27
Am Vormittag kannte jeder in der Kolonie die Geschichte der vergangenen Nacht in dieser oder jener Fassung. Ein Walker war vor der Mauer erschienen, und Caleb hatte das Tor geöffnet und einen Viral hereingelassen. Der Walker, ein kleines Mädchen, lag im Krankenrevier im Sterben; ein Wächter hatte sie mit der Armbrust schwer verwundet. Der Colonel war tot. Wie es aussah, hatte er Selbstmord begangen, doch kein Mensch wusste, wie er über die Mauer gekommen war. Und Arlo war auch tot. Sein Bruder hatte ihn in der Zuflucht erschossen.
Aber das Schlimmste war das mit der Lehrerin.
Sie fanden sie im Schlafsaal unter dem Fenster. Wahrscheinlich hatte sie gehört, wie der Viral über das Dach kam, und versucht, ihm den Weg zu versperren. Das Messer war noch in ihrer Hand.
Natürlich hatte es über die Jahre eine ganze Reihe von Lehrerinnen gegeben. Aber im eigentlichen Sinn gab es immer nur eine, und die, die in dieser Nacht gestorben war, war eine Darrell – April Darrell. Sie war die Frau, an die Peter sich erinnerte und die über seine Fragen nach dem Meer gelacht hatte. Aber damals war sie jünger gewesen, nicht viel älter als er jetzt, und auf eine sanfte, blasse Art hübsch wie eine ältere Schwester, die wegen irgendeines körperlichen Leidens im Haus bleiben musste. Sie war die Frau, an die Sara sich erinnerte, wenn sie an den Morgen ihrer Entlassung dachte, an die vielen Fragen, die Sara ihr gestellt hatte. Es war, als führte die Lehrerin sie über eine Treppe in einen dunklen Keller, in dem die schreckliche Wahrheit verborgen lag, um sie dann in die Arme ihrer Mutter zu geben, wo Sara weinen konnte über die Welt und das, was einen da draußen erwartete. Es war ein schwerer Beruf, das wussten alle, ein undankbares Leben, eingeschlossen mit den Kleinen und so gut wie ohne erwachsene Gesellschaft mit Ausnahme schwangerer oder stillender Frauen, die nichts außer ihren Babys im Kopf hatten. Und es stimmte auch, dass der kollektive Groll sich gegen die Lehrerin richtete, weil sie es war, von der man die schmerzliche Wahrheit erfuhr – von der es bislang jeder erfahren hatte. Mit Ausnahme der Ersten Nacht, wenn sie manchmal für kurze Zeit auf dem Sonnenfleck erschien, setzte die Lehrerin das ganze Jahr über fast nie einen Fuß vor die Tür der Zuflucht, und wenn sie es tat, war es, als bewege sie sich in einer unsichtbaren Aura des Verrats. Peter hatte Mitleid mit ihr, aber es war zugleich nicht zu leugnen, dass er es kaum über sich brachte, ihr in die Augen zu sehen.
Der Haushalt war gleich im Morgengrauen zusammengetreten und hatte den Notstand ausgerufen. Läufer gingen von Haus zu Haus und gaben es bekannt. Bis man Genaueres wusste, wurden sämtliche Tätigkeiten außerhalb der Mauer eingestellt, und die Herde sowie sämtliche Arbeitskolonnen blieben in der Kolonie. Das Tor würde nicht geöffnet werden. Caleb war im Gefängnis. Man hatte sich darauf geeinigt, vorläufig kein Urteil zu fällen, da so viele Seelen verloren waren und in der Kolonie Angst und Verwirrung herrschten.
Und dann war da die Sache mit dem Mädchen.
