26

Angefangen hatte es mit dem Colonel. So viel konnte man in den ersten paar Stunden immerhin sagen.

Seit Tagen hatte ihn niemand mehr gesehen, weder im Stall noch auf dem Sonnenfleck noch auf der Mauer, wo er nachts manchmal erschien. Peter hatte ihn in den sieben Nächten, in denen er nach Theo Ausschau gehalten hatte, nicht zu Gesicht bekommen, aber das hatte er nicht weiter merkwürdig gefunden. Der Colonel kam und ging, wie es ihm passte, und manchmal ließ er sich tagelang nicht blicken.

Eins wusste man allerdings – Hollis hatte es als Erster gemeldet, doch andere hatten es bestätigt: Der Colonel war kurz nach Halbnacht auf der Mauer erschienen, in der Nähe des Feuerpostens drei. Es war eine stille, mondlose Nacht gewesen, ohne Sichtungen. Das offene Gelände vor der Mauer hatte im Flutlicht der Scheinwerfer gelegen. Nur wenige Leute sahen ihn dort stehen, und keiner dachte sich etwas dabei. Hey, da ist der Colonel, hatten sie vielleicht gesagt. Der alte Knabe schafft es einfach nicht, sich ganz zur Ruhe zu setzen. Schade, dass heute Nacht nichts los ist.

Er stand ein paar Minuten so herum, befingerte seine Halskette aus Zähnen und starrte auf das leere Vorfeld hinunter. Hollis nahm an, er sei gekommen, um mit Alicia zu sprechen, aber er wusste nicht, wo sie war, und der Colonel sah auch nicht aus, als suche er sie. Er war nicht bewaffnet, und er sprach mit niemandem. Als Hollis wieder hinschaute, war der Mann weg. Einer der Läufer, Kip Darrell, behauptete später, er habe gesehen, wie der Colonel die Leiter hinunterstieg und auf dem Weg zu den Stallungen davonging.

Als ihn das nächste Mal jemand sah, rannte er quer über das Schussfeld.

»Sichtung!«, schrie einer der Läufer. »Wir haben Sichtung!«

Hollis sah es, sah sie. Am Rande des Vorfelds, ein Schwarm von dreien, der ins Licht sprang.

Der Colonel rannte geradewegs auf sie zu.

Sie fielen sofort über ihn her, verschluckten ihn wie eine Welle, schnappend und fauchend, und oben auf der Mauer schwirrten ein Dutzend Pfeile im hohen Bogen von den Sehnen. Bei der Entfernung hätte aber höchstens ein Glückstreffer etwas ausrichten können.

Sie sahen zu, wie der Colonel starb.

Und dann sahen sie das Mädchen. Sie stand am Rande des Schussfelds, eine einzelne Gestalt, die aus der Dunkelheit hervortrat. Zuerst, berichtete Hollis, hielten alle sie für einen weiteren Viral, und außerdem war in der allgemeinen Schießwut jeder bereit, auf alles zu zielen, was sich bewegte. In einem Hagel von Pfeilen und Bolzen lief sie über die Weidefläche auf das Haupttor zu. Einer traf sie an der Schulter und wirbelte sie herum wie einen Kreisel. Aber sie kam trotzdem immer näher heran.

»Ich weiß es nicht«, gestand Hollis später. »Könnte sein, dass ich es war, der sie erwischt hat.«

Inzwischen war auch Alicia zur Stelle. Sie stand oben auf der Mauer und schrie, sie sollten das Feuer einstellen, das sei ein Mensch, ein Mensch, verdammt, und schafft die Seile her, schafft sofort die Seile her! Einen Augenblick lang herrschte Chaos: Soo war nirgends zu sehen, und der Befehl, sich abzuseilen, konnte nur von ihr kommen. Alicia zögerte keinen Moment. Bevor jemand ein Wort sagen konnte, war sie auf die Brüstung gesprungen, packte das Seil mit beiden Händen und sprang.

Es war, erklärte Hollis, das Verrückteste, das er jemals gesehen hatte.

