21

Es gab einen gewaltigen Unterschied zwischen der Welt, wie sie heute war, und der Welt in der Zeit Davor, dachte Michael Fisher, und das waren nicht die Virals. Es war die Elektrizität.

Die Virals waren ein Problem, natürlich – ungefähr zweiundvierzigeinhalb Millionen Probleme, wenn die alten Unterlagen im Großen Geräteschuppen hinter dem Lichthaus recht hatten. Die komplette Geschichte der Epidemie hatte Michael dort nachlesen können. CV1-CV13 Aktueller Bericht über die Verbreitung von Infektionskrankenkeiten in den USA, Zentrum für Seuchenkontrolle und -prävention, Atlanta, GA. Umsiedlungsprotokolle: Urbane Zentren, Zonen 61, Katastrophenschutzbehörde FEMA, Washington, D. C. Die Wirksamkeit der Postexpositionsprophylaxe gegen viral bedingtes hämorrhagisches Fieber bei nicht-menschlichen Primaten, Medizinisches Forschungsinstitut der U. S. Army für Infektionskrankheiten, Fort Detrick, Maryland. Und so weiter. Manches verstand er, manches nicht, aber überall stand im Grunde das Gleiche. Einer von zehn. Ein Befallener auf neun, die starben. Wenn man also von einer Bevölkerung von 500 Millionen zum Zeitpunkt des Ausbruchs ausging – die USA, Kanada und Mexiko zusammengenommen –, dann blieben immer noch 42,5 Millionen dieser blutgierigen Bestien zwischen der Landenge von Panama und der Beringstraße, die alles verschlangen, was Hämoglobin in den Adern und eine Wärmesignatur zwischen 36 und 38 Grad aufzuweisen hatte – mit anderen Worten, 99,96 Prozent des Säugetierreichs von der Wühlmaus bis zum Grizzlybären.

Also ja, okay. Ein Problem.

Aber gebt mir nur genug elektrischen Strom, dachte Michael, und ich könnte die Virals für immer und ewig fernhalten.

Die Zeit Davor: Manchmal zitterte er, wenn er nur daran dachte, an diese ungeheure, vibrierende, von Menschen gemachte elektrische Fülle. An die Millionen Meilen von Draht, an die Milliarden Ampère, die darin flossen. Die gewaltigen Kraftwerke, die aus der gespeicherten Energie des Planeten jenes ewige Ja schufen, mit dem jedes einzelne Ampère durch die Leitung schoss: Ja? Ja? Ja?

Und die Maschinen. Die wunderbaren, summenden, leuchtenden Maschinen. Nicht nur Computer, Blu-rays und BlackBerrys – sie hatten Dutzende davon, im Laufe der Jahre zusammengesucht bei ihren Expeditionen ins Tal und dann im Geräteschuppen verstaut –, sondern auch einfache, alltägliche Dinge wie Haartrockner, Mikrowellen, Glühlampen, alles verdrahtet und angeschlossen und verbunden mit dem Stromnetz.

Manchmal war es, als sei der Strom immer noch da draußen und warte auf ihn. Warte darauf, dass Michael Fisher den Hauptschalter umlegte und das Ganze – die menschliche Zivilisation selbst – wieder in Gang setzte.

Er verbrachte zu viel Zeit allein im Lichthaus. Elton war zwar auch dort, doch das war so, als sei niemand da. Sie redeten nicht miteinander. Kein lockeres »Was macht das Wetter?« oder »Was gibt’s zum Abendessen?« So war es nun mal.

Doch da draußen war immer noch jede Menge Saft, das wusste Michael. Dieselgeneratoren, so groß wie eine ganze Stadt. Gigantische Gasturbinen, prallvoll mit Flüssiggas, die nur gestartet werden mussten. Ausgedehnte Solarzellenanlagen, die ihren starren Blick in die Wüstensonne richteten. Atombomben im Westentaschenformat, die vor sich hinbrummten wie eine nukleare Ziehharmonika, während die Hitze in den Kontrollstäben im Laufe der Jahrzehnte immer weiter anstieg, bis die ganze Kiste eines Tages durch den Boden brannte und in einer Wolke von radioaktivem Dampf explodierte. Und irgendwo hoch oben würde ein längst vergessener Satellit, angetrieben von seiner eigenen winzigen Nuklearzelle, in dieser Wolke die Todesqualen eines sterbenden Bruders erkennen, bevor auch er sich verdunkelte und kopfüber zur Erde stürzte, mit einem Kometenschweif, den niemand sah.

Was für eine Verschwendung. Und die Zeit wurde knapp.

Rost, Korrosion, Wind, Regen. Die knabbernden Zähne von Mäusen, ätzender Insektenkot, der gierige Fraß der Jahre. Der Krieg der Natur gegen die Maschinen, der chaotischen Kräfte des Planeten gegen die Werke des Menschen. Die Energie, die der Mensch aus der Erde gezogen hatte, wurde unerbittlich wieder hineingesogen, versickerte wie Wasser in einem Abfluss. Bald – wenn es nicht schon so weit war – würde kein einziger Hochspannungsmast auf Erden mehr stehen.

Die Menschheit hatte eine Welt erbaut, die hundert Jahre brauchen würde, um zu sterben. Ein Jahrhundert, bis die letzten Lichter ausgingen.

Das Schlimmste war, er würde dabei sein, wenn es passierte. Die Stromspeicher zersetzten sich. Sie zersetzten sich rapide. Er konnte es mit eigenen Augen sehen, auf dem Bildschirm seiner schlachterprobten Kathodenstrahlröhre mit ihren pulsierenden grünen Streifen. Für welche Lebensdauer waren diese Zellen gebaut? Dreißig Jahre? Fünfzig? Dass sie nach fast einem Jahrhundert überhaupt noch imstande waren, einen Rest von Ladung zu speichern, war ein Wunder. Die Turbinen mochten sich bis in alle Ewigkeit im Wind drehen, aber ohne Akkus, die den Strom speicherten, genügte eine einzige windstille Nacht.

Die Akkus ließen sich nicht reparieren. Sie mussten ersetzt werden. Man konnte so viele Dichtungen erneuern, wie man wollte, man konnte die Korrosionsspuren beseitigen und das Ganze neu verdrahten, bis man einen langen Bart hatte. Das alles war nicht mehr als eine Beschäftigungstherapie, denn die Membranen waren erledigt. Sie waren verkocht, die Polymer-Leiterbahnen hoffnungslos verklebt von Schwefelsäuremolekülen. Wenn die U. S. Army nicht irgendwann mit einer Ladung fabrikneuer Akkus hier aufkreuzte – hey, sorry, wir haben euch ganz vergessen! –, dann würden die Lichter ausgehen. In einem Jahr, maximal in zweien. Und wenn das passierte, würde er, Michael »Akku«, aufstehen und sagen müssen: Hört zu, Leute, ich hab eine nicht so tolle Neuigkeit. Die Vorhersage für heute Nacht? Dunkelheit mit verbreitetem Schreien. Es hat Spaß gemacht, die Scheinwerfer in Gang zu halten, aber jetzt muss ich sterben. Wie ihr alle.

Der Einzige, dem er es gesagt hatte, war Theo. Nicht Gabe Curtis, der formal gesehen die Aufsicht über Licht und Strom führte, sich aber, als er krank geworden war, die meiste Zeit abgemeldet und es Michael und Elton überlassen hatte, den Laden zu führen. Und auch nicht Sanjay oder Old Chou oder sonst jemandem. Nicht einmal seiner Schwester Sara. Warum hatte er mit Theo darüber gesprochen? Sie waren Freunde. Theo hatte einen Sitz im Haushalt, dem Obersten Rat der Kolonie. Freilich, Theo hatte etwas Schwermütiges an sich, und es war hart, einem Mann zu sagen, dass er und alle andern, die er kannte, im Grunde dem Tod geweiht waren. Vielleicht hatte Michael dabei auch nur an den Tag gedacht, an dem er es würde verkünden müssen. Und insgeheim gehofft, dass Theo ihm das abnehmen oder ihm zumindest den Rücken stärken würde. Doch selbst Theo, der besser informiert als die meisten war, betrachtete die Akkus offensichtlich als dauerhafte Einrichtung der Natur. Nicht als etwas von Menschen Gemachtes und von den Gesetzen der Physik Beherrschtes. Wie die Sonne und der Himmel und die Befestigungsmauer, waren die Akkus für ihn einfach da. Sie tranken den Saft von den Turbinen und gaben ihn an die Scheinwerfer weiter, und wenn da etwas schiefging, verdammt, dann brachten Michael und Elton es wieder in Ordnung. Stimmt’s nicht?, hatte Theo gesagt. Dieses Problem, das könnt ihr doch beheben? So war es eine Weile hin und her gegangen, bis Michael entnervt geseufzt und Klartext geredet hatte. Und jedes Wort, das er sagte, hatte exakt eine Silbe.

Theo, du hörst nicht zu. Du hörst nicht, was ich sage. Das. Licht. Geht. Aus.

Sie saßen auf der Veranda des kleinen, eingeschossigen Holzhauses, das Michael mit Sara teilte. Sie war über den Nachmittag irgendwo unterwegs, hütete die Herde, maß das Fieber bei den Patienten im Krankenrevier oder besuchte Onkel Walt, um dafür zu sorgen, dass er vernünftig aß und sich wusch – mit anderen Worten, sie trieb sich rastlos herum, wie sie es immer tat. Es war spät am Nachmittag. Das Haus stand am Rande der stoppeligen Wiese, auf der sie das Pferd grasen ließen; aber die trockenen Tage des Sommers hatten diesmal schon früh eingesetzt, und die Wiese hatte die Farbe einer Brotkruste und war an manchen Stellen bis auf den Boden verdorrt. Auf den kahlen Flecken wehte der Staub in kleinen Wölkchen auf, wenn man darüber hinwegging. Alle kannten dieses Haus als das Haus der Fishers.

