51

Er war Babcock, und er war es für immer. Er war einer der Zwölf und auch der Andere. Er war Zero. Er war die Nacht der Nächte, und er war Babcock gewesen, bevor er wurde, was er war. Vor dem großen Hunger, der in ihm war wie die Zeit selbst, eine Strömung im Blut, endlos und notleidend, uferlos und ohne Grenzen, ein dunkler Flügel, ausgebreitet über der Welt.

Er war gemacht aus den Vielen. Tausend mal tausend mal tausend, wie die Sterne verstreut über den Nachthimmel. Er war einer der Zwölf und auch der Andere, Zero, aber seine Kinder waren auch in ihm, sie, die die Saat seines Blutes in sich trugen, die Saat der Zwölf. Sie bewegten sich, wie er sich bewegte, sie dachten, wie er dachte, und in ihren Köpfen war ein leerer Raum des Vergessens, in dem er war, in jedem, und sagte: Du wirst nicht sterben. Du bist ein Teil von mir, wie ich ein Teil von dir bin. Du wirst das Blut der Welt trinken und mich damit füllen.

Sie gehorchten seinem Kommando. Wenn sie aßen, aß er. Wenn sie schliefen, schlief er. Sie waren Wir, der Babcock, und sie waren es für immer, wie er es für immer war, allesamt Teil der Zwölf und des Anderen, des Zero. Sie träumten seinen dunklen Traum mit ihm.

Er erinnerte sich an eine Zeit, bevor er wurde, was er war. Die Zeit in dem kleinen Haus, in dem Ort namens Desert Wells. Die Zeit des Schmerzes und des Schweigens. Die Zeit der Frau, seiner Mutter, der Mutter Babcocks. Er erinnerte sich an Kleinigkeiten – an Formen, Farben, Empfindungen, Bilder. Ein Quadrat aus goldenem Sonnenlicht auf einem viereckigen Teppich. Eine abgenutzte Stelle auf der Verandatreppe, in die sein Turnschuh genau passte, und die rostigen Stellen am Geländer, an denen er sich die Haut an den Fingern aufriss. Er erinnerte sich an seine Finger. Er erinnerte sich an den Geruch der Zigaretten, die seine Mutter in der Küche rauchte, während sie redete und ihre Filme anschaute; an die großen Gesichter der Schauspieler in Nahaufnahme, die Augen weit aufgerissen und voller Tränen, die bemalten Lippen der Frauen schimmernd wie glänzende Früchte. Und an ihre Stimme. Ihre Stimme war immer da.

Sei jetzt still, verdammt. Siehst du nicht, dass ich hier fernsehe? Du machst so verdammt viel Lärm – ein Wunder, dass ich nicht verrückt werde, verdammt.

Er erinnerte sich, dass er leise war, so leise.

Er erinnerte sich an ihre Hände, die Hände von Babcocks Mutter, und an die Sternenexplosionen des Schmerzes, wenn sie ihn schlug und wieder schlug. Er erinnerte sich daran, wie er geflogen war, schwebend auf einer Wolke von Schmerz, und an das Schlagen und Klatschen und Brennen. Immer das Brennen. Jetzt heul nicht. Sei ein Mann. Wenn du heulen willst, gebe ich dir einen Grund zum Heulen, dann hast du Pech, Giles Babcock. Ihr rauchender Atem, so dicht vor seinem Gesicht. Die rot glühende Spitze ihrer Zigarette, die sie über die Haut seiner Hand rollte, dass sie mit knisternd feuchtem Geräusch verbrannte, mit dem Geräusch, das seine Cornflakes machten, wenn er Milch darübergoss. Das gleiche leise Prasseln. Der Geruch der verbrannten Haut, der sich mit den Rauchwolken mischte, die aus ihren Nasenlöchern kamen. Und er erinnerte sich, wie alle Worte in ihm verstummten, damit der Schmerz aufhörte – damit er ein Mann sein konnte, wie sie es gesagt hatte.

Vor allem an ihre Stimme erinnerte er sich. Die Stimme von Babcocks Mutter. Seine Liebe zu ihr war wie ein Zimmer ohne Türen, erfüllt vom scharrenden Klang ihrer Worte, ihrem Yak-yak-yak. Höhnisch, durchbohrend wie das Messer, das er aus der Schublade nahm an jenem Tag, als sie am Tisch in der Küche des kleinen Hauses in dem Ort namens Desert Wells saß und redete und lachte und lachte und redete und ihren Rauch aß.

Der Junge ist nicht einfach blöd. Ich sage dir, er ist mit Blödheit geschlagen.

