71

Sie kamen den Berg herunter, als der Fluss auftaute. Sie fuhren über den Schnee, alle zusammen, mit Rucksack und blitzendem Messer. Sie kamen herunter ins Tal, Michael am Steuer des Sno-Cat, Greer an seiner Seite, die anderen hinter ihnen, Wind und Sonne in den Gesichtern. Sie kamen endlich herunter in das wilde Land, das sie wieder in Besitz genommen hatten.

Sie fuhren nach Hause.

Einhundertundzwölf Tage waren sie auf dem Berg gewesen. In der ganzen Zeit hatten sie keinen einzigen Viral gesehen. Nachdem sie über den Höhenkamm auf die andere Seite des Tals gezogen waren, hatte es tagelang ununterbrochen geschneit, und sie waren in dem alten Hotel eingeschlossen gewesen, in einem großen Steingebäude, dessen Türen und Fenster mit Sperrholzplatten gesichert waren. Sie hatten damit gerechnet, Leichen zu finden, doch das Hotel war leer. Die Möbel vor dem Kamin in der weiten Eingangshalle waren mit geisterhaft weißen Laken bedeckt, und die Speisekammer der riesigen Küche war voll von Konserven aller Art, teilweise noch mit unversehrtem Etikett. Oben war ein Labyrinth von Korridoren mit Schlafzimmern, und im Keller fanden sie einen mächtigen Heizkessel und an den Wänden lange Halterungen mit Skiern. Überall war es kalt wie im Grab. Sie wussten nicht, ob der Kamin verschlossen war; zumindest würde er mit Laub und Vogelnestern verstopft sein. Sie konnten nur ein Feuer anzünden und das Beste hoffen. In einem Schrank im Büro fanden sie Kartons mit Papier, das sie zum Anzünden zusammenrollten, und mit Peters Axt zerhackten sie zwei Stühle aus dem Speiseraum. Nach ein paar verräucherten Minuten war es hell und warm in der Halle. Sie schleppten Matratzen aus dem ersten Stock herunter und schliefen vor dem Feuer, während draußen der Schnee immer höher wurde.

Die Sno-Cats hatten sie am nächsten Morgen gefunden: Drei dieser Schneepflüge standen auf ihren Ketten in der Garage hinter dem Hotel. Peter fragte Michael: Glaubst du, du kriegst eins von den Dingern zum Laufen?

Sie hatten fast den ganzen Winter dort ausgeharrt. Inzwischen hatten alle einen Hüttenkoller und wollten nur noch weg. Die Tage wurden länger, und in der Sonne lag eine ferne Wärme, an die sie sich erinnerten, aber der Schnee war immer noch tief und schob sich in hohen Wehen an den Mauern des Hotels hinauf. Sie hatten den größten Teil des Mobiliars und des Verandageländers verbrannt. Aus den drei Sno-Cats hatte Michael genug Einzelteile ausgebaut, um einen zum Laufen zu bringen. Das nahm er jedenfalls an, das Problem war allerdings der Treibstoff. Der große Tank hinter der Garage war leer und verrottet, und er hatte Risse. Übrig war nur das, was in den Tanks der Cats selbst zurückgeblieben war, nicht mehr als ein paar Gallonen, stark verunreinigt durch Rost. Michael saugte es in Plastikeimer ab und goss es durch einen mit Lappen ausgelegten Trichter. Dann ließ er es über Nacht stehen, damit der Schmutz sich setzen konnte, und wiederholte den Vorgang. Jedes Mal war der Sprit ein wenig sauberer, aber auch weniger. Als Michael endlich zufrieden war, hatte er noch fünf Gallonen, die er in den Tank des Cat zurückgoss.

»Ich kann nichts versprechen«, warnte er. Er hatte sein Bestes getan, um den Benzintank mit Unmengen von geschmolzenem Schnee auszuspülen, viel war indes nicht nötig, um eine Benzinleitung zu verstopfen. »Das verfluchte Ding kann nach hundert Metern den Geist aufgeben«, sagte er, obwohl er wusste, die anderen würden seine Warnung nicht ernst nehmen.