»Aus«, wiederholte Theo. »Das Licht.«

Michael nickte. »Aus.«

»In zwei Jahren, sagst du.«

Michael sah Theo aufmerksam an und beobachtete, wie diese Mitteilung allmählich zu ihm durchdrang. »Es könnte noch länger dauern, aber das glaube ich nicht. Könnte auch schneller gehen.«

»Und du kannst nichts dagegen tun.«

»Das kann niemand.«

Theo atmete jäh aus, als habe er einen Schlag in die Magengrube bekommen. »Okay, kapiert.« Er schüttelte den Kopf. »Ich hab’s kapiert. Wem hast du es sonst noch erzählt?«

»Niemandem.« Michael hob die Schultern. »Nur dir.«

Theo stand auf und trat an den Rand der Veranda. Eine Zeitlang schwiegen sie beide.

»Wir werden wegziehen müssen«, sagte Michael. »Oder wir brauchen eine neue Stromquelle.«

Theo schaute über die Wiese hinaus. »Und was schlägst du vor? Wie sollen wir das tun?«

»Ich schlage gar nichts vor. Ich konstatiere eine Tatsache. Wenn die Leistung der Speicher unter zwanzig Prozent sinkt …«

»Ich weiß, ich weiß, das war’s, kein Licht mehr. Das hast du schon gesagt.«

»Was sollen wir tun?«

Theo lachte verzweifelt. »Woher zum Teufel soll ich das wissen?«

»Ich meine, sollen wir es den Leuten sagen?« Michael zögerte und schaute seinen Freund forschend an. »Damit sie, du weißt schon, sich vorbereiten können.«

Theo überlegte kurz. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein.«

Und das war alles. Sie hatten nie wieder darüber gesprochen. Wann war das gewesen? Vor gut einem Jahr, etwa um die Zeit, als Maus und Galen geheiratet hatten – die erste Hochzeit nach langer, langer Zeit. Es war merkwürdig gewesen, alle so glücklich zu sehen, während Michael wusste, was er wusste. Die Leute waren überrascht gewesen, dass Galen da oben mit Mausami stand und nicht Theo. Nur Michael wusste, warum – oder er konnte es sich zumindest denken. Er hatte den Ausdruck in Theos Blick gesehen, an jenem Nachmittag auf der Veranda. Irgendetwas hatte ihn da verlassen, und für Michael sah es nicht aus wie etwas, das man zurückbekommen konnte.

Jetzt konnten sie nur noch warten. Warten und lauschen.

Denn das war das Dumme: Das Funkgerät durfte nicht benutzt werden. Es war verboten. Offensichtlich waren damit zu viele Leute angelockt worden. Das Funkgerät war es gewesen, was die Walker in den Anfangstagen in die Kolonie geführt hatte, und für so viele Bewohner war die Kolonie nicht ausgelegt gewesen. Also hatte man im Jahr 17 – vor fünfundsiebzig Jahren – entschieden, die Funkantenne vom Berg zu holen, das Gerät zu zertrümmern und die Einzelteile auf die Müllkippe zu werfen.

Damals mochte das einleuchtend gewesen sein. Die Army wusste ja, wo sie zu finden waren, und der Vorrat an Lebensmitteln und Brennstoff war ebenso begrenzt wie der Platz unter den Scheinwerfern. Aber jetzt sah die Sache anders aus. Jetzt, da die Akkus so weit heruntergekommen waren, dass die Lichter bald ausgehen würden. Dunkelheit, Schreie, Tod etc. pp.

Nicht lange nach seinem Gespräch mit Theo – nur wenige Tage später, wenn er sich recht erinnerte –, war Michael zufällig auf ein altes Logbuch gestoßen. »Zufällig« war vielleicht nicht das richtige Wort, wie sich zeigen sollte. Es war in der stillen Stunde kurz vor Tagesanbruch. Michael hatte wie immer an der Kontrolltafel im Lichthaus gesessen, die Monitore im Auge behalten und in einem Buch gelesen, das der Lehrerin gehörte: Wie soll unser Baby heißen? (Ihm war jeder neue Lesestoff recht, und er war in dem Buch mittlerweile beim Buchstaben I angelangt.) Er wusste nicht mehr, warum – vielleicht war es Rastlosigkeit gewesen, Langeweile oder der verstörende Gedanke, dass seine Eltern ihn genauso gut Ichabod hätten nennen können (Ichabod den Akku!), jedenfalls war sein Blick zu dem Bord über seinem Monitor gewandert, und da hatte es gestanden. Ein Notizbuch mit einem schmalen schwarzen Rücken. Da stand es zwischen dem üblichen Kram, eingeklemmt zwischen einer Rolle Lötzinn und einem Stapel von Eltons CDs (Billie Holiday Sings the Blues, Sticky Fingers von den Rolling Stones, Superstars No.1 Party Dance Hits und eine Band namens Yo Mama, deren Musik sich in Michaels Ohren anhörte wie ein Haufen Leute, die sich gegenseitig anschrien – nicht, dass er auch nur das Geringste von Musik verstanden hätte). Sicher hatte er dieses Notizbuch schon tausendmal gesehen, aber er konnte sich nicht daran erinnern, und das war seltsam. Ein Buch! Etwas, das er noch nicht gelesen hatte. (Er hatte alles schon gelesen.) Er stand auf und nahm es herunter. Als er es aufschlug, sah er als Erstes, in der präzisen Handschrift eines Ingenieurs, einen Namen, den er kannte: Rex Fisher. Michaels Urgroßvater. Rex Fisher, Erster Ingenieur für Licht und Strom, Erste Kolonie, Republik Kalifornien. Was zum Teufel …? Wie hatte er das übersehen können? Er blätterte die Seiten um. Das Papier war wellig von Feuchtigkeit und Alter. Sein Verstand brauchte nur einen Augenblick, um die Informationen zu zergliedern, in ihre Komponenten zu zerlegen und zu einem kohärenten Ganzen zusammenzufügen, sodass er begriff, was die mit Tinte beschriebenen Seiten dieses schmalen Bandes enthielten. Zahlenkolonnen, Daten im alten Stil, gefolgt von der Uhrzeit und einer weiteren Zahl, die Michael als Sendefrequenz erkannte, und in der Spalte rechts daneben kurze Anmerkungen, selten mehr als ein paar Worte. Aber die waren befrachtet mit Andeutungen, und ganze Geschichten verbargen sich dahinter: »Unbemannter Notsender« oder »Fünf Überlebende« oder »Militär?« oder »Drei unterwegs aus Prescott, Arizona«. Er fand noch mehr Ortsnamen: Ogden, Utah. Kerrville, Texas. Las Cruces, New Mexico. Ashland, Oregon. Hunderte solcher Notizen, Seite um Seite, bis sie einfach aufhörten. Der letzte Eintrag lautete schlicht: »Sendebetrieb eingestellt auf Anordnung des Haushalts.«

Ein fahler Lichtschein erfüllte die Fenster, als Michael fertig war. Er löschte die Laterne und stand auf, als die Morgenglocke zu läuten begann: drei hallende Schläge, gefolgt von einer Pause von gleicher Dauer, und dann noch einmal drei, falls man die Botschaft beim ersten Mal nicht verstanden hatte (es ist Morgen, und du lebst noch). Er durchquerte das labyrinthhafte Durcheinander, das den kleinen Raum erfüllte – Plastikschachteln mit Ersatzteilen, verstreutes Werkzeug, wacklige Stapel von schmutzigen Tellern (wieso Elton nicht in der Unterkunft essen konnte, begriff Michael nicht. Der Kerl war einfach grässlich). Er legte den Hauptschalter um und ließ die Scheinwerfer erlöschen. Müde Genugtuung durchströmte ihn wie immer, wenn die Morgenglocke schlug. Die Arbeit einer weiteren Nacht war getan, alle Bewohner der Kolonie waren wohlbehalten und sicher hinter den Mauern und konnten einen neuen Tag beginnen. Das sollte Alicia mit ihren Messern erst mal fertigbringen! (Aber war es nicht in Wahrheit Alicias Bild vor seinem geistigen Auge gewesen, das ihn abgelenkt hatte? Wie so oft! Hatte er nicht an sie gedacht, als er den Kopf gehoben und das Logbuch gesehen hatte? Jenes Bild, wie sie am Abend zuvor aus dem Arsenal gekommen war, und das Sonnenlicht ihr Haar auflodern ließ. Ein ziemlich hinreißender Anblick, oder? Und stimmte all das nicht trotz der Tatsache, dass Alicia Donadio die unerträglichste Frau war, die es gab?) Er kehrte zur Kontrolltafel zurück und erledigte die letzten Arbeitsschritte; er startete den Ladevorgang der Zellen, schaltete die Ventilatoren ein und öffnete die Lüftungsschächte. Die Ladestandsanzeiger, die allesamt auf achtundzwanzig Prozent standen, zitterten und fingen an zu steigen.

Er drehte sich zu Elton um, der scheinbar dösend auf seinem Stuhl saß. Manchmal war das schwer zu erkennen. Ob er wach war oder schlief, Eltons Augen sahen immer gleich aus: zwei schmale gelbe Puddingstreifen spähten durch ständig tränenfeuchte Lider, die sich nie ganz schlossen. Seine bleichen Hände lagen gefaltet auf der Wölbung seines Bauchs, und seine Kopfhörer umklammerten den schorfigen Schädel und pumpten ihm die Musik in die Ohren, die er die ganze Nacht hindurch hörte. The Beatles. Boyz-B-Ware. Art Lundgren: Party-Hits (das Einzige, das Michael halbwegs gefiel).