Er war glücklich, so glücklich, noch nie im Leben hatte er so großes Glück empfunden wie in dem Augenblick, als das Messer in sie eindrang, durch die weiße Haut an ihrem Hals, durch die weichen oberen Schichten und die harten Sehnen darunter. Und als er die Klinge drehte und immer tiefer bohrte, wehte die Liebe zu ihr aus seinem Kopf hinaus, und er sah endlich, was sie war: dass sie ein Wesen aus Fleisch und Blut und Knochen war. Alle ihre Worte bewegten sich in ihm, all das Yak-yak-yak, und sie füllten ihn aus, bis er zu platzen drohte. Sie schmeckten wie Blut in seinem Mund, wie süße, lebendige Dinge.

Sie schickten ihn weg. Er war schließlich kein Junge, er war ein Mann; er war ein Mann mit einem Verstand und einem Messer, und sie befahlen ihm zu sterben – stirb, Babcock, für das, was du getan hast. Er wollte nicht sterben, damals nicht, nie. Nachdem der Mann, Wolgast, wie eine erfüllte Prophezeiung dorthin gekommen war, wo er war, nach den Ärzten und der Krankheit und seiner Verwandlung in einen der Zwölf, in Babcock-Morrison-Chávez-Baffes-Turrell-Winston-Sosa-Echols-Lambright-Martinez-Reinhardt-Carter, da hatte er die Übrigen genauso genommen, hatte ihre Worte getrunken, ihre Todesschreie, die seinen Mund füllten wie weiche Leckerbissen. Und die, die er nicht tötete, an denen er nur nippte – einer-von-zehn –, wie es die Gezeiten seines Blutes befahlen: Sie wurden sein Eigen, verschmolzen mit ihm im Geiste. Seine Kinder. Seine große und furchterregende Kompanie. Die Vielen. Wir sind Babcock.

Und dieser Ort. Er war hergekommen mit dem Gefühl der Heimkehr, der Wiederherstellung. Er hatte sich sattgetrunken an der Welt, und hier ruhte er aus, träumte seine Träume in der Dunkelheit, bis er aufwachte und wieder hungrig war, und er hörte den Zero, der Fanning hieß, als er sagte: Brüder, wir sterben. Sterben! Denn fast keiner war mehr übrig auf der Welt, keine Menschen, nicht einmal Tiere. Und Babcock wusste, dass die Zeit gekommen war, die Übriggebliebenen zu ihm zu bringen, damit sie ihn kannten, Babcock und den Zero, und ihren Platz bei ihm einnahmen. Er hatte seine Gedanken ausgesandt und zu den Vielen, seinen Kindern, gesagt: Bringt die Letzten der Menschheit zu mir und tötet sie nicht. Bringt sie und ihre Worte zu mir, damit sie den Traum träumen und eins werden mit Uns, dem Babcock. Und zuerst war einer gekommen, dann noch einer, mehr und immer mehr, und sie träumten den Traum mit ihm, und wenn sie zu Ende geträumt hatten, sagte er zu ihnen: Jetzt bist du mein wie die Vielen. Du bist mein an diesem Ort, und wenn ich hungrig bin, wirst du mich speisen, wirst meine rastlose Seele nähren mit deinem Blut. Und du wirst mir andere bringen, die jenseits von hier sind, damit sie desgleichen tun, und ich werde euch leben lassen, auf diese und auf keine andere Weise. Und diejenigen, die ihren Willen nicht dem seinen beugten, die nicht zu dem Messer griffen in der Dunkelheit des Traums, wo Babcocks Gedanken den ihren begegneten, mussten sterben, damit die anderen es sahen und sich ihm nicht widersetzten.

Und so war die Stadt gebaut worden. Die Stadt Babcocks, die erste auf der Welt.

Aber jetzt war da die Andere. Nicht Zero, nicht die Zwölf, sondern eine Andere. Die Gleiche und doch nicht die Gleiche. Ein Schatten hinter einem Schatten, und sie pickte an ihm wie ein Vogel, der davonflatterte, wenn er seine Gedanken auf sie richten wollte. Und die Vielen, seine Kinder, seine große und furchterregende Kompanie, hörten sie auch. Er spürte, wie sie an ihnen zog. Eine machtvolle Kraft, die sie wegholen wollte. Wie die hilflose Liebe, die er vor so langer Zeit verspürt hatte, als er noch ein Junge war und sah, wie die rot glühende Spitze über seine Haut rollte und sie verbrannte.

Wer bin ich?, fragten sie sie. Wer bin ich?

Sie erweckte in ihnen den Wunsch, sich zu erinnern. Den Wunsch, zu sterben.

Sie war jetzt nah, sehr nah. Babcock fühlte es. Sie war eine Welle in den Gedanken der Vielen, ein Riss im Gewebe der Nacht. Er wusste, durch sie konnte alles, was sie getan hatten, aufgehoben, alles, was sie geschaffen hatten, zunichte gemacht werden.

Brüder, Brüder. Sie kommt. Brüder, sie ist schon hier.

Passage Trilogie Bd. 1 - Der Übergang
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