In den frühen Morgenstunden hatte Sanjay die Mitglieder des Haushalts ins Krankenrevier geführt, um sie ihnen zu zeigen. Die Verletzung an ihrer Schulter war offensichtlich schwerwiegend, und sie war noch nicht wieder zu sich gekommen. Es gab keinerlei Anzeichen für eine Virusinfektion, aber ihr Auftauchen war absolut unerklärlich. Warum hatten die Virals sie nicht angegriffen? Wie hatte sie überlebt, ganz allein in der Dunkelheit? Sanjay befahl, dass jeder, der Kontakt mit ihr gehabt hatte, entkleidet und gewaschen wurde, und seine Kleidung wurde verbrannt. Auch der Rucksack des Mädchens und ihre Kleidung wanderten ins Feuer, und das Mädchen wurde unter strenge Quarantäne gestellt. Niemand außer Sara durfte das Krankenrevier betreten, bis man mehr wusste.
Das Hearing wurde in einem alten Klassenzimmer in der Zuflucht abgehalten – in dem Zimmer, erkannte Peter, in das die Lehrerin ihn am Tag seiner Entlassung geführt hatte. Hearing: Das war der Ausdruck, den Sanjay benutzt hatte, ein Wort, das Peter noch nie gehört hatte. Es klang wie eine elegante Bezeichnung für die Suche nach einem Sündenbock. Sanjay hatte ihnen – Peter, Alicia, Hollis und Soo – verboten, vor ihrer Einzelvernehmung miteinander zu sprechen. Sie warteten draußen auf dem Flur, in die winzigen Pulte geklemmt, die in einer Reihe an der Wand standen, und mit ihnen zusammen wartete ein einzelner Wächter, Sanjays Neffe Ian. Um sie herum war es ungewöhnlich still. Die Kleinen waren alle nach oben gebracht worden, damit der Große Saal geschrubbt werden konnte. Niemand wusste, wie die Kinder die Ereignisse der Nacht verarbeiten würden und was Sandy Chou, die vorläufig die Betreuung übernahm, ihnen erzählen würde. Wahrscheinlich, dass sie das alles nur geträumt hätten. Bei den Jüngsten würde dieser Trick sicher funktionieren. Aber ob ihr das die Älteren abnahmen – wer weiß? Vielleicht würde man die älteren Kinder auch vorzeitig aus der Zuflucht entlassen müssen.
Soo war als Erste hereingerufen worden. Kurze Zeit später kam sie wieder heraus und eilte mit gehetztem Blick den Flur hinunter. Hollis war der Nächste. Als er seine langen Beine unter dem Pult herausfaltete, sah er aus, als sei alle Energie aus ihm entwichen. Ian hielt ihm die Tür auf und behielt die andern warnend im Auge. Auf der Türschwelle blieb Hollis stehen, drehte sich zu ihnen um und brach das Schweigen, das jetzt eine Stunde gedauert hatte.
»Ich will nur wissen, dass es nicht umsonst war.«
Sie warteten. Peter hörte murmelnde Stimmen hinter der Tür des Klassenzimmers. Gern hätte er Ian gefragt, ob er etwas wisse, aber dessen Gesichtsausdruck gab ihm zu verstehen, dass er es gar nicht erst zu versuchen brauchte. Ian war so alt wie Theo, und er und seine Frau Hannah hatten eine kleine Tochter namens Kira in der Zuflucht. Das erklärte seinen Gesichtsausdruck, dachte Peter: Es war der Blick eines Vaters.
Als Hollis herauskam, sah er Peter kurz an und nickte knapp, bevor er den Flur hinunterging. Peter wollte aufstehen, aber Ian sagte: »Nicht du, Jaxon. Lish ist die Nächste.«
Jaxon? Seit wann nannte irgendjemand ihn Jaxon? Erst recht jemand von der Wache? Und wieso klang es aus Ians Mund plötzlich anders?
»Schon gut.« Lish stand müde auf. Noch nie hatte er sie so mutlos gesehen. »Ich will es nur hinter mich bringen.«
Sie verschwand, und Peter und Ian waren allein. Ian starrte befangen an die Wand über Peters Kopf.