»Elton?« Keine Antwort. Michael sprach einen Tick lauter. »Elton?«

Der alte Mann – Elton war mindestens fünfzig – erwachte erschrocken zum Leben. »Verdammt, Michael! Wie spät ist es?«

»Keine Aufregung. Es ist Morgen. Wir haben abgeschaltet.«

Elton kippte auf seinem Stuhl nach vorne, dass die Scharniere ächzten, und zog sich den Kopfhörer in den faltigen Nacken. »Wieso weckst du mich dann? Gerade fing es an, gut zu werden.«

Neben den CDs vertrieb sich Elton die Zeit hauptsächlich mit sexuellen Abenteuerfantasien – Träume von längst toten Frauen, deren Inhalt er Michael in erschöpfenden Einzelheiten schilderte, wobei er behauptete, es seien tatsächlich Erinnerungen an Dinge, die er in jüngeren Jahren erlebt hatte. Lauter Blödsinn, vermutete Michael, denn Elton verließ kaum jemals das Lichthaus, und wenn Michael ihn so ansah mit seinen schuppendurchsetzten Haaren, dem verfilzten Bart und den grauen Zähnen, in denen die Überreste einer wahrscheinlich vor zwei Tagen eingenommenen Mahlzeit steckten, konnte Michael sich nicht vorstellen, dass irgendetwas davon auch nur annähernd möglich sein sollte.

»Willst du’s nicht hören?« Der alte Mann wackelte vielsagend mit den Augenbrauen. »Es war der Traum mit dem Heu. Ich weiß, der gefällt dir.«

»Nicht jetzt, Elton. Ich … ich habe was gefunden. Ein Buch.«

»Du weckst mich, weil du ein Buch gefunden hast?«

Michael rollte auf seinem Stuhl an der Kontrolltafel entlang und legte dem alten Mann das Buch auf den Schoß. Elton strich mit den Fingern über den Einband und verdrehte die blicklosen Augen nach oben. Dann hob er es an die Nase und schnupperte daran.

»Tja, sieht ganz nach dem Logbuch deines Urgroßvaters aus. Fliegt seit Jahren hier herum.« Er gab es Michael zurück. »Kann nicht behaupten, dass ich es gelesen hab. Steht was Gutes drin?«

»Elton, was weißt du darüber?«

»Kann ich nicht sagen. Aber manche Sachen haben’s an sich, dass sie genau dann auftauchen, wenn man sie braucht.«

Jetzt begriff Michael, warum er das Buch noch nicht gesehen hatte. Er hatte es nicht gesehen, weil es nicht da gewesen war.

»Du hast es da hingestellt, stimmt’s?«

»Hör zu, Michael, Funkgeräte sind verboten. Das weißt du.«

»Elton, hast du mit Theo gesprochen?«

»Mit welchem Theo?«

Michael merkte, dass er wütend wurde. Wieso konnte der Kerl eine Frage nicht einfach beantworten? »Elton …«

Der alte Mann hob die Hand und schnitt ihm das Wort ab. »Okay, reg dich nicht auf. Nein, ich habe nicht mit Theo gesprochen. Ich nehme aber an, du hast es getan. Ich habe mit niemandem gesprochen außer mit dir.« Er machte eine kurze Pause. »Weißt du, du hast mehr Ähnlichkeit mit deinem alten Herrn, als du glaubst, Michael. Er war auch kein guter Lügner.«

Aus irgendeinem Grund war Michael nicht überrascht. Er sackte auf seinem Stuhl zusammen, und im Grunde seines Herzens war er froh.

»Wie schlimm ist es?«, fragte Elton sanft.

»Sieht nicht gut aus.« Michael zuckte die Achseln und betrachtete seine Hände. »Nummer fünf ist am schlimmsten, zwei und drei sind ein bisschen besser als die andern. Schwankende Ladung bei eins und vier. Durchschnittlich achtundzwanzig Prozent heute Morgen, und niemals mehr als fünfundfünfzig bei der Ersten Glocke.«

Elton nickte. »Das heißt, Teilverdunklung in den nächsten sechs Monaten, und Totalausfall innerhalb von dreißig. Mehr oder weniger das, was dein Vater sich schon dachte.«

»Er wusste es?«

»Dein Vater konnte in diesen Akkus lesen wie in einem Buch, Michael. Er hat es schon vor langer Zeit kommen sehen.«

So war das also. Sein Vater hatte es gewusst, und seine Mutter wahrscheinlich auch. Eine vertraute Panik erwachte. Er wollte nicht darüber nachdenken. Er wollte es nicht.

»Michael?«

Er atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Ein weiteres Geheimnis, das er mit sich herumtragen musste. Aber er würde tun, was er immer tat. Er vergrub diese Information so tief in sich, wie es nur ging.

»Und«, sagte er, »wie baut man ein Funkgerät?«

Ein Funkgerät sei kein Problem, erklärte Elton. Das Problem sei der Berg.

Ursprünglich war das Signal von einer Antenne ausgestrahlt worden, die auf dem Gipfel des Berges stand. Ein fünf Kilometer langes Kabel hatte sie mit dem Sender im Lichthaus verbunden. Nach dem Einen Gesetz war alles demontiert und zerstört worden. Ohne die Antenne waren sie in östlicher Richtung hoffnungslos abgeschnitten, und jedes Signal von Westen, das sie vielleicht hätten empfangen können, ging unweigerlich in den elektromagnetischen Interferenzen der Akkus unter.

Damit blieben zwei Möglichkeiten: Man bat den Haushalt um Erlaubnis, auf dem Berg eine Antenne aufzustellen, oder man sagte gar nichts und versuchte, das Signal irgendwie zu verstärken.

Letzten Endes war die Entscheidung klar. Michael konnte nicht um Erlaubnis bitten, ohne zu erklären, warum er sie haben wollte, und das hätte bedeutet, den Haushalt über den Zustand der Akkus in Kenntnis zu setzen. Das aber kam schlichtweg nicht in Frage, denn dann würden es alle erfahren, und wenn das passierte, wäre alles andere nicht mehr wichtig. Er war nicht nur für die Akkus verantwortlich, sondern auch für den Leim der Hoffnung, der alles hier zusammenhielt. Er konnte den Leuten einfach nicht sagen, dass sie keine Chance mehr hatten. Ihm blieb nur eines übrig: Er musste jemanden da draußen finden, der noch lebte, und er musste ihn per Funk finden, denn das bedeutete, dass dieser Jemand Strom und damit auch Licht hatte. Vorher durfte er zu niemandem ein Wort sagen. Und wenn er niemanden fände, wenn die Welt wirklich leer wäre, dann würde sowieso passieren, was passieren würde. Dann war es besser, wenn niemand es wusste.

Am selben Morgen machte er sich an die Arbeit. Im Schuppen, zwischen Bergen von alten Kathodenstrahlröhren und CPUs und Plasmamonitoren und Kisten mit Handys und Blu-rays, lag ein Oszilloskop sowie ein alter Stereo-Empfänger – AM und FM, weiter nichts, aber den könnte er aufbohren. Ein Kupferdraht im Kamin diente als Antenne. Die Eingeweide des Empfängers montierte Michael zur Tarnung auf ein schlichtes CPU-Chassis. Der Einzige, der bemerken würde, dass auf dem Steuerpult eine zusätzliche CPU stand, wäre Gabe, und nach allem, was Sara ihm erzählt hatte, würde der arme Kerl nicht mehr zurückkommen. Dann stöpselte Michael den Empfänger in den Audio-Port der Kontrolltafel. Das Steuerungssystem für die Akkus enthielt ein einfaches Medienwiedergabeprogramm, und nach einigem Gefummel hatte er den Equalizer so eingestellt, dass er das Rauschen der Akkus herausfilterte. Sie würden nicht senden können; er würde herausfinden müssen, wie man einen Sender baute. Aber vorläufig und mit etwas Geduld würde er jedes anständige Signal, das von Westen her kam, empfangen können.

Aber da war nichts.

Oh, zu hören gab es genug. Überraschend viel sogar. Von Ultra-Niederfrequenzen bis zu Mikrowellen. Einsame Mobilfunksender, gespeist von noch funktionierenden Solarzellen, Erdwärmekraftwerke, die immer noch Saft ins Netz pumpten. Sogar zwei Satelliten, die noch im Orbit kreisten, pflichtbewusst ihr kosmisches Hallo ausstrahlten und sich wahrscheinlich fragten, wohin alles auf der Erde verschwunden war.

Eine verborgene Welt elektronischer Geräusche. Und niemand, keine Menschenseele, war zu Hause.

Tag für Tag hockte Elton vor dem Funkgerät, den Kopfhörer über die Ohren gestülpt, die blicklosen Augen in den Höhlen nach oben verdreht. Michael isolierte ein Signal, nahm das Rauschen heraus und leitete es an den Verstärker, wo es noch einmal gefiltert und dann auf die Kopfhörer geschickt wurde. Nach einem Augenblick intensiver Konzentration nickte Elton für gewöhnlich, strich sich versonnen über den von Krümeln bedeckten Bart und verkündete dann mit seiner sanften Stimme: »Schwach und unregelmäßig. Vielleicht ein alter Notrufsender.«

Oder: »Ein Bodensignal. Eine Mine vielleicht.«

Oder mit knappem Kopfschütteln: »Nichts. Machen wir weiter.«

So saßen sie da, Tag und Nacht, Michael am Monitor, Elton mit dem Kopfhörer auf den Ohren, und seine Gedanken schienen sich in den übrig gebliebenen Signalen ihrer fast verschwundenen Spezies zu verlieren. Wenn sie eins entdeckten, verzeichnete Michael es im Logbuch und notierte Zeit, Frequenz und alles andere. Und dann fingen sie wieder von vorn an.

