er im wachen Zustand erlebte: Sie handelten von Schaltkreisen und Unterbrechern und Relais, von tausend Problemen, die gelöst werden mussten, und wenn er aufwachte, fühlte er sich nicht erholt, sondern brutal durch die Zeit katapultiert, ohne dass irgendetwas erreicht worden wäre.
Aber heute Nacht war es anders. Heute Nacht hatte Michael Fisher etwas entdeckt. Der Inhalt des Chips, der sich in seiner gewaltigen Fülle in den Mainframe ergossen hatte – eine wahre Flut von Daten –, war nicht weniger als eine Neuschreibung der Welt. Diese Erkenntnis ließ Michael jetzt ein weiteres Risiko eingehen: Er wollte eine Antenne oben auf die Mauer setzen. Auf dem Dach des Lichthauses hatte er angefangen und eine Zwanzig-Meter-Spule unisolierten Drei-Millimeter-Kupferdraht mit der Antenne verbunden, die sie schon vor Monaten im Kamin angebracht hatten. Zwei weitere Spulen hatten ihn bis an die Mauer gebracht. Mehr Kupferdraht hatte er nicht übrig. Für den Rest würde er ein isoliertes Hochspannungskabel benutzen, das er mit der Hand abisolieren musste. Das Problem bestand jetzt darin, das Kabel bis zur Mauerkrone hinauf zu verlegen, ohne dass die Wache es bemerkte. Er hatte zwei weitere Spulen aus dem Schuppen geholt, und jetzt stand er in dem dunklen Winkel unter einer der Stützstreben und überlegte, wie er es am besten anstellte. Die nächste Leiter, zwanzig Meter links von ihm, führte zum Feuerposten neun hinauf. Dort würde er niemals unbemerkt hinaufsteigen können. Eine zweite Leiter befand sich auf halbem Wege zwischen Posten acht und sieben. Sie wäre ideal, aber sein Kabel reichte nicht so weit.
Damit blieb nur eine Möglichkeit. Er musste eine Kabelrolle über die hintere Leiter hinaufschaffen, oben auf der Mauer bis zu der Stelle über dem Durchlass gehen, das Kabel oben befestigen und dann zum Boden hinunterlassen, um es unten mit dem zweiten Kabel zu verbinden. Und das alles, ohne dass ihn jemand fragte, was zum Teufel er da mache.
Michael kniete sich auf den Boden, nahm die Drahtschere aus dem alten Segeltuchrucksack, den er als Werkzeugtasche benutzte, und fing an, das Kabel abzuspulen und die Plastikumhüllung abzustreifen. Die ganze Zeit lauschte er nach klackenden Schritten auf der Mauer über ihm, die ihm signalisierten, dass ein Läufer vorüberkam. Als der Draht abisoliert und wieder aufgerollt war, hatte er sie zweimal gehört, und er war halbwegs sicher, dass er jetzt ein paar Minuten Zeit hatte, bevor der Nächste käme. Er stopfte alles in seinen Rucksack, eilte zur Leiter und atmete einmal tief durch, bevor er hochstieg.
Mit Höhen hatte Michael schon immer Probleme gehabt – er stand nicht einmal gern auf einem Stuhl –, und in seiner Entschlossenheit hatte er versäumt, diesen Umstand in seine Kalkulationen einzubeziehen. Als er nach einem Aufstieg von zwanzig Metern, die ihm wie das Zehnfache vorkamen, oben angekommen war, erwachten erste Zweifel an der Klugheit dieses Unternehmens. Er hatte panisches Herzklopfen, und seine Glieder hatten sich in Pudding verwandelt. Auf dem Laufsteg entlangzulaufen, einem offenen Metallgitter über dem tiefen Abgrund, würde seine ganze Willenskraft erfordern. In seinen Augen brannte der Schweiß, als er sich über die letzte Sprosse hinaufzog und bäuchlings auf das Gitter rutschte. Im gleißenden Licht der Scheinwerfer und ohne die gewohnten Bezugspunkte am Boden und am Himmel erschien ihm alles größer und näher, lebendig und aufgebläht. Aber wenigstens schien niemand ihn bemerkt zu haben. Er hob den Kopf. Plattform acht, hundert Meter weit links von ihm, war anscheinend leer. Kein Wächter war auf dem Posten. Warum das so war, wusste Michael nicht, aber er nahm es als ermutigendes Zeichen. Wenn er sich beeilte, konnte er wieder im Lichthaus sein, ohne dass jemandem etwas auffiel.