»Es war wirklich nicht ihre Schuld, Ian. Niemand ist schuld.«
Ian nahm eine steife Haltung ein und antwortete nicht.
»Wenn du da gewesen wärst, hättest du wahrscheinlich das Gleiche getan.«
»Hör zu, spar dir das für Sanjay. Ich darf nicht mit dir reden.«
Als Lish endlich herauskam, war Peter tatsächlich eingedöst. Wortlos warf sie ihm einen Blick zu, den er kannte: Ich komm gleich noch zu dir.
Er spürte es, als er den Raum betrat. Was immer passieren würde, war bereits entschieden. Sein Auftritt hier und das, was er zu sagen hatte, würde daran kaum etwas ändern. Soo war aufgefordert worden, wegen Befangenheit nicht an dem Hearing teilzunehmen, und deshalb waren nur fünf Mitglieder des Haushalts anwesend: Sanjay, der in der Mitte des langen Tisches saß, und rechts und links neben ihm Old Chou, Jimmy Molyneau, Walter Fisher und Peters Cousine Dana, die den Platz der Jaxons innehatte. Peter bemerkte die ungerade Zahl: Durch Soos Abwesenheit war dafür gesorgt, dass keine Pattsituation entstehen konnte. Vor dem Tisch stand eine leere Schulbank. Die Anspannung im Raum war mit Händen zu greifen. Niemand sprach ein Wort. Anscheinend war nur Old Chou bereit, Peter in die Augen zu sehen. Alle andern schauten weg, sogar Dana. Walter Fisher saß zusammengesunken auf seinem Stuhl; er sah aus, als wisse er kaum, wo er war, und als kümmere es ihn auch nicht. Selbst für Walters Verhältnisse war seine Kleidung außergewöhnlich schmutzig und zerknautscht. Peter roch den Schnapsdunst, den er verströmte.
»Nimm Platz, Peter«, sagte Sanjay.
»Ich möchte lieber stehen bleiben, wenn’s recht ist.«
Er empfand heimliche Freude über seinen Trotz und den Punkt, den er damit erzielt hatte. Aber Sanjay ließ sich davon nicht beirren. »Dann wollen wir also fortfahren.« Er räusperte sich. »Zwar ist in diesem Punkt noch einiges unklar, aber nach der allgemeinen Auffassung des Haushalts, die im Großen und Ganzen auf der Aussage Calebs beruht, stehst du nicht in der Verantwortung. Er ganz allein hat das Tor geöffnet. Ist das auch deine Version?«
»Meine Version?«
»Ja, Peter.« Sanjay seufzte unverhohlen ungeduldig. »Deine Version der Ereignisse. So, wie du glaubst, dass es passiert ist.«
»Ich glaube überhaupt nichts. Was hat Hightop euch erzählt?«
Old Chou hob die Hand und beugte sich vor. »Sanjay, wenn ich darf …?«
Sanjay runzelte die Stirn, aber er sagte nichts.
Old Chou beugte sich gebieterisch über den Tisch. Er hatte ein sanftes, faltiges Gesicht und feucht schimmernde Augen, die ihn zutiefst ernsthaft aussehen ließen. Er war viele Jahre lang Oberhaupt des Haushalts gewesen, bevor er diese Position an Theos Vater abgetreten hatte, und dieser Umstand verlieh ihm immer noch beträchtliche Autorität, wenn er es darauf anlegte. Meistens war das aber nicht der Fall. Nach dem Tod seiner Frau in der Dunklen Nacht hatte er eine zweite, sehr viel jüngere Frau geheiratet, und jetzt verbrachte er den größten Teil seiner Zeit im Bienenhaus bei seinen geliebten Bienen.
»Peter, niemand bezweifelt, dass Caleb das Richtige zu tun glaubte. Seine Absichten stehen hier nicht zur Debatte. Hast du das Tor geöffnet oder nicht?«
»Was habt ihr mit ihm vor?«
»Das ist noch nicht entschieden. Bitte beantworte meine Frage.«
Peter versuchte, Dana in die Augen zu sehen, aber es gelang nicht. Sie starrte vor sich auf den Tisch.