Sie sauste rasend schnell in die Tiefe und schwang an der Mauer entlang. Ihre Beine wirbelten umher, als renne sie durch die Luft, während drei Händepaare fieberhaft versuchten, die Bremse zu ziehen, bevor sie unten aufschlug. Metall bog sich kreischend, als der Mechanismus einrastete. Alicia überschlug sich bei der Landung im Staub, kam gleich wieder auf die Beine und rannte los. Die Virals waren zwanzig Meter entfernt, noch immer über die Leiche des Colonels gebeugt. Als sie Alicias Aufprall hörten, zuckten sie, verdrehten zähnefletschend die Hälse, schnupperten.

Frisches Blut.

Das Mädchen war jetzt am Fuße der Mauer, eine dunkle Gestalt, die dort kauerte. Ein glitzernder Klumpen saß auf ihrem Rücken – ihr Rucksack, den der Armbrustbolzen an den Körper der Kleinen geheftet hatte, nass glänzend von ihrem Blut. Alicia packte sie wie einen Mehlsack und warf sie sich über die Schulter, und dann rannte sie los, so schnell sie konnte. Das Seil baumelte nutzlos und vergessen hinter ihr. Das Tor war ihre einzige Chance.

Alles erstarrte. Was immer man tat, das Tor wurde nicht geöffnet. Nicht in der Nacht. Für niemanden, nicht einmal für Alicia.

In diesem Augenblick traf Peter ein. Er war von Aunties Haus herübergerannt, als er den Aufruhr hörte. Caleb kam im Laufschritt von der Kaserne und war kurz vor ihm am Haupttor. Peter hatte keine Ahnung, was auf der anderen Seite passierte. Er hörte nur, was Hollis von der Mauer herunterrief.

»Es ist Lish!«

»Was?«

»Lish!«, schrie Hollis. »Sie ist draußen!«

Caleb war als Erster im Windenhaus. Diese Tatsache sollte ihn später belasten, während sie Peter von aller Schuld an dem, was dann passierte, befreite. Als Alicia das Tor erreichte, war es gerade so weit offen, dass sie mit dem Mädchen hereinschlüpfen konnte. Wenn sie es gleich wieder hätten schließen können, wäre alles andere wahrscheinlich nicht geschehen. Aber Caleb hatte die Bremse gelöst. Peter packte das Windenseil. Hinter und über sich hörte er Schreie, das Zischen der Armbrustsalven, die abgehackten Schritte der Wächter, die über die Leitern herunterkamen. Weitere Hände kamen ihm zu Hilfe und umklammerten das Seil – Ben Chou und Ian Patal und Dale Levine. Entsetzlich langsam drehte sich die Winde jetzt in die andere Richtung.

Zu spät. Von den drei Virals kam nur einer durch das Tor. Aber das genügte.

Er nahm geradewegs Kurs auf die Zuflucht.

Hollis erreichte das Gebäude als Erster, als der Viral gerade auf das Dach hinaufsprang. Er schnellte über den First wie ein Stein, der über das Wasser hüpft, und landete im Innenhof. Als Hollis durch die Tür ins Haus stürmte, hörte er drinnen das laute Krachen von zerbrechendem Glas.

Gleichzeitig mit Mausami stürzte er in den Großen Saal. Sie war von der anderen Seite herangelaufen gekommen, und sie war unbewaffnet. Hollis hatte seine Armbrust. Es war unerwartet still. Hollis hatte sich auf lautes Geschrei und Chaos gefasst gemacht, auf Kinder, die wild durcheinanderliefen. Aber fast alle lagen mit weit aufgerissenen Augen in ihren Betten, erschrocken und hilflos. Ein paar hatten sich unter den Pritschen verkrochen, und als Hollis über die Schwelle trat, sah er eine panische Bewegung in der vorderen Reihe, wo eine der drei »Jots« – June oder Jane oder Juliet – aus ihrem Bettchen rollte und darunter verschwand. Das einzige Licht fiel durch das zerbrochene Fenster herein. Die abgerissene Jalousie hing schief herunter und schaukelte noch hin und her.