An einem sonnigen Morgen schoben sie den Cat aus der Garage und luden ihre Sachen hinein. Riesige Eiszapfen hingen wie diamantene Zähne an den Dachtraufen des Hotels. Greer, der Michael bei der Arbeit geholfen hatte – wie sich herausstellte, war er früher Ölhand gewesen und verstand das eine oder andere von Motoren –, setzte sich zu ihm in die Kabine, und die andern würden hinten mitfahren, auf einem breiten, mit einem Geländer gesicherten Aufsatz. Den Pflug hatten sie abmontiert, um das Gewicht zu reduzieren; so hofften sie, aus dem bisschen Sprit, das sie hatten, ein paar Meilen mehr herausquetschen zu können.

Michael öffnete das Fenster und rief nach hinten: »Sind alle an Bord?«

Peter zurrte das letzte Bündel auf dem Sno-Cat fest. Amy hatte ihren Platz am Geländer eingenommen, und Sara stand unten und reichte Skier hinauf. »Moment«, sagte Peter und wölbte die Hände um den Mund. »Lish, ein bisschen Beeilung!«

Sie kam aus dem Haus. Wie alle trug sie eine rote Nylonjacke mit der Aufschrift SKI PATROL auf dem Rücken und kleine Lederstiefel, die in die Skier passten, und ihre Leggins steckten bis an die Knie unter Segeltuch-Gamaschen. Ihr Haar war in einem noch lebhafteren Rot nachgewachsen und zum größten Teil unter einer Mütze mit langem Schirm versteckt. Sie trug eine dunkle Schutzbrille mit Lederriemen, die sich fest um ihren Kopf schlangen.

»Anscheinend müssen wir immer irgendwo weg«, sagte sie. »Ich wollte mich nur von dem Haus verabschieden.«

Sie stand zehn Meter weiter am Rand der Veranda, ungefähr auf einer Höhe mit dem Metallaufsatz des Cat. An ihrem plötzlichen schiefen Grinsen und der Art, wie sie den Kopf erst zur einen, dann zur anderen Seite legte, erkannte Peter, was sie vorhatte: Sie schätzte Entfernung und Winkel ab. Dann nahm sie die Mütze ab, schüttelte ihr rotes Haar in der Sonne und stopfte die Mütze unter den Klettverschluss ihrer Jacke. Sie machte drei Schritte rückwärts, wippte in den Knien, lockerte die Arme und erhob sich schließlich auf die Zehenspitzen.

»Lish …«

Zu spät – zwei kurze Sprünge, und sie war unterwegs. Die Veranda war leer, und Alicia flog durch die Luft. Was für ein Anblick, dachte Peter: Alicia Blades, jüngster Captain der Ersten Kolonie, Alicia Donadio, die letzte Expeditionärin, in der Luft. Mit ausgebreiteten Armen, die Füße zusammen, zog sie an der Sonne vorbei. Im Zenit ihres Fluges drückte sie das Kinn an die Brust und schlug einen Salto. Ihre Stiefelsohlen richteten sich auf den Sno-Cat, sie streckte die Arme über den Kopf und kam wie ein Pfeil auf sie zu. Dann landete sie mit einem metallischen Krachen, das die Ladefläche erzittern ließ, und sank in die Hocke, um die Wucht des Aufpralls abzufedern.

»Fuck!« Michael fuhr am Steuer herum. »Was war das?«

»Nichts«, sagte Peter. Die Erschütterung der Landung vibrierte noch immer in seinen Knochen. »Nur Lish.«

Alicia richtete sich auf und klopfte an das Rückfenster der Kabine. »Entspann dich, Michael.«

»Verdammt, ich dachte, der Motor ist uns um die Ohren geflogen.«

Hollis und Sara kletterten an Bord. Alicia setzte sich ans Geländer und drehte sich zu Peter um. Selbst durch die rauchig dunklen Brillengläser konnte Peter das orangerote Leuchten ihrer Augen sehen.

»Sorry«, sagte sie mit betretenem Grinsen. »Ich dachte, ich krieg’s besser hin.«

»Ich glaube, ich werde mich nie daran gewöhnen«, sagte er.

Das Messer war nie herabgefahren. Das heißt, es war herabgefahren, aber dann hatte es aufgehört.