Elton war blind zur Welt gekommen, aber deshalb hatte Michael eigentlich kein Mitleid mit ihm. Es war einfach so. Die radioaktive Strahlung war schuld daran gewesen. Eltons Eltern waren Walker gewesen, Teil der Zweiten Welle von Flüchtlingen, vor etwas mehr als fünfzig Jahren, als die Siedlungen in Baja überrannt worden waren. Die Überlebenden waren geradewegs durch die verstrahlten Ruinen von San Diego gelaufen, und als der Trupp hier ankam, achtundzwanzig Seelen, hatten diejenigen, die noch stehen konnten, die andern getragen. Eltons Mutter war schwanger gewesen, im Fieberdelirium, sie hatte ihn geboren und war gestorben. Sein Vater hätte jeder sein können. Niemand erfuhr je den Namen.

Im Großen und Ganzen kam Elton gut zurecht. Er hatte einen Stock, den er benutzte, wenn er das Lichthaus verließ, was nicht allzu oft vorkam, und anscheinend war er damit zufrieden, seine Tage am Steuerpult zu verbringen und sich auf die einzige Weise nützlich zu machen, die er verstand. Neben Michael wusste er mehr über die Akkus Bescheid als irgendjemand sonst – eine erstaunliche Leistung, wenn man bedachte, dass er sie nie gesehen hatte. Aber Elton behauptete, das sei sein Vorteil, denn so könne er sich durch den bloßen Anschein nicht täuschen lassen.

»Diese Akkus sind wie eine Frau, Michael«, sagte er gern. »Du musst lernen, ihnen zuzuhören.«

Jetzt, am Abend des Vierundfünfzigsten des Sommers, kurz vor der Ersten Abendglocke – vier Tage, nachdem Arlo Wilson einen Viral getötet hatte –, überprüfte Michael auf dem Monitor die Leistung der Akkus, eine Balkengrafik für jede der sechs Zellen. Vierundfünfzig Prozent auf zwei und drei, eine Idee unter fünfzig bei fünf und vier, glatte fünfzig bei eins und sechs, und die Temperatur bei allen im grünen Bereich: einunddreißig Grad. Die Windgeschwindigkeit unten am Berg betrug gleichmäßige dreizehn km/h, in Böen bis zu zwanzig. Michael ging die Checkliste durch, er lud die Kondensatoren und testete alle Relais. Was hatte Alicia gesagt? Ihr drückt auf einen Knopf, und sie gehen an? So wenig Ahnung hatten die Leute.

»Du solltest die zweite Zelle noch einmal checken«, sagte Elton. Er saß auf seinem Stuhl und löffelte sich Ziegenquark aus einem Becher in den Mund.

»Die zweite Zelle ist in Ordnung.«

»Mach’s einfach. Vertrau mir.«

Seufzend sah Michael noch einmal auf seinen Bildschirm. Und tatsächlich: Nummer zwei fiel ab. Vierundfünfzig. Zweiundfünfzig. Und die Temperatur stieg langsam an. Er hätte Elton gefragt, woher er es wusste, aber dann hätte er die übliche Antwort bekommen – eine geheimnisvolle Neigung des Kopfes, die sagte: Ich hab’s gehört, Michael.

»Öffne das Relais«, riet Elton. »Vielleicht geht es dann ja wieder.«

Bis zur Zweiten Abendglocke waren es nur noch wenige Augenblicke. Na ja, sie könnten die übrigen fünf Zellen hochfahren, wenn es nötig war, und dann feststellen, wo das Problem lag. Michael öffnete das Relais, wartete einen Augenblick, damit das Gas, das vielleicht in der Leitung war, entweichen konnte, und schloss es dann wieder. Die Anzeige stand gleichmäßig auf fünfundfünfzig.

»Eine Störung, weiter nichts«, sagte Elton, als die Zweite Glocke ertönte. »Aber dieses Relais ist ein bisschen zickig. Wir sollten es auswechseln.«

Die Tür des Lichthauses öffnete sich. Elton hob den Kopf.

»Bist du das, Sara?«

Michaels Schwester kam herein, immer noch in Reitkleidung und staubbedeckt. »’n Abend, Elton.«

»Was rieche ich denn da an dir?« Sein Grinsen reichte von einem Ohr zum andern. »Bergflieder?«

Sie strich eine Strähne ihres schweißfeuchten Haars hinter das Ohr. »Ich rieche nach Schafen, Elton. Aber vielen Dank.« Sie sah Michael an. »Kommst du heute Abend nach Hause? Ich dachte, ich könnte was kochen.«

Wahrscheinlich, dachte Michael, sollte er bleiben, wo er war, nachdem eine der Zellen Mätzchen gemacht hatte. Außerdem war die Nacht die beste Zeit fürs Funken. Aber er hatte den ganzen Tag noch nichts gegessen, und bei dem Gedanken an eine warme Mahlzeit fing sein leerer Magen an zu knurren.

»Was dagegen, Elton?«

Der alte Mann zuckte die Achseln. »Ich weiß ja, wo ich dich finde, wenn ich dich brauche. Geh nur.«

»Soll ich dir was bringen?«, fragte Sara, als Michael aufstand. »Wir haben genug.«

Aber Elton schüttelte den Kopf, wie er es immer tat. »Heute Abend nicht, danke.« Er nahm die Kopfhörer in die Hand. »Ich bin bestens versorgt.«

Michael und seine Schwester traten hinaus ins Scheinwerferlicht. Nach so vielen Stunden in der halbdunklen Baracke musste Michael auf der Schwelle stehen bleiben und im grellen Licht blinzeln. Sie gingen am Lager vorbei Richtung Pferch. Die Luft war schwer vom Geruch frischen Dungs. Er hörte das Blöken der Schafe, und als sie weitergingen, wieherten die Pferde. Hinter der Weide, gleich bei der Südmauer, sah Michael die Läufer, die auf der Mauer hin und her liefen, dunkle Silhouetten im Licht der Scheinwerfer. Er sah, dass Sara sie auch beobachtete; ihr Blick war abwesend und nachdenklich, und Lichtreflexe glänzten in ihren Augen.

»Keine Sorge«, sagte er. »Denen passiert nichts.«

Seine Schwester antwortete nicht. Vielleicht hatte sie ihn nicht gehört. Schweigend gingen sie nach Hause. Sara wusch sich an der Pumpe in der Küche, während Michael die Kerzen anzündete. Dann ging sie hinaus auf die hintere Veranda, und als sie gleich darauf wieder hereinkam, schwenkte sie einen stattlichen Hasen an den Ohren.

»Meine Güte!«, rief Michael. »Wo hast du den denn her?«

Saras Stimmung hatte sich aufgehellt, und sie lächelte stolz. Michael sah die Wunde am Hals des Tieres, wo Saras Pfeil es aufgespießt hatte.

»Von der Oberen Weide. Ich bin einfach so dahergeritten, und da war er, mitten auf dem Feld.«

Wie lange war es her, dass er einen Hasen gegessen hatte? Seit überhaupt irgendjemand einen Hasen gesehen hatte? Die meisten Wildtiere waren längst verschwunden, abgesehen von den Eichhörnchen, die sich anscheinend schneller vermehrten, als die Virals sie töten konnten, und den kleinen Vögeln, den Spatzen und Zaunkönigen, die sie entweder nicht fangen wollten oder nicht fangen konnten.

»Willst du ihn ausnehmen?«, fragte Sara.

»Ich bin nicht mal sicher, ob ich noch weiß, wie das geht«, sagte Michael.

Ungeduldig zog Sara das Messer aus dem Gürtel. »Dann mach dich nützlich und zünde den Ofen an.«

Sie machten ein Ragout aus dem Hasen, mit Möhren und Kartoffeln aus der Kiste im Keller, und die Sauce verdickten sie mit Maismehl. Sara behauptete, sie erinnere sich an das Rezept ihres Vaters, aber Michael sah, dass sie improvisierte. Es machte nichts. Schon bald stieg der köstliche Duft von geschmortem Fleisch über dem Herd auf und erfüllte das Haus mit einer behaglichen Wärme, die Michael schon lange nicht mehr verspürt hatte. Sara war mit dem abgezogenen Hasenfell hinter das Haus gegangen, um es abzuschaben, und Michael behielt den Topf im Auge und wartete auf ihre Rückkehr. Er hatte den Tisch gedeckt, als sie wieder hereinkam und sich die Hände mit einem Lappen abwischte.

»Ich weiß, dass du nicht auf mich hören wirst«, sagte sie. »Aber du und Elton, ihr solltet vorsichtig sein.«

Sara wusste über das Funkgerät Bescheid. Sie ging ständig im Lichthaus aus und ein, und da hatte sie es unmöglich übersehen können. Aber alles andere hatte er ihr nicht erzählt.

»Das ist nur ein Empfänger, Sara. Wir senden nichts.«

»Was wollt ihr denn da eigentlich auffangen?«

Achselzuckend setzte er sich an den Tisch. Er wollte dieses Gespräch so schnell wie möglich abwürgen. Was sollte er sagen? Er suchte die Army. Aber die Army gab es nicht mehr. Alle waren tot, und die Lichter gingen aus.

»Hauptsächlich hören wir Rauschen.«

Sie schaute ihn durchdringend an. Die Hände in die Hüften gestemmt, lehnte sie an der Spüle und wartete ab. Als Michael nichts weiter sagte, schüttelte sie seufzend den Kopf.