Der Viral stand an Doras Bett.

»Hey!«, schrie Mausami und schwenkte die Arme über dem Kopf. »Hey, hier bin ich!«

Wo war Leigh? Wo war die Lehrerin? Der Viral riss den Kopf herum, als er Mausamis Stimme hörte. Er blinzelte, legte den Kopf schräg. Ein feuchtes Klicken kam aus der scharfen Krümmung seiner Kehle.

»Hier!«, brüllte Hollis. Er folgte Mausamis Beispiel und fuchtelte mit den Armen, um die Aufmerksamkeit der Bestie auf sich zu ziehen. »Ja, schau her!«

Der Viral fuhr herum und starrte ihn an. Irgendetwas funkelte an seinem Hals, irgendein Schmuckstück. Aber Hollis hatte keine Zeit, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Er hatte sein Ziel vor sich, seine Chance. Jetzt stürzte Leigh herein. Sie hatte im Büro geschlafen und nichts gehört. Als sie anfing zu schreien, hob Hollis die Armbrust und schoss.

Ein guter Schuss, ein sauberer Schuss, mitten in den Sweetspot – als der Bolzen vom Schaft flog, hatte er gespürt, dass er stimmte, dass er perfekt war. Und in dem Sekundenbruchteil, den der Bolzen brauchte, um die kurze Distanz von weniger als fünf Metern zurückzulegen, wusste er es. Der blinkende Schlüssel an der Schnur um den Hals, die traurige Dankbarkeit in den Augen des Virals. Ein einziger Gedanke schoss ihm in den Kopf, ein Wort nur, als der Bolzen – der gnädige, furchtbare und uneinholbare Bolzen – mitten in die Brust des Virals fuhr.

»Arlo.«

Hollis hatte seinen Bruder getötet.

Sara erinnerte sich nicht daran und würde es auch nie tun, aber das erste Mal erfuhr sie in einem Traum von dem Walker: in einem konfusen Traum, in dem sie wieder ein kleines Mädchen war. Sie war dabei, Maisfladen zu backen. Die Küche, in der sie arbeitete – sie stand auf einem Schemel und rührte den schweren Teig in einer großen Holzschüssel –, war die Küche des Hauses, in dem sie wohnte, und zugleich die Küche in der Zuflucht, und es schneite: ein sanftes Schneetreiben, das nicht vom Himmel kam, weil es keinen Himmel gab, sondern scheinbar aus der Luft vor ihrem Gesicht. Seltsam, dieser Schnee – es schneite fast nie, und schon gar nicht im Haus, soweit Sara sich erinnern konnte. Doch sie hatte andere Sorgen. Heute war der Tag ihrer Entlassung, und bald würde die Lehrerin sie holen, aber ohne die Maisfladen hätte sie in der Welt da draußen nichts zu essen. In der Welt da draußen, hatte die Lehrerin ihr erklärt, aßen die Leute nichts anderes.

Dann war da ein Mann. Gabe Curtis. Er saß am Küchentisch vor einem leeren Teller. »Sind sie fertig?«, fragte er Sara, und dann wandte er sich an das Mädchen, das neben ihm saß, und sagte: »Ich habe Maisfladen immer gern gemocht.« Sara fragte sich mit leiser Besorgnis, wer dieses Mädchen sein mochte. Sie versuchte sie anzusehen, doch es ging nicht: Wenn sie hinschaute, war das Mädchen dort nicht mehr. Und ganz langsam dämmerte Sara, dass sie jetzt woanders war. Sie war in dem Zimmer, in das die Lehrerin sie geführt hatte und in dem sie es erfahren würde, und ihre Eltern waren da und warteten. Sie standen in der Tür. »Geh mit ihnen, Sara«, sagte Gabe. »Es wird Zeit, dass du gehst. Lauf, lauf immer weiter.« »Aber du bist tot«, sagte Sara, und als sie ihre Eltern anschaute, sah sie dort, wo ihre Gesichter hätten sein müssen, nur konturlose Flecken, als blicke sie durch fließendes Wasser, und irgendetwas stimmte mit ihren Hälsen nicht. Jetzt hörte sie von draußen ein dumpfes Hämmern, und eine Stimme rief ihren Namen. »Ihr seid alle tot.«

Dann war sie wach. Sie war auf dem Stuhl neben dem kalten Herd eingeschlafen. Ein Klopfen an der Tür hatte sie geweckt, und jemand rief ihren Namen. Wo war Michael? Wie spät war es?