Alles hatte aufgehört.

Alicia hatte das getan: Sie hatte Peters Handgelenke gepackt und die Messerklinge auf ihrem abwärts gerichteten Bogen eine Handbreit vor ihrer Brust gestoppt. Ihre Fesseln waren zerrissen wie Papier. Peter spürte die Kraft in ihren Armen, eine titanenhafte Stärke, übermenschlich, und er wusste, es war zu spät.

Doch als sie die Augen öffnete, war es Alicia, die er sah.

»Wenn es dir recht ist, Peter«, sagte sie, »würdest du dann die Vorhänge zuziehen? Es ist nämlich richtig, richtig hell hier drin.«

Das Neue Wesen. So nannten sie sie. Weder das eine noch das andere, sondern irgendwie beides. Sie konnte die Virals nicht fühlen, wie Amy es konnte, und sie hörte auch die ewig gleiche Frage nicht, die sie stellten; die große Trauer in der Welt. In jeder Hinsicht war sie die alte, dieselbe Alicia, die sie immer gewesen war, nur in einer nicht:

Wenn sie wollte, konnte sie die erstaunlichsten Dinge tun.

Andererseits, dachte Peter – war das nicht schon immer so gewesen?

Der Sno-Cat krepierte in Sichtweite des Talbodens. Der Motor puffte und keuchte, nieste noch einmal eine Abgaswolke durch den Auspuff, und dann rollten sie auf den Ketten noch ein paar Meter weiter und blieben stehen.

»Das war’s«, rief Peter aus der Kabine. »Jetzt geht’s zu Fuß weiter.«

Alle kletterten herunter. Hinter den Bäumen weiter unten hörte Peter das Rauschen des Flusses, der vom Schmelzwasser angeschwollen war. Ihr Ziel war die Garnison – mindestens zwei Tagesmärsche durch den schweren Frühlingsschnee. Sie luden ihr Gepäck ab und schnallten die Skier an. Die Grundlagen des Skilaufens hatten sie aus einem Buch gelernt, das sie im Hotel gefunden hatten, einem dünnen, vergilbten Bändchen mit dem Titel »Einführung in den Ski-Langlauf«. Allerdings hatten die Worte und Bilder die ganze Sache einfacher aussehen lassen, als sie wirklich war. Ausgerechnet Greer konnte sich anfangs kaum auf den Beinen halten, und selbst wenn es ihm gelang, rutschte er immer wieder hilflos zwischen die Bäume. Amy tat ihr Bestes, um ihm zu helfen – sie hatte es sofort gekonnt und glitt mit flinker Anmut durch den Schnee –, und sie zeigte ihm, was er tun musste. »So geht das«, sagte sie dann. »Man fliegt irgendwie über den Schnee. Es ist ganz einfach.« Es war keineswegs einfach, und auch alle andern waren oft genug in den Schnee gepurzelt, aber nach einigem Üben kamen sie alle ganz gut zurecht.

»Sind alle fertig?«, fragte Peter und ließ seine Bindung einrasten. Die andern murmelten zustimmend. Es war kurz vor Halbtag, und die Sonne stand hoch am Himmel. »Amy?«

Das Mädchen nickte. »Ich glaube, es ist alles in Ordnung.«

»Okay, Leute. Augen überall.«

Sie überquerten den Fluss bei der alten Eisenbrücke, wandten sich nach Westen, verbrachten eine Nacht im Freien und erreichten die Garnison am Ende des zweiten Tages. Im Tal war es Frühling. Hier unten war der Schnee fast vollständig geschmolzen, und der Boden war von einer dicken Schlammschicht bedeckt. Sie tauschten ihre Skier gegen den Humvee, den das Bataillon zurückgelassen hatte, versorgten sich mit Proviant, Treibstoff und Waffen aus dem unterirdischen Lager und setzten ihre Reise fort.

Sie konnten genug Diesel mitnehmen, um bis zur Staatsgrenze von Utah zu gelangen, vielleicht auch noch ein bisschen weiter. Wenn sie bis dahin nichts mehr fänden, würden sie wieder zu Fuß weitermarschieren müssen. Sie fuhren nach Süden, an den Bergen entlang und in trockenes Gelände mit blutroten Felsen, die in fantastischen Formationen ringsherum aufragten. Nachts krochen sie unter, wo es gerade ging – in einem Getreidesilo, in einem leeren Sattelschlepper, in einer Tankstelle, die aussah wie ein Tipi.