Er machte sich auf den Weg, und als er sein Ziel erreicht hatte, ging es ihm schon besser, viel besser sogar. Seine Angst hatte sich gelegt, und stattdessen empfand er eine belebende Zuversicht. Es würde klappen. Plattform acht war immer noch leer; wer immer dort Dienst hatte, würde wahrscheinlich einen Haufen Ärger bekommen, doch Michael hatte dadurch den Spielraum, den er brauchte. Er kniete nieder und zog die Drahtspule aus dem Rucksack. Der Laufsteg bestand aus einer Titanlegierung; er würde selbst einen brauchbaren Leiter abgeben und seine vorteilhaften elektromagnetischen Eigenschaften denen des Drahtes hinzufügen: Im Grunde verwandelte Michael die gesamte Mauerkrone in eine gigantische Antenne. Mit dem Schraubenschlüssel löste er eine der Schrauben, die den Gitterrost mit dem Rahmen verbanden, und schlang den blanken Draht um das Gewinde. Dann ließ er die Rolle hinunterfallen. Er hörte den dumpfen Aufschlag.
Amy, dachte er. Wer hätte gedacht, dass das Mädchen von Nirgendwo einen Namen wie Amy hatte?
Michael konnte nicht wissen, dass Feuerplattform acht leer war, weil die dort diensthabende Dana Curtis bereits tot am Fuße der Mauer lag. Jimmy hatte sie umgebracht, gleich nachdem er Soo Ramirez getötet hatte. Soo zu ermorden hatte er wirklich nicht vorgehabt; er hatte ihr nur etwas sagen wollen. Goodbye? Es tut mir leid? Ich habe dich immer geliebt? Aber mit der seltsamen Unausweichlichkeit dieser Nacht, der Nacht der Klingen und der Sterne, hatte eins zum andern geführt, und jetzt waren sie alle zwei nicht mehr da.
Galen Strauss, der von der anderen Seite herankam, beobachtete diese Ereignisse wie durch das falsche Ende eines Teleskops: ein ferner Klecks aus Farbe und Bewegung, weit außerhalb seines Gesichtsfelds. Wäre in dieser Nacht jemand anders auf Plattform zehn gewesen, jemand mit besseren Augen, der nicht an einem akuten Glaukom erblindete wie Galen Strauss, hätte sich vielleicht ein klareres Bild des Geschehens ergeben. Aber so würde niemand außer den unmittelbar Beteiligten wissen, was sich auf Feuerplattform neun ereignet hatte, und auch sie hatten es nicht verstanden.
Was geschah, war Folgendes:
Die Wächterin Soo Ramirez drehte sich um und sah, wie Jimmy sich auf die Plattform hochzog. Ihre Gedanken kreiselten noch immer in den Strudeln der Ballschönheit, genauer gesagt mitten in einer Szene, die in einer fahrenden Kutsche während eines Gewitters spielte und so lebendig geschildert war, dass Soo sich praktisch Wort für Wort an alles erinnern konnte (Der Himmel tat sich auf, und Talbot umschlang Charlene mit seinen starken Armen und presste seine Lippen mit glühender Macht auf ihre. Seine Hände fanden die seidenweiche Wölbung ihrer Brust, und Wogen der Leidenschaft durchfluteten sie …). Soo war gleich zweifach verärgert (er störte sie, und er hatte sich verspätet), doch irgendetwas sagte ihr, dass sie ihm unrecht tat. Irgendetwas stimmt nicht mit ihm, dachte sie. Das ist nicht der Jimmy, den ich kenne. Er blieb einen Moment lang in merkwürdig schlaffer Haltung stehen und blinzelte verwirrt ins Licht wie ein Mann, der gekommen war, um etwas bekannt zu geben, und jetzt seinen Text vergessen hatte. Vielleicht, dachte Soo, wusste sie schon, welche unausgesprochene Mitteilung er ihr zu machen hatte. Sie hatte schon seit einer Weile das Gefühl, dass Jimmy zwischen ihnen beiden mehr als nur Freundschaft sah, und unter anderen Umständen hätte sie sich gefreut, es von ihm zu hören. Aber nicht jetzt. Nicht heute Nacht auf Feuerplattform neun.