»Sara! Mach auf!«

Caleb Jones? Sie riss die Tür auf, als er gerade wieder dagegenhämmern wollte. Seine erhobene Faust stoppte mitten im Schlag.

»Wir brauchen eine Krankenschwester.« Er war außer Atem, und sein Gesicht war schweißüberströmt. »Jemand ist verwundet.«

Sofort war sie hellwach und griff nach ihrer Tasche auf dem Tisch. »Wer?«

»Lish hat sie hereingebracht.«

»Lish? Lish ist verwundet?«

Caleb schüttelte den Kopf. Er rang immer noch nach Luft. »Nicht sie. Das Mädchen.«

»Welches Mädchen?«

Sein Blick war erstaunt. »Sie ist ein Walker, Sara.«

Als sie am Krankenrevier ankamen, zog das erste fahle Licht über den Himmel. Niemand war da, und das wunderte sie. Nach Calebs Bericht hatte sie eine Menschenmenge erwartet. Sie stieg die Treppe hinauf und eilte hinein.

Auf der vordersten Pritsche lag ein Mädchen. Der Bolzen steckte noch in ihrer Schulter. Etwas Dunkles hing an ihrem Rücken. Alicia stand vor ihr; ihr T-Shirt war blutbespritzt.

»Sara, tu etwas«, sagte sie.

Sara trat rasch heran und schob die Hand um den Hals des Mädchens, um die Atemwege zu kontrollieren. Das Mädchen hatte die Augen geschlossen. Sie atmete schnell und flach, und ihre Haut war kühl und feucht. Sara tastete nach der Halsschlagader. Der Puls raste wie bei einem kleinen Vogel.

»Sie hat einen Schock. Hilf mir, sie umzudrehen.«

Der Bolzen war dicht unter dem löffelförmigen Schlüsselbein eingedrungen. Alicia fasste das Mädchen vorsichtig bei den Schultern, Caleb packte sie bei den Füßen, und zusammen drehten sie sie auf die Seite. Sara holte eine Schere und setzte sich hinter sie, um den blutgetränkten Rucksack abzuschneiden. Dann kam das dünne T-Shirt an die Reihe; sie schnitt den Halsausschnitt auf und riss es dann auseinander. Die schlanke Gestalt eines heranwachsenden Kindes kam zum Vorschein – knospende kleine Brüste und eine helle Haut. Die Widerhakenspitze des Bolzens ragte aus einer sternförmigen Wunde oberhalb des Schulterblatts.

»Die muss ich abschneiden. Dazu brauche ich etwas Größeres als diese Schere.«

Caleb nickte und ging das entsprechende Gerät holen. Als er durch den Vorhang verschwand, kam Soo Ramirez hereingestürzt. Ihr langes Haar hatte sich gelöst, und ihr Gesicht war schmutzig. Am Fuße des Bettes blieb sie stehen.

»Mich trifft der Schlag. Das ist ja noch ein Kind.«

»Wo zum Teufel ist die Andere Sandy?«, wollte Sara wissen.

Soo machte ein verdattertes Gesicht. »Wo um alles in der Welt kommt sie her?«

»Soo, ich bin hier ganz allein. Wo ist Sandy?«

Soo hob den Kopf und sah sie an. »Sie ist … in der Zuflucht, glaube ich.«

Draußen kam Tumult auf. Schritte, Stimmen – der Vorraum füllte sich mit Neugierigen.