Sie wussten, dass sie nicht in Sicherheit waren. Die von Babcock Befallenen waren tot, aber es gab andere. Die von Sosa. Die von Lambright. Die von Baffes und Morrison und Carter und der ganze Rest. Das hatten sie begriffen. Das hatte Lacey ihnen klargemacht, als sie die Bombe gezündet hatte. Was die Zwölf waren – aber auch noch mehr: Wie man die andern befreite.

»Ich glaube, am ehesten vergleichbar sind Bienen«, hatte Michael gesagt. In den endlosen Tagen, die sie auf dem Berg verbracht hatten, hatte Peter ihnen Laceys Akten zu lesen gegeben, und sie hatten stundenlang darüber diskutiert. Aber am Ende war es Michael gewesen, dessen Hypothese sämtliche Fakten zusammengefügt hatte.

»Diese zwölf ursprünglichen Probanden«, sagte er und deutete auf die Unterlagen, »sind wie Bienenköniginnen, und jeder trägt eine abgewandelte Variante des Virus in sich. Die Träger dieser Variante sind Teil eines kollektiven Bewusstseins und mit dem ursprünglichen Träger verbunden.«

»Wie kommst du darauf?«, wollte Hollis wissen. Er war skeptischer als alle andern und hinterfragte jedes Argument.

»Zunächst mal wegen der Art und Weise, wie sie sich bewegen. Hast du dich darüber nie gewundert? Alles, was sie tun, sieht aus, als sei es koordiniert, weil es koordiniert ist, genau wie Olson es gesagt hat. Und es erklärt, wieso eins von zehn Opfern befallen wird. Man muss es sich als virale Fortpflanzung vorstellen, als Methode der Arterhaltung eines bestimmten Stammes.«

»Wie eine Familie?«, fragte Sara.

»Na, ja, das nun wieder auch nicht. Wir sprechen hier immerhin von Virals. Aber in gewisser Weise trifft es zu.«

Peter erinnerte sich an etwas, das Vorhees gesagt hatte: dass die Virals sich – welches Wort hatte er benutzt? Dass sie sich zusammenrotteten, zu großen Schwärmen. Er erzählte es den andern.

»Das passt ins Bild.« Michael nickte die ganze Zeit. »Es gibt nur noch wenig Wild und fast keine Menschen mehr. Ihnen geht die Nahrung aus, und sie finden kaum noch neue Opfer, die sie infizieren können. Sie sind eine Spezies wie jede andere, programmiert zum Überleben. Insofern könnte diese Sammelbewegung eine Art Anpassungsmaßnahme sein, mit der sie ihre Kräfte sparen.«

»Das heißt … sie sind jetzt schwächer?«, vermutete Hollis.

Michael rieb sich den spärlichen Bart und überlegte. »Schwächer ist ein relativer Ausdruck«, sagte er. »Aber, ja, ich würde sagen, es stimmt. Und ich komme noch einmal auf den Vergleich mit den Bienen zurück. Alles, was ein Bienenvolk tut, dient dem Schutz seiner Königin. Wenn Vorhees recht hatte, scharen sie sich um jeden der ursprünglichen Zwölf. Das haben wir, glaube ich, im Hafen beobachten können. Sie brauchen uns, und sie brauchen uns lebend. Ich wette, es gibt irgendwo noch elf solche großen Völker.«

»Und wenn wir die finden könnten?«, fragte Peter.

Michael runzelte die Stirn. »Vergiss es.«

Peter beugte sich vor. »Aber wenn wir es könnten? Was wäre, wenn wir den Rest der Zwölf tatsächlich finden und töten könnten?«

»Wenn die Königin stirbt, stirbt das Volk auch.«

»Wie Babcock. Wie die Vielen.«

Michael warf einen vorsichtigen Blick in die Runde und sah dann wieder Peter an. »Hör zu, das ist nur eine Theorie. Ich könnte mich auch irren. Und das Problem Nummer eins ist damit nicht gelöst – nämlich, sie zu finden. Der Kontinent ist groß. Sie können überall sein.«

Peter merkte plötzlich, dass alle ihn ansahen.