»Na, lasst euch bloß nicht erwischen.«

Sie aßen schweigend am Küchentisch. Das Fleisch war ein bisschen zäh, aber es schmeckte so gut, dass Michael beim Kauen beinahe stöhnte. Als sie mit dem Essen fertig waren, war es kurz vor Halbnacht. Normalerweise ging er erst nach Tagesanbruch ins Bett, aber jetzt hätte er den Kopf auf die Arme legen und auf der Stelle einschlafen können. Es lag etwas Vertrautes darin – nicht nur vertraut, sondern auch ein bisschen traurig –, wie sie hier am Tisch saßen und Hasenragout aßen. Nur sie beide.

Er hob den Kopf und merkte, dass Sara ihn anschaute.

»Ich weiß«, sagte sie. »Ich vermisse sie auch.«

Da wollte er es ihr erzählen. Alles über die Akkus und das Logbuch, über ihren Vater und das, was er gewusst hatte. Er brauchte noch einen Menschen, der die Last dieses Wissens mit ihm trug. Aber er wusste, dass es ein selbstsüchtiges Verlangen war, dem er nicht nachgeben durfte.

Sara stand auf und trug die Schüsseln zur Wasserpumpe. Als sie abgewaschen hatte, gab sie den Rest des Ragouts in einen Tontopf und wickelte ein dickes Tuch darum, um es warm zu halten.

»Willst du es Walt bringen?«, fragte Michael.

Walter war der ältere Bruder ihres Vaters. Als Lagerverwalter war er verantwortlich für das Gemeingut, er gehörte dem Komitee der Gewerbe und – als ältester lebender Fisher – dem Haushalt an. Diese dreifache Verantwortung machte ihn zu einem der mächtigsten Bürger der Kolonie nach Soo Ramirez und Sanjay Patal. Aber er war auch Witwer und lebte allein. Seine Frau Jean war in der Dunklen Nacht gestorben. Er trank gern zu viel von seinem selbstgebrannten Schnaps und vergaß oft das Essen. Wenn er nicht im Lagerhaus war, werkelte er meistens an der Destille im Schuppen hinter seinem Haus herum oder schlief irgendwo drinnen seinen Rausch aus.

Sara schüttelte den Kopf. »Ich glaube, Walt könnte ich im Moment nicht ertragen. Ich bringe es Elton.«

Michael schaute sie prüfend an. Er wusste, dass sie wieder an Peter dachte. »Du solltest dich ein bisschen ausruhen. Ich bin sicher, es geht ihnen gut.«

»Sie sind überfällig.«

»Nur einen Tag. Das kommt schon mal vor.«

Seine Schwester antwortete nicht. Schrecklich, dachte Michael, was die Liebe mit einem Menschen machen konnte. Er sah keinen Sinn darin.

»Lish ist doch bei ihnen. Ich bin sicher, da passiert nichts.«

Sara runzelte die Stirn und schaute weg. »Wegen Lish mache ich mir ja Sorgen.«

Als Erstes ging sie zur Zuflucht, wie sie es oft tat, wenn sie nicht schlafen konnte. Wenn sie die Kinder anschaute, wohlbehalten in ihren Betten – sie wusste nicht, ob sie sich dann besser oder schlechter fühlte. Aber wenigstens fühlte sie etwas außer dem hohlen Schmerz der Sorge.

Sie erinnerte sich gern an ihre eigene Zeit dort. Es war eine sichere, ja sogar glückliche Welt gewesen, und sie hatte keine anderen Sorgen gehabt als die Frage, wann ihre Eltern zu Besuch kommen würden, ob die Lehrerin heute gute Laune hatte oder nicht, und wer mit wem befreundet war. Die meiste Zeit war es ihr nicht seltsam vorgekommen, dass sie und ihr Bruder in der Zuflucht wohnten und ihre Eltern woanders, denn sie hatte kein anderes Leben gekannt, und abends, wenn ihr Vater, ihre Mutter oder beide vorbeischauten, um ihnen gute Nacht zu sagen, war sie nie auf die Idee gekommen, sie zu fragen, wohin sie nach diesem Besuch gingen. Wir müssen jetzt los, sagten sie nur, wenn die Lehrerin verkündete, die Zeit sei um, und dieses eine Wort, gehen, umfasste die ganze Situation für Sara und wahrscheinlich auch für Michael: Eltern kamen, blieben ein Weilchen, und dann mussten sie gehen. Viele ihrer schönsten Erinnerungen an die Eltern drehten sich um diese kurzen Besuche zur Schlafenszeit, wenn sie ihnen noch eine Geschichte vorlasen oder sie einfach nur zudeckten.

Und dann eines Abends hatte sie alles kaputt gemacht, ganz unabsichtlich. Wo schlaft ihr?, hatte sie ihre Mutter gefragt, als sie gerade gehen wollte. Wenn ihr nicht hier bei uns schlaft, wo geht ihr dann hin? Als sie diese Frage stellte, schien sich in den Augen ihrer Mutter irgendetwas herabzusenken – wie ein Rouleau, das vor ein Fenster fiel. Oh, sagte ihre Mutter nur. Sara sah, dass ihr klägliches Lächeln falsch war. Ich schlafe eigentlich nicht. Schlafen ist etwas für dich, kleine Sara, und für deinen Bruder Michael. Und als sie den Gesichtsausdruck ihrer Mutter bei diesen Worten sah, hatte sie, wie sie heute glaubte, zum ersten Mal einen kurzen Blick auf die furchtbare Wahrheit geworfen.

Es stimmte, was alle sagten: Man hasste die Lehrerin, wenn sie es offenbarte. Wie hatte Sara sie geliebt, bis zu diesem Tag. So sehr wie ihre Eltern, vielleicht noch mehr. Ihr achter Geburtstag: Sie hatte gewusst, dass etwas passieren würde, etwas Wunderbares. Dass die Kinder, die acht Jahre alt wurden, an einen ganz besonderen Ort gingen. Aber Genaueres hatte sie nicht gewusst. Diejenigen, die später zurückkehrten, um ein jüngeres Geschwister zu besuchen, oder weil sie selbst Kinder hatten, waren älter, und es war so viel Zeit vergangen, dass sie zu ganz anderen Menschen geworden waren. Wo sie inzwischen gewesen waren und was sie getan hatten, war ein Geheimnis. Und gerade weil es geheim war, war dieser neue Ort, der sie alle da draußen außerhalb der Zuflucht erwartete, etwas so Besonderes. Ein Kribbeln erfüllte sie, als ihr Geburtstag heranrückte, und vor lauter Aufregung fragte sie sich nie, was eigentlich ohne sie aus Michael werden würde. Auch für ihn würde der Tag kommen. Die Lehrerin hatte ihnen verboten, jemals darüber zu sprechen, aber natürlich taten die Kleinen es doch, wenn sie nicht da war. Im Waschraum, im Speisesaal oder abends im Großen Schlafsaal, wo das Getuschel an den Reihen der Pritschen hin und her wanderte, redeten sie immer von der Entlassung und davon, wer als Nächster an der Reihe wäre. Wie mochte die Welt da draußen aussehen? Wohnten die Leute in Schlössern wie die in den Büchern? Welche Tiere würden sie finden, und würden sie sprechen können? (Die Mäuse in dem Käfig, den die Lehrerin im Klassenzimmer stehen hatte, waren ausnahmslos entmutigend stumm.) Was für wundervolles Essen würden sie bekommen, was für fabelhaftes Spielzeug? Noch nie war Sara so gespannt gewesen wie beim Warten auf den glorreichen Tag, an dem sie in die Welt hinaustreten würde.

Am Morgen ihres Geburtstags erwachte sie mit einem überschwänglichen Gefühl, als schwebe sie auf einer Wolke des Glücks. Aber irgendwie würde sie dieses Glück noch bis zur Nachmittagsruhe für sich behalten müssen. Erst wenn die Kleinen schliefen, würde die Lehrerin sie hinausbringen. Niemand sagte etwas, doch beim Frühstück und im Morgenkreis merkte sie, dass alle sich für sie freuten – alle außer Michael, der sich gar nicht bemühte, seinen Neid zu verbergen, und sich mürrisch weigerte, mit ihr zu sprechen. Tja, aber so war Michael nun mal. Wenn er sich nicht mit ihr freuen konnte, würde sie sich ihren besonderen Tag dadurch trotzdem nicht verderben lassen. Erst nach dem Lunch, als die Lehrerin alle aufforderte, sich von Sara zu verabschieden, fragte sie sich allmählich, ob er vielleicht mehr wusste als sie. Was ist, Michael?, fragte die Lehrerin. Willst du deiner Schwester nicht auf Wiedersehen sagen, kannst du dich nicht für sie freuen? Und Michael sah sie an und sagte: Es ist nicht so, wie du denkst, Sara. Dann umarmte er sie schnell und rannte hinaus, bevor sie ein Wort hervorbringen konnte.

Na, das war aber merkwürdig, hatte sie damals gedacht, und sie dachte es noch heute, nach all den Jahren. Woher hatte Michael es gewusst? Viel später, als sie beide wieder allein zusammen waren, dachte sie an diese Szene und fragte ihn danach. Woher wusstest du es? Aber Michael konnte nur den Kopf schütteln. Ich wusste es einfach, sagte er. Nicht die Details, aber ich wusste, was es in Wirklichkeit war. Wie sie mit uns gesprochen hatten, Mom und Dad, wenn sie uns abends zudeckten. Ich habe es in ihren Augen gesehen.