»Soo, schaff diese Leute hinaus.« Sara hob den Kopf zum Vorhang. »Alles raus da! Die Leute sollen verschwinden!«

Soo nickte und lief hinaus. Sara tastete noch einmal nach dem Puls des Mädchens. Ihre Haut war jetzt fleckig angelaufen wie ein Winterhimmel kurz vor dem Schnee. Wie alt mochte sie sein? Vierzehn? Was suchte ein vierzehnjähriges Mädchen da draußen im Dunkeln?

Sara sah Alicia an. »Du hast sie hereingeholt?«

Alicia nickte.

»Hat sie etwas gesagt? War sie allein?«

»Mein Gott, Sara.« Alicias Blick irrte umher. »Ich weiß es nicht. Ja, ich glaube, sie war allein.«

»Ist das ihr Blut oder deins?«

Alicia schaute an ihrem T-Shirt hinunter. Anscheinend bemerkte sie das Blut erst jetzt. »Ihres, glaube ich.«

Von draußen kam Gepolter, dann Calebs Stimme. »Ich bin’s!« Er kam herein und schwenkte eine schwere Drahtschere.

Ein schmieriges altes Ding, aber es würde genügen. Sara goss Alkohol über die Schere und über ihre Hände und wischte sie dann mit einem Lappen ab. Das Mädchen lag immer noch auf der Seite. Sie schnitt die Bolzenspitze ab und schüttete noch einmal Alkohol über alles. Dann befahl sie Caleb, sich die Hände zu waschen, wie sie es getan hatte. Inzwischen nahm sie einen Strang Wolle von einem Bord, schnitt ein langes Stück davon ab und rollte es zu einer Kompresse zusammen.

»Hightop, wenn ich den Bolzen herausziehe, presst du das hier auf die Eintrittswunde. Sei nicht zimperlich, drück fest zu. Ich werde die andere Seite vernähen. Vielleicht lässt die Blutung so nach.«

Er nickte unsicher. Sara wusste, dass er überfordert war, aber in Wahrheit waren sie es alle. Ob das Mädchen die nächsten paar Stunden überlebte oder nicht, hing vom Ausmaß der Blutung und vom Umfang der inneren Verletzungen ab. Sie drehten sie wieder auf den Rücken. Caleb und Alicia hielten sie bei den Schultern fest, und Sara packte den Bolzen und fing an zu ziehen. Durch den Metallschaft spürte sie den faserigen, knorpeligen Widerstand von zerfetztem Gewebe, das Knirschen gesplitterter Knochen. So etwas konnte man nicht behutsam tun. Es musste schnell gehen. Mit einem heftigen Ruck fuhr der Bolzen heraus, gefolgt von einem seufzenden Schwall Blut.

»Mein Gott, das ist sie!«

Sara drehte sich um und sah Peter. Was meinte er damit, das ist sie? Kannte er sie? Wusste er, wer sie war? Aber das war natürlich unmöglich.

»Dreht sie auf die Seite. Los, Peter, pack mit an.«

Sara griff zu Nadel und Garnrolle, trat hinter das Mädchen und fing an, die Wunde zu nähen. Inzwischen war überall Blut. Es sammelte sich auf der Matratze und tropfte auf den Boden.

»Sara, was soll ich machen?« Calebs Kompresse war schon durchnässt.

»Einfach weiterdrücken.« Sie schob die Nadel durch die Haut des Mädchens und zog den Faden straff. »Ich brauche hier mehr Licht!«

Drei Stiche, vier, fünf, und jeder zog die Wundränder fester zusammen. Aber sie wusste, dass es nichts nutzte. Der Bolzen musste die Schlüsselbeinarterie verletzt haben. Daher kam das viele Blut. In ein paar Minuten würde das Mädchen tot sein. Vierzehn Jahre alt, dachte sie. Woher bist du gekommen?

»Ich glaube, es hört auf«, sagte Caleb.

Sara verknotete den letzten Faden. »Das kann nicht sein. Du musst einfach weiterdrücken.«

»Nein, wirklich. Sieh doch.«

Sie rollten das Mädchen wieder auf den Rücken, und Sara nahm die nasse Kompresse weg. Caleb hatte recht: Die Blutung hatte nachgelassen. Die Eintrittswunde sah sogar kleiner aus, rosig und runzlig an den Rändern. Das Gesicht des Mädchens war sanft und gefasst, als schlafe sie. Sara legte ihr zwei Finger an den Hals. Ein fester, regelmäßiger Puls schlug an Saras Fingerspitzen. Was um alles in der Welt …?