»Peter?«, fragte Sara, die neben ihm saß. »Was ist?«

Sie gehen immer nach Hause, dachte er.

»Ich glaube, ich weiß, wo sie sind«, sagte er.

Sie fuhren weiter. In der fünften Nacht, die sie draußen verbrachten – sie waren in Arizona, in der Nähe der Grenze nach Utah –, wandte Greer sich an Peter und sagte: »Wissen Sie, das Komische ist, ich dachte immer, das sei alles erfunden.«

Sie saßen an einem knisternden Mesquiteholz-Feuer, das sie wegen der Kälte angezündet hatten. Alicia und Hollis hatten Wache und patrouillierten draußen um den Lagerplatz herum. Die andern schliefen. Sie waren in einem breiten, kargen Tal und hatten sich zum Übernachten unter eine Brücke zurückgezogen, die über ein trockenes Flussbett führte.

»Was meinen Sie?«

»Den Film. Dracula.« Greer war in den letzten Wochen schlanker geworden. Auf seinem rasierten Schädel war ein grauer Haarkranz gewachsen, und er hatte einen Vollbart bekommen. Sie konnten sich kaum noch daran erinnern, dass er einmal nicht einer von ihnen gewesen war. »Sie haben das Ende nicht gesehen, oder?«

Der Abend in der Messe. Seitdem schien eine Ewigkeit vergangen zu sein. Peter versuchte sich zu erinnern.

»Stimmt«, sagte er schließlich. »Sie wollten das Mädchen umbringen, als die Einheit Blau zurückkam. Harker und dieser andere. Van Helsing.« Er zuckte die Achseln. »Ich war irgendwie froh, dass ich mir diesen Teil nicht mehr ansehen musste.«

»Sehen Sie, und das ist es. Sie bringen das Mädchen nicht um. Sie töten den Vampir. Treiben dem Scheißkerl einen Pfahl mitten durch den Sweetspot. Und Mina wacht einfach wieder auf und ist so gut wie neu.« Greer schüttelte den Kopf. »Das hat mich nie so recht überzeugt, ehrlich gesagt. Aber jetzt bin ich gar nicht mehr so sicher. Nicht nach dem, was ich auf dem Berg gesehen habe.« Er schwieg kurz. »Glauben Sie wirklich, sie haben sich daran erinnert, wer sie waren? Und sie konnten es bis zu ihrem Tod nicht?«

»Das sagt Amy.«

»Und Sie glauben ihr.«

»Ja.«

Greer nickte nachdenklich. »Komisch. Ich habe mein Leben lang versucht, die Virals umzubringen. Ich habe nie wirklich darüber nachgedacht, wer sie einmal gewesen waren. Aus irgendeinem Grund war es nie wichtig. Und jetzt stelle ich fest, dass ich Mitleid mit ihnen habe.«

Peter wusste, was er meinte. Ihm ging es genauso.

»Ich bin nur ein Soldat, Peter. Zumindest war ich einer. Formal gesehen nennt man das, was ich getan habe, unerlaubtes Entfernen von der Truppe. Aber alles, was passiert ist, hat etwas zu bedeuten. Sogar dass ich jetzt hier bin, bei euch. Es ist mehr als nur Zufall, glaube ich.«

Peter dachte an die Geschichte, die Lacey ihm erzählt hatte, von Noah und dem Schiff, und plötzlich sah er etwas, woran er bisher nicht gedacht hatte. Noah war nicht allein. Da waren natürlich die Tiere, aber das war nicht alles. Er hatte seine Familie mitgenommen.

»Was meinen Sie, was sollen wir tun?«, fragte er.

Greer schüttelte den Kopf. »Ich glaube, das habe ich nicht zu entscheiden. Sie sind derjenige mit den Ampullen im Rucksack. Die Frau hat sie Ihnen gegeben und niemandem sonst. Was mich angeht, mein Freund, liegt diese Entscheidung bei Ihnen.« Er stand auf und nahm sein Gewehr. »Aber als Soldat kann ich Ihnen sagen: Wenn Sie auf die Jagd nach den Zwölfen gehen wollen, dann wären noch zehn wie Donadio eine höllische Waffe.«

In dieser Nacht sprachen sie nicht weiter darüber. Bis Moab waren es noch zwei Tage.