Aber damals, am Tag ihrer Entlassung, als Michael weglief und die Lehrerin ihre Hand nahm, hatte sie sich keine großen Gedanken gemacht. Michael war eben Michael. Dann die letzten Abschiede, die Umarmungen, das Gefühl, dass der Augenblick bevorstand: Peter war da, und Maus Patal und Ben Chou und Galen Strauss und Wendy Ramirez und alle andern, und sie berührten sie und sagten ihren Namen. Vergiss uns nicht, sagten alle. Sie hatte die Tasche mit ihren Sachen, mit Kleidern, Pantoffeln und der kleinen Stoffpuppe, die sie hatte, seit sie klein war – ein Spielzeug durfte man mitnehmen –, und die Lehrerin nahm sie bei der Hand und führte sie aus dem Großen Saal in den kleinen Innenhof mit der Schaukel, der Wippe und dem Kletterturm aus alten Autoreifen, in dem die Kinder spielten, wenn die Sonne hoch am Himmel stand. Von dort ging es durch eine Tür in einen Raum, den sie noch nie gesehen hatte. Er sah aus wie ein Klassenzimmer, aber er war leer. In den Regalen war nichts, und an den Wänden hingen keine Bilder.

Die Lehrerin schloss die Tür hinter ihnen – eine seltsame und vorzeitige Pause. Sara hatte mehr erwartet. Wo kam sie hin?, fragte sie. War es ein weiter Weg? Würde jemand sie abholen? Wie lange musste sie hier in diesem Zimmer warten? Aber die Lehrerin schien ihre Fragen gar nicht zu hören. Sie ging vor ihr in die Hocke, und ihr großes, sanftes Gesicht war dicht vor Saras. Kleine Sara, sagte sie, was glaubst du, was da draußen ist, um dieses Gebäude herum, außerhalb der Räume, in denen du gewohnt hast? Und was mit den Männern ist, die du manchmal siehst, die abends kommen und gehen und über dich wachen? Die Lehrerin lächelte, doch etwas an ihrem Lächeln war anders, fand Sara, etwas, das ihr Angst machte. Die Frau sah sie erwartungsvoll an. Sara dachte an die Augen ihrer Mutter an dem Abend, als sie gefragt hatte, wo sie schlief. Ein Schloss?, fragte sie dann, denn plötzlich war sie so nervös, dass ihr nichts anderes einfiel. Ein Schloss mit einem Wassergraben? Ein Schloss, sagte die Lehrerin, ich verstehe. Und was noch, kleine Sara? Plötzlich lächelte sie nicht mehr. Ich weiß es nicht, sagte Sara. Gut, sagte die Lehrerin und räusperte sich. Es ist kein Schloss.

Und dann sagte sie es ihr.

Zuerst hatte Sara ihr nicht geglaubt. Aber das traf es nicht genau: Es war, als habe sich ihr Kopf in zwei Hälften gespalten, und die eine Hälfte, die Hälfte, die nichts wusste, die noch ein kleines Kind war und im Morgenkreis saß und im Hof spielte und darauf wartete, dass ihre Eltern sie abends zudeckten, verabschiedete sich von der anderen Hälfte, die es irgendwie immer gewusst hatte. Als nehme sie Abschied von sich selbst. Ihr wurde davon schwindlig und übel, und sie fing an zu weinen. Die Lehrerin nahm sie wieder bei der Hand und führte sie durch einen Flur und aus der Zuflucht hinaus. Draußen warteten ihre Eltern, die sie nach Hause holen wollten – in das Haus, in dem Sara und Michael heute noch wohnten und von dessen Existenz Sara bis zu diesem Tag nichts gewusst hatte. Das ist nicht wahr, stammelte Sara unter Tränen, das ist nicht wahr. Und ihre Mutter weinte auch, und sie nahm sie auf den Arm und drückte sie an sich und sagte: Es tut mir leid, es tut mir leid, es tut mir leid. Es ist wahr, es ist wahr, es ist wahr.

Die Erinnerung an diesen Augenblick ging ihr immer wieder durch den Kopf, wenn sie sich der Zuflucht näherte, die heute so viel kleiner aussah, als sie damals gewesen war, so viel gewöhnlicher. Ein altes, aus Backstein gemauertes Schulhaus, dessen Name – F. D. Roosevelt Elementary – in Stein gemeißelt über der Tür stand. Vom Weg aus sah sie einen einzelnen Wächter oben auf der Eingangstreppe: Hollis Wilson.

»Hi, Sara.«

»’n Abend, Hollis.«

Hollis balancierte eine Armbrust auf der Hüfte. Sara mochte diese Waffe nicht. Sie hatte eine große Durchschlagskraft, doch das Nachladen dauerte zu lange, und außerdem war sie schwer. Alle erzählten immer, es sei unmöglich gewesen, Hollis von seinem Bruder zu unterscheiden, bis er sich den Bart abrasiert habe, aber Sara sah das anders. Schon als kleines Kind – die Brüder Wilson waren drei Jahre vor ihr aus der Zuflucht gekommen – hatte sie immer gewusst, wer Hollis und wer Arlo war. Es waren Kleinigkeiten, an denen sie es erkannte, Details, die man auf den ersten Blick vielleicht gar nicht bemerkte, zum Beispiel, dass Hollis ein kleines bisschen größer war und sein Blick ein bisschen ernster. Aber für sie war es offensichtlich.

Als sie die Stufen hochging, deutete Hollis mit dem Kopf auf den Tontopf, den sie trug, und grinste. »Was hast du mir mitgebracht?«

»Hasenragout. Aber leider ist es nicht für dich.«

Er staunte. »Da bin ich platt. Woher hast du den Hasen?«

»Von der Oberen Weide.«

Er stieß einen leisen Pfiff aus und schüttelte den Kopf. Sara sah ihm den Heißhunger förmlich an. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich Hasenragout vermisse. Darf ich mal dran riechen?«

Sie schlug das Tuch zur Seite und öffnete den Deckel. Hollis beugte sich über den Topf und atmete tief durch die Nase ein.

»Ich könnte dich wohl nicht dazu überreden, es hier bei mir zu lassen, während du reingehst?«

»Schlag’s dir aus dem Kopf, Hollis. Ich bringe es Elton.«

Unbekümmert zuckte er die Achseln. Er hatte es nicht ernst gemeint. »Na, einen Versuch war’s wert. Okay, gib mir dein Messer.«

Sie zog es aus der Scheide und reichte es ihm. Nur Wächter durften die Zuflucht mit einer Waffe betreten, und auch sie mussten darauf achten, dass die Kleinen sie nicht sahen.

»Ich weiß nicht, ob du’s gehört hast.« Hollis schob das Messer in seinen Gürtel. »Wir haben eine neue Bewohnerin.«

»Ich war den ganzen Tag mit der Herde draußen. Wer ist es?«

»Maus Patal. Wundert wohl keinen.« Hollis zeigte mit seiner Armbrust auf den Weg. »Galen ist eben gegangen. Wundert mich, dass du ihn nicht gesehen hast.«

Sie war tief in Gedanken gewesen. Galen hätte an ihr vorbeigehen können, ohne dass sie ihn bemerkte. Und Maus war schwanger. Warum war sie überrascht?

»Tja.« Sie brachte ein Lächeln zustande und fragte sich, was sie dabei empfand. War es Neid? »Das ist eine tolle Neuigkeit.«

»Tu mir einen Gefallen, und sag ihr das. Du hättest hören sollen, wie die beiden sich gestritten haben. Die Hälfte der Kleinen dürfte davon aufgewacht sein.«

»Sie ist nicht glücklich darüber?«

»Es war eher Galen, glaube ich. Ich weiß es nicht. Du bist ein Mädel, Sara. Sag du’s mir.«

»Mit Schmeicheleien kommst du bei mir nicht weiter, Hollis.«

Er lachte trocken. Sie mochte ihn und seine gelassene Art. »Ich vertreibe mir nur die Zeit.« Er deutete mit dem Kopf auf die Tür. »Wenn Dora noch wach ist, grüße sie von ihrem Onkel Hollis.«

»Wie geht es Leigh? Arlo ist weg.«

»Leigh kennt das doch. Ich habe ihr gesagt, es kann tausend Gründe geben, weshalb er heute nicht zurückgekommen ist.«

In der Zuflucht stellte Sara den Topf in das leere Büro und ging in den Großen Saal. Hier war früher die Schulsporthalle gewesen. Die meisten Betten waren leer. Es war lange her, dass die Zuflucht auch nur annähernd voll gewesen war. Die Rouleaus vor den hohen Fenstern waren geschlossen. Nur rechts und links fiel ein wenig Licht herein, helle Striche, die auf den schlafenden Kindern lagen. Es roch nach Milch und Schweiß und sonnenwarmem Haar – der Geruch von Kindern, wenn der Tag zu Ende war. Sara schlich durch die Reihen mit Pritschen und Gitterbetten. Kat Curtis und Bart Fisher und Abe Phillips, Fanny Chou und ihre Schwestern Wanda und Susan, Timothy Molyneau und Beau Greenberg, den alle nur »Bowow« nannten, eine Verballhornung seines Namens, die an ihm klebte wie Kleister, die drei »Jots«, Juliet Strauss und June Levine und Jane Ramirez, Reys Jüngste.

Am Ende der letzten Reihe stand das Gitterbett mit Dora Wilson, Leighs und Arlos Tochter. Leigh saß auf einem Stuhl daneben. Junge Mütter durften bis zu einem Jahr in der Zuflucht bleiben. Leigh war immer noch ein bisschen füllig nach der Schwangerschaft. In diesem Zwielicht sah ihr breites Gesicht beinahe durchscheinend aus, weil sie nach den langen Monaten im Haus so blass war. Auf ihrem Schoß lag ein dickes Knäuel Garn mit zwei Nadeln. Sie hörte auf zu stricken und hob den Kopf, als Sara herankam.