»Peter, leuchte mit der Laterne herüber.«

Peter hob die Laterne über das Gesicht des Mädchens, und Sara zog vorsichtig das linke Augenlid hoch. Ein dunkler, feucht schimmernder Augapfel, die Pupille eng zusammengezogen, eine gebänderte Iris von der Farbe von durchnässter Erde. Aber etwas war anders. Da war noch etwas.

»Noch näher.«

Als Peter die Laterne herüberschwenkte und das helle Licht auf das Auge fiel, fühlte sie es. Es war, als stürze sie in die Tiefe, als habe die Erde unter ihren Füßen sich geöffnet – schlimmer als Sterben, schlimmer als der Tod. Überall war schreckliche schwarze Dunkelheit, und sie fiel hinein, fiel in alle Ewigkeit.

»Sara, was ist los?«

Sie wich taumelnd zurück. Ihr Herz bäumte sich auf, und ihre Hände zitterten wie Blätter im Wind. Alle starrten sie an. Sie wollte sprechen, aber kein Wort kam über ihre Lippen. Was hatte sie gesehen? Doch sie hatte nichts gesehen, sie hatte etwas gefühlt. Und Sara fiel das Wort ein: allein. Allein! Das war es, was sie war – was sie alle waren. Und ihre Eltern waren es, deren Seelen in Ewigkeit durch die schwarze Dunkelheit irrten. Sie waren allein!

Ihr wurde bewusst, dass jetzt noch andere im Raum waren. Sanjay, und neben ihm Soo Ramirez. Zwei weitere Wächter hielten sich im Hintergrund. Alle warteten darauf, dass sie etwas sagte; sie spürte die Glut ihrer Blicke.

Sanjay trat heran. »Wird sie überleben?«

Sie atmete tief durch, um sich zu beruhigen. »Ich weiß es nicht.« Ihre Stimme kam kraftlos aus ihrer Kehle. »Es ist eine schlimme Wunde, Sanjay. Sie hat viel Blut verloren.«

Sanjay betrachtete das Mädchen einen Moment lang. Anscheinend überlegte er, was er von ihr halten, wie er ihre unfassbare Anwesenheit erklären sollte. Schließlich wandte er sich ab und sah Caleb an, der mit der bluttriefenden Kompresse neben dem Bett stand. Etwas Aggressives schien mit einem Mal in der Luft zu liegen. Die beiden Männer im Hintergrund traten vor und legten die Hände an die Messer.

»Komm mit, Caleb.«

Die beiden Wächter – Jimmy Molyneau und Ben Chou – packten den Jungen bei den Armen. Er war zu überrascht, um sich zu sträuben.

»Sanjay, was hast du vor?«, fragte Alicia. »Soo, was zum Teufel soll das?«

Sanjay beantwortete ihre Fragen. »Caleb ist verhaftet.«

»Verhaftet?«, quiekte der Junge. »Wieso bin ich verhaftet?«

»Caleb hat das Tor geöffnet. Er kennt das Gesetz so gut wie jeder andere. Jimmy, schafft ihn raus.«

Jimmy und Ben zogen den zappelnden Jungen zum Vorhang. »Lish!«, schrie Caleb.

Sie trat ihnen in den Weg. »Soo, sag’s ihnen. Ich war es. Ich bin über die Mauer gegangen. Wenn ihr jemanden verhaften wollt, dann mich.«

Soo stand neben Sanjay. Sie schwieg.

»Soo? Sag’s ihm.«

Aber die Frau schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht, Lish.«

»Was soll das heißen, du kannst es nicht?«

»Sie hat es nicht zu entscheiden«, sagte Sanjay. »Die Lehrerin ist tot. Caleb wird wegen Mordes festgenommen.«

Passage Trilogie Bd. 1 - Der Übergang
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