»Es sind ihre Augen«, sagte er matt. Er schien Selbstgespräche zu führen. »Zumindest dachte ich, es wären ihre Augen.«
Soo tat einen Schritt auf ihn zu. Sein Gesicht war abgewandt, als bringe er es nicht über sich, sie anzusehen. »Jimmy? Wessen Augen?«
Aber er antwortete nicht. Eine Hand wanderte zum Saum seines T-Shirts und zupfte daran herum, wie ein nervöser Junge an seinen Kleidern herumfummelt. »Spürst du es nicht, Soo?«
»Jimmy, wovon redest du?«
Er hatte angefangen, mit den Lidern zu klappern, und dicke Tränen, funkelnd wie Diamanten, rollten über seine Wangen. »Sie sind so verdammt traurig.«
Irgendetwas passierte mit ihm, das konnte sie sehen, irgendetwas Schlimmes. Unvermittelt riss er sich das T-Shirt über den Kopf und schleuderte es über die Brüstung. Im Licht glänzte seine Brust von Schweiß.
»Diese Kleider«, knurrte er. »Ich kann diese Kleider nicht ausstehen.«
Sie hatte ihre Armbrust an die Brüstung gelehnt und wollte gerade danach greifen, aber sie hatte zu lange gewartet: Jimmy kam von hinten und packte ihren Hals. Eine ruckartig drehende Bewegung, und in ihrem Nacken zerbrach etwas mit einem Knacks. Ihr Körper war weg, einfach so, ihr Körper trieb davon und war nicht mehr da. Sie wollte schreien, aber kein Laut kam aus ihrer Kehle. Lichtpunkte trieben vor ihren Augen dahin wie silberne Scherben. (Oh, Talbot, stöhnte Charlene, als er sich an sie drängte, und sie konnte sich dem lustvollen Angriff seiner Männlichkeit nicht länger wiedersetzen. Oh, Talbot, ja, lass uns dieses absurde Spiel beenden …). Jemand anders kam auf sie zu; sie hörte Schritte auf der Mauer, auf der sie jetzt hilflos lag, und dann das Schwirren eines Armbrustbolzens und einen erstickten, keuchenden Aufschrei. Und jetzt war sie in der Luft. Jimmy hob sie hoch und würde sie über die Mauerbrüstung werfen. Sie wünschte, sie hätte ein anderes Leben gelebt, aber sie hatte dieses gehabt, und sie wollte es noch nicht verlassen. Dann fiel sie, tiefer und tiefer und tiefer.
Sie lebte noch, als sie unten aufschlug. Die Zeit lief langsamer, kehrte sich um und begann wieder von vorn. Die Scheinwerfer strahlten ihr in die Augen, und sie schmeckte Blut im Mund. Über ihr sah sie Jimmy am Rand der Brüstung stehen, nackt und schweißglänzend, und dann war auch er verschwunden.
Und im letzten Augenblick, bevor alles Denken zu Ende war, hörte sie die laute Stimme des Läufers Kip Darrell hoch oben auf der Mauer. »Sichtung, wir haben eine Sichtung! Heilige Scheiße, die sind überall!«
Aber seine letzten Worte hallten durch die Dunkelheit. Die Lichter waren erloschen.