»Hey«, sagte sie leise.

Sara nickte nur. Sie beugte sich über das Bettchen. Dora trug nur eine Windel. Sie schlief auf dem Rücken. Ihr Mund stand offen und bildete ein zartes O, und sie schnarchte leise durch die Nase. Der zarte, feuchte Hauch ihres Atem streifte Saras Wange wie ein Kuss. Wenn man ein schlafendes Baby ansah, konnte man fast vergessen, was aus der Welt geworden war.

»Keine Angst, du wirst sie nicht wecken.« Leigh gähnte in die hohle Hand und strickte weiter. »Die Kleine da, die schläft tief und fest.«

Sara beschloss, nicht nach Mausami zu suchen. Was immer zwischen ihr und Galen vorgefallen sein mochte, ging sie nichts an. In gewisser Weise tat Galen ihr leid. Er hatte immer eine Schwäche für Maus gehabt. Es war wie eine Krankheit, die er nie ganz los wurde, und alle behaupteten, als er Maus gefragt habe, ob sie ihn heiraten wolle, habe sie nur ja gesagt, weil Theo sie abgewiesen habe. Vielleicht hatte er es auch nie über sich gebracht, sie zu fragen, und Maus hatte versucht, ihn so zu diesem Schritt anzustacheln. Sie wäre kaum die erste Frau, die diesen Fehler begangen hätte.

Aber als Sara den Weg entlangging, fragte sie sich, warum manche Dinge nicht einfach leicht sein konnten. Denn bei ihr und Peter war es genauso. Sara liebte ihn, schon immer, schon als sie beide in der Zuflucht gelebt hatten. Es gab keine Erklärung dafür; so lange sie zurückdenken konnte, hatte sie diese Liebe empfunden. Sie war wie ein goldener Faden, der sie miteinander verband. Es war mehr als körperliche Anziehung; es war das Zerbrochene in ihm, das sie am meisten liebte, dieser unerreichbare Ort, an dem er seine Trauer aufbewahrte. Denn das war etwas, das niemand außer ihr über Peter Jaxon wusste, und sie wusste es, weil sie ihn liebte: Er war furchtbar traurig. Und es war nicht die gewöhnliche Trauer, mit der alle an die Menschen und Dinge dachten, die sie verloren hatten. Es war mehr als das. Und wenn sie diese Trauer finden und sie ihm nehmen könnte, würde er ihre Liebe erwidern, da war Sara sicher.

Deshalb hatte sie beschlossen, Krankenschwester zu werden. Wenn sie nicht bei der Wache sein konnte – und das konnte sie unter keinen Umständen –, dann war das Krankenrevier, das Prudence Jaxon leitete, das Zweitbeste. Hundertmal war sie kurz davor gewesen, die Frau zu fragen: Was kann ich tun? Was kann ich tun, damit dein Sohn mich liebt? Aber dann hatte sie immer geschwiegen. Sie hatte sich bemüht, ihren Beruf zu erlernen, so gut sie konnte. Sie hatte auf Peter gewartet und immer gehofft, er werde wissen, was sie ihm anbot, indem sie einfach nur in diesem Raum war.

Einmal hatte Peter sie geküsst. Vielleicht hatte auch Sara ihn geküsst. Die Frage, wer da wirklich wen geküsst hatte, erschien ihr angesichts der Sache selbst unwichtig. Sie hatten sich geküsst. In der Ersten Nacht. Spät war es gewesen und kalt. Sie alle hatten Schnaps getrunken und Arlo zugehört, der unter den Scheinwerfern Gitarre spielte, und als die Gruppe sich in der letzten Stunde vor Tagesanbruch zerstreute, war Sara unversehens mit Peter allein gewesen. Sie war ein bisschen beschwipst vom Schnaps, aber wohl nicht betrunken, und sie glaubte auch nicht, dass Peter es war. Eine seltsame Stille hatte sie erfasst, als sie zusammen den Weg hinuntergingen, weniger die Abwesenheit von Geräuschen oder Worten, als vielmehr etwas Greifbares, leicht Elektrisierendes, wie die Abstände zwischen den Noten von Arlos Gitarre. Die Erwartung umgab sie wie eine Luftblase, als sie unter den Scheinwerfern dahingingen, ohne sich zu berühren und trotzdem verbunden, und als sie bei ihrem Haus angekommen waren – ohne sich einzugestehen, dass es ihr Ziel gewesen war –, war diese Stille nicht nur eine Luftblase, sondern zugleich auch ein Fluss, dessen Strömung sie fortzog, und was als Nächstes geschehen sollte, erschien unaufhaltsam. Sie war glücklich, so glücklich. Sie standen an der Wand ihres Hauses in einem Streifen Schatten, und erst drängte sein Mund sich an sie, und dann alles andere. Es hatte keine Ähnlichkeit mit den Kussspielen, die sie alle in der Zuflucht gespielt hatten. Und auch nicht mit dem ersten, unbeholfenen Gefummel als Teenager. Das hier war tiefer, verheißungsvoller. Sara fühlte sich eingehüllt von einer Wärme, die sie kaum kannte: von der Wärme der menschlichen Nähe. Sie war nicht mehr allein. Und in diesem Augenblick hätte sie ihm alles gegeben. Was immer er wollte.

Aber dann war es vorbei gewesen. Plötzlich war er zurückgewichen. »Tut mir leid«, brachte er hervor. Anscheinend nahm er an, sie wünschte, er hätte es nicht getan, obwohl der Kuss ihm hätte sagen müssen, dass es nicht so war. Aber inzwischen hatte sich in der Luft etwas verschoben, die Luftblase war geplatzt, und beide waren zu verlegen, zu verwirrt, um noch irgendetwas zu sagen. Er verließ sie an ihrer Haustür, und das war’s. Seit dieser Nacht waren sie nie wieder allein zusammen gewesen, und sie hatten kaum ein Wort miteinander gesprochen.

Denn sie wusste es. Sie wusste es, als er sie küsste, und danach immer mehr, als die Tage vergingen. Peter gehörte nicht ihr, konnte niemals ihr gehören, weil es eine andere gab. Sie hatte es gespürt wie ein Gespenst zwischen ihnen, und in seinem Kuss. Jetzt ergab alles einen Sinn, und es war hoffnungslos. Während sie im Krankenrevier auf ihn wartete, hatte er die ganze Zeit auf der Mauer verbracht, mit Alicia Donadio.

Als sie jetzt mit ihrem Topf unterwegs zum Lichthaus war, fiel ihr Gabe Curtis ein, und sie beschloss, im Krankenrevier vorbeizuschauen. Der arme Gabe – gerade vierzig, und schon der Krebs. Niemand konnte viel für ihn tun. Sara vermutete, dass es im Magen angefangen hatte. Vielleicht auch in der Leber. Im Grunde war es gleichgültig. Das Krankenrevier war ein kleines Holzhaus in dem Teil der Kolonie, den sie Altstadt nannten – ein halbes Dutzend Häuser, in denen früher verschiedene Läden und Geschäfte gewesen waren. Das Haus, in dem jetzt das Krankenrevier war, hatte früher einen Lebensmittelladen beherbergt. Wenn die Nachmittagssonne im richtigen Winkel auf das Schaufenster schien, konnte man den Namen noch erkennen. »Mountaintop Provision Co, Fine Foods and Spirits, Est. 1996«, war da ins Milchglas geätzt.

Eine einzelne Laterne beleuchtete den Vorraum, wo Sandy Chou sich über den Schwesterntisch beugte und trockenen Wacholder im Mörser zermahlte. Alle nannten sie nur »die Andere Sandy«, denn es hatte einmal zwei Sandy Chous gegeben; die erste war Ben Chous Frau, die im Kindbett gestorben war. Die Luft war heiß und feucht; aus einem Wasserkessel auf dem Herd hinter dem Tisch quoll eine Dampfwolke. Sara schob ihren Topf zur Seite, nahm den Kessel vom Feuer und stellte ihn auf einen Untersetzer. Sie kam zum Tisch zurück und deutete auf das Pulver, das Sandy gerade in ein Sieb schüttete.

»Ist das für Gabe?«

Sandy nickte. Wacholder galt als Analgetikum, aber sie benutzten es zur Behandlung verschiedener Erkrankungen – bei Erkältungen, Durchfall und Arthritis. Sara war nicht sicher, dass es wirklich etwas bewirkte, aber Gabe behauptete, es lindere den Schmerz, und es sei überhaupt das Einzige, was er bei sich behalten könne.

»Wie geht’s ihm?«

Sandy goss Wasser durch das Sieb in einen Keramikbecher mit abgesprungenem Rand. Auf dem Becher standen die Worte NEW DADDY, und die Buchstaben waren aus Sicherheitsnadeln geformt.

»Vorhin hat er geschlafen. Die Gelbsucht ist schlimmer geworden. Sein Junge ist eben gegangen, und jetzt ist Mar bei ihm.«

»Ich bringe ihm den Tee.«

Sara nahm den Becher und trat durch den Vorhang. Dahinter standen sechs Betten, aber nur eins war belegt. Mar saß auf einem Stuhl neben dem Bett, in dem ihr Mann unter einer Wolldecke lag. Sie war beinahe vogelartig dünn, und sie hatte die Last der Pflege in den Monaten, seit Gabe krank war, zum größten Teil getragen. Man sah es an den Halbmonden der Schlaflosigkeit unter ihren Augen. Sie hatten ein Kind, Jacob. Er war ungefähr sechzehn und arbeitete wie seine Mutter in der Molkerei: ein großer, schwerfälliger Junge mit leerem, stets freundlichem Gesicht, der weder lesen noch schreiben konnte und es auch nie lernen würde. Er konnte einfache Arbeiten übernehmen, solange jemand da war, der ihn anleitete. Ein hartes und unglückliches Leben – und jetzt das. Mar war über vierzig und hatte Jacob zu versorgen. Es war unwahrscheinlich, dass sie je wieder heiraten würde.