Sie näherten sich der Farm von Süden her. Sara saß am Steuer des Humvee, Peter mit dem Fernglas auf dem Dach.

»Siehst du was?«, rief Sara.

Es war später Nachmittag. Ein starker Wind wirbelte Staubwolken auf und verschleierte die Sicht. Nach vier warmen Tagen war die Temperatur wieder gesunken; es war kalt wie im Winter.

Peter stieg vom Dach und blies sich in die Hände. Die andern hockten zusammengedrängt mit ihrem Gepäck auf den Bänken. »Ich sehe die Gebäude. Aber nichts, was sich bewegt. Die Staubwolken sind zu dicht.«

Alle schwiegen und fragten sich bang, was sie finden würden. Zumindest hatten sie Sprit; südlich der Stadt Blanding waren sie über ein riesiges Treibstofflager gestolpert – genauer gesagt, sie waren mitten hineingefahren: zwei Dutzend verrostete Tanks, die wie riesige Pilze aus dem Erdboden ragten. Wenn sie ihre Route richtig planten, erkannten sie, und Flugplätze und größere Ortschaften – vor allem solche mit Bahnhöfen – ansteuerten, dann würden sie unterwegs wahrscheinlich genug Diesel finden, um damit nach Hause zu kommen, natürlich vorausgesetzt, der Humvee hielt durch.

»Los, weiter«, sagte Peter.

Langsam fuhr sie an und rollte an den kleinen Häusern an der Straße vorbei. Mit einem flauen Gefühl im Magen stellte Peter fest, dass sie alle noch genauso aussahen wie damals: leer und verlassen. Und inzwischen hätten Theo und Mausami das Motorengeräusch gehört haben und herauskommen müssen. Sara stoppte vor der Veranda des Hauses und stellte den Motor ab. Alle stiegen aus. Noch immer blieb alles still.

Alicia sprach als Erste. Sie legte Peter die Hand auf die Schulter. »Lass mich hineingehen.«

Aber er schüttelte den Kopf. Das war seine Aufgabe. »Nein. Ich gehe.«

Er stieg auf die Veranda und öffnete die Tür. Sofort sah er, dass alles verändert war. Die Möbel waren umgestellt worden, und alles sah behaglicher, ja, anheimelnd aus. Ein paar alte Fotos schmückten den Kaminsims. Er trat heran und legte die Hand auf die Asche, die im Kamin lag, aber sie war kalt. Das Feuer war schon lange erloschen.

»Theo?«

Keine Antwort. Er ging in die Küche. Alles wirkte sauber geschrubbt und aufgeräumt. Es überlief ihn eiskalt, als er an die Geschichte dachte, die Vorhees erzählt hatte – die Geschichte von der Stadt, aus der alle Leute verschwunden waren. Wie hatte sie noch geheißen? Homer. Homer, Oklahoma. Geschirr auf den Tischen, alles tipptopp, nur die Menschen hatten sich in Luft aufgelöst.

Die Treppe führte hinauf zu einem kleinen Korridor mit zwei Türen, hinter denen Schlafzimmer lagen. Peter öffnete vorsichtig das erste. Der Raum war leer und unberührt. Ängstlich machte er die zweite Tür auf.

Theo und Maus lagen auf dem großen Bett, sie schliefen tief und fest. Maus lag auf der Seite, die Decke über die Schulter gezogen. Ihr schwarzes Haar ergoss sich auf das Kissen. Theo lag steif auf dem Rücken; sein linkes Bein war vom Knöchel bis zur Hüfte geschient.

Zwischen ihnen spähte ein winziges Babygesicht aus einem Guckloch in der dicken Decke, in die es eingewickelt war.

»Ich werd’ verrückt«, sagte Theo und entblößte lächelnd eine Reihe abgebrochener Zähne. »Das nenn ich eine Überraschung!«

Passage Trilogie Bd. 1 - Der Übergang
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