Sie hob den Kopf, als Sara näher kam, und hielt einen Finger an die Lippen. Sara nickte und schob einen Stuhl heran. Sandy hatte recht; die Gelbsucht war schlimmer geworden. Vor seiner Erkrankung war Gabe ein kräftiger Mann gewesen – so groß wie seine Frau zierlich –, mit breiten Schultern und klobigen Unterarmen, die zum Arbeiten geschaffen waren. Ein stattlicher Bauch hatte wie ein Sack Mehl über seinen Gürtel gehangen: ein Mann, den Sara nie im Krankenrevier gesehen hatte, bis er eines Tages hereingekommen war und über Rückenschmerzen und Verdauungsbeschwerden geklagt hatte. Er hatte sich dafür entschuldigt, als sei es ein Zeichen von Schwäche und ein charakterliches Versagen, nicht etwa der Beginn einer schweren Krankheit. Als Sara seine Leber betastet hatte, hatten ihre Fingerspitzen sofort gefühlt, dass da etwas wuchs, und sie hatte begriffen, dass er Höllenqualen leiden musste.

Jetzt, ein halbes Jahr später, war der Mann, der Gabe Curtis gewesen war, nicht mehr da. Geblieben war eine Hülse, die sich nur noch mit reiner Willenskraft ans Leben klammerte. Sein Gesicht, früher so rundlich und rotwangig wie ein reifer Apfel, war zu einem faltigen, kantigen Gebilde geschrumpft und sah aus wie eine hastig hingeworfene Zeichnung. Mar schnitt ihm Bart und Fingernägel, und seine rissigen Lippen glänzten von der Salbe aus dem breitrandigen Tiegel auf dem Rollwagen neben dem Bett – eine kleine Linderung, nutzlos wie der Tee.

Sie blieb eine Weile bei Mar sitzen, aber sie schwiegen beide. Sara wusste, dass ein Leben zu lange dauern oder zu schnell enden konnte. Vielleicht war es die Angst davor, Mar allein zu lassen, was ihn am Leben hielt.

Schließlich stand sie auf und stellte den Becher auf den Wagen. »Wenn er aufwacht, sieh zu, dass er es trinkt«, sagte sie.

Tränen der Erschöpfung blinkten in Mars Augenwinkeln. »Ich habe ihm gesagt, es ist gut, er kann gehen.«

Sara brauchte einen Augenblick, um eine Antwort zusammenzubringen. »Darüber bin ich froh. Manchmal ist es nötig, dass jemand das hört.«

»Es ist wegen Jacob, weißt du. Er will Jacob nicht verlassen. Ich habe ihm gesagt, wir kommen zurecht. Du kannst gehen. Das habe ich zu ihm gesagt.«

»Ich weiß, dass ihr es schafft, Mar.« Ihre Worte klangen kümmerlich. »Und er weiß es auch.«

»Er ist so verdammt stur. Hörst du, Gabe? Warum musst du dauernd so verdammt stur sein?« Sie schlug die Hände vors Gesicht und fing an zu weinen.

Sara wartete respektvoll eine Zeitlang, aber sie wusste, dass sie nichts tun konnte, um den Schmerz der Frau zu lindern. Die Trauer, das wusste sie, war ein Ort, den jeder allein aufsuchen musste. Sie war wie ein Zimmer ohne Türen, und was in diesem Zimmer geschah, all der Zorn und der Schmerz, den man empfand, musste dort bleiben und ging niemand anderen etwas an.

»Entschuldige, Sara«, sagte Mar schließlich kopfschüttelnd. »Das hättest du nicht hören sollen.«

»Es ist schon gut. Ich habe nichts dagegen.«

»Wenn er aufwacht, sage ich ihm, dass du hier warst.« Unter Tränen brachte sie ein trauriges Lächeln zustande. »Ich weiß, Gabe hat dich immer gerngehabt. Du warst seine Lieblingskrankenschwester.«

Es war Halbnacht, als Sara beim Lichthaus ankam. Leise öffnete sie die Tür und trat ein. Elton saß allein vor dem Steuerpult und schlief tief und fest. Er hatte den Kopfhörer auf.

Er zuckte zusammen, als die Tür hinter ihr zufiel. »Michael?«

»Ich bin’s, Sara.«

Er nahm den Kopfhörer ab, drehte sich um und schnupperte. »Was rieche ich da?«

»Hasenragout. Wahrscheinlich aber inzwischen eiskalt.«

»Na, da bin ich platt.« Er richtete sich auf. »Bring’s her.«

Sie stellte den Topf vor ihm auf das Pult. Er griff nach einem schmutzigen Löffel, der vor der Kontrolltafel lag. »Du kannst die Lampe anmachen, wenn du willst.«

»Ich hab’s gern dunkel. Wenn es dir nichts ausmacht.«

»Für mich ist alles eins.«

Eine Zeitlang sah sie zu, wie er im Schein der Kontrolltafel aß. Die Bewegungen seiner Hände hatten fast etwas Hypnotisierendes. Mit geschmeidiger Präzision führten sie den Löffel in den Topf und dann zu seinem wartenden Mund, und keine Geste war verschwendet.

»Du beobachtest mich«, sagte er.

Sie spürte, dass sie rot wurde. »Entschuldige.«

Er kratzte den letzten Rest aus dem Topf und wischte sich dann mit einem Lappen den Mund ab. »Kein Grund, dich zu entschuldigen. Du bist so ungefähr das Beste, was je hier hereinkommt. Ein hübsches Mädchen wie du kann mich angucken, so lange es will.«

Sie lachte – ob aus Verlegenheit oder Ungläubigkeit, wusste sie nicht. »Du hast mich noch nie gesehen, Elton. Woher willst du wissen, wie ich aussehe?«

Elton zuckte die Achseln, und seine nutzlosen Augen rollten hinter den hängenden Lidern nach oben, als sei da in der Dunkelheit seines Kopfes ihr Bild zu sehen. »Deine Stimme. Wie du mit mir sprichst, und wie du mit Michael sprichst. Und wie du für ihn sorgst. Hübsch ist, wer nett ist, sage ich immer.«

Sie hörte sich seufzen. »Ich fühle mich aber nicht immer so.«

»Vertrau auf den alten Elton.« Er lachte leise. »Irgendjemand wird dich lieben.«

Etwas an Elton bewirkte, dass sie sich in seiner Gegenwart immer gut fühlte. Er flirtete schamlos, das war das Erste. Aber es war nicht der eigentliche Grund. Er schien glücklicher zu sein als irgendjemand sonst, den sie kannte. Es stimmte, was Michael über ihn sagte. Seine Blindheit bedeutete nicht, dass ihm etwas fehlte. Er war einfach anders.

»Ich komme eben aus dem Krankenrevier.«

»Ja, so bist du.« Er nickte. »Dauernd kümmerst du dich um die Leute. Wie geht’s Gabe?«

»Nicht gut. Er sieht wirklich schrecklich aus, Elton. Und Mar ist sehr mitgenommen. Ich wünschte, ich könnte irgendetwas für ihn tun.«

»Manchmal kannst du es, und manchmal nicht. Jetzt ist Gabe an der Reihe. Du hast getan, was du konntest.«

»Aber es ist nicht genug.«

»Das ist es nie.« Elton taste mit den Händen über das Pult nach dem Kopfhörer und reichte ihn ihr. »Aber nachdem du mir ein Geschenk gebracht hast, habe ich für dich auch eins. Eine Kleinigkeit, um dich aufzumuntern.«

»Elton, ich hätte doch keine Ahnung, was ich da höre. Für mich ist das alles nur Rauschen.«

Er lächelte verschmitzt. »Tu, was ich sage. Und mach die Augen zu.«

Die Hörmuscheln lagen warm an ihren Ohren. Sie spürte, wie Eltons Hände über das Steuerpult glitten. Dann hörte sie es: Musik. Eine ganz neue Art von Musik. Zuerst erreichte sie ein ferner, hohler Klang wie ein Windhauch, und dann erhoben sich dahinter hohe Töne, die in ihrem Kopf tanzten wie Vogelgesang. Die Klänge schwollen an; sie schienen aus allen Richtungen zu kommen, und sie wusste, was es war: ein Sturm. Sie sah es vor ihrem geistigen Auge, einen machtvollen Sturm aus Musik, der über sie hereinbrach. Noch nie im Leben hatte sie etwas so Schönes gehört. Als die letzten Noten verhallt waren, zog sie den Kopfhörer herunter.

»Das verstehe ich nicht. Hast du das irgendwo aufgefangen?«

Elton kicherte. »Das wäre eine tolle Sache, was?«

Wieder hantierte er am Steuerpult herum. Eine kleine Schublade fuhr heraus, und darin lag eine Silberscheibe: eine CD. Sie hatte sich nie für die Dinger interessiert. Michael hatte ihr gesagt, darauf sei nur Lärm. Sie fasste die Scheibe bei den Rändern und las: Strawinsky, Le Sacre du Printemps, Chicago Symphony Orchestra unter Leitung von Erich Leinsdorf.

»Ich dachte, du sollst einfach mal hören, wie du aussiehst«, sagte Elton.

Passage Trilogie Bd. 1 - Der Übergang
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