»Ich hätte es getan, wenn ich zuerst da gewesen wäre.«
Sanjay richtete sich entrüstet auf seinem Stuhl auf. »Seht ihr? Genau das habe ich gesagt.«
Doch Old Chou beachtete Sanjays Einwurf nicht. Er ließ Peter nicht aus den Augen. »Ich verstehe dich richtig, wenn ich sage, deine Antwort lautet Nein? Du hättest es getan, aber tatsächlich hast du es nicht getan?« Er faltete die Hände auf dem Tisch. »Nimm dir einen Augenblick Zeit, wenn du darüber nachdenken musst.«
Peter hatte den Eindruck, dass Old Chou versuchte, ihn zu beschützen. Aber wenn er sagte, was geschehen war, würde er Caleb die ganze Schuld in die Schuhe schieben, obwohl der Junge nur das getan hatte, was Peter selbst getan hätte, wenn er vor ihm im Windenhaus gewesen wäre.
»Niemand zweifelt an deiner Loyalität gegenüber deinen Freunden«, fuhr Old Chou fort. »Und ich erwarte nichts anderes von dir. Aber unsere oberste Loyalität muss der Sicherheit aller gelten. Ich frage dich also noch einmal. Hast du Caleb geholfen, das Tor zu öffnen? Oder hast du im Gegenteil versucht, es zu schließen, als du gesehen hast, was geschah?«
Peter hatte plötzlich das Gefühl, vor einem tiefen Abgrund zu stehen. Was immer er jetzt sagte, es wäre endgültig. Doch die Wahrheit war alles, was er hatte.
Er schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Was heißt nein?«
»Nein, ich habe das Tor nicht geöffnet.«
Old Chou entspannte sich sichtlich. »Danke, Peter.« Sein Blick wanderte über die Gruppe. »Wenn niemand mehr etwas …«
»Moment«, sagte Sanjay.
Peter spürte die plötzliche Anspannung. Sogar Walter schien aufzuwachen. Jetzt kommt’s, dachte Peter.
»Jeder hier weiß, dass du mit Alicia befreundet bist«, sagte Sanjay. »Sie vertraut dir. Stimmt das?«
Peter nickte.
»Hat sie dir in irgendeiner Weise zu verstehen gegeben, dass sie dieses Mädchen kennt? Sie vielleicht schon einmal gesehen hat?«
Es war wie ein Schlag in die Magengrube. »Wie kommst du darauf?«
Sanjay warf den andern einen Blick zu, dann nahm er wieder Peter ins Visier. »Es könnte Zufall sein oder auch nicht, weißt du. Ihr drei seid als Letzte vom Kraftwerk zurückgekommen. Und was ihr da erzählt habt, erst über Zander und dann über Theo … na ja, du musst zugeben, es hört sich ziemlich seltsam an.«
Jetzt konnte Peter seinen Zorn nicht länger zügeln. »Glaubst du, wir haben das alles geplant? Ich habe meinen Bruder da unten verloren. Wir konnten von Glück sagen, dass wir lebend zurückgekommen sind.«
Es war wieder sehr still geworden. Sogar Dana musterte ihn jetzt mit offenem Misstrauen.
»Also, und nur für das Protokoll«, sagte Sanjay, »du behauptest, du kennst diesen Walker nicht. Du hast dieses Mädchen nie gesehen.«
Es ging überhaupt nicht um Alicia, begriff er plötzlich. Es ging um ihn.
»Ich habe keine Ahnung, wer sie ist«, sagte er.
Sanjay schaute ihm auffällig lange ins Gesicht. Dann nickte er. »Danke, Peter. Wir wissen deine Offenheit zu schätzen. Du kannst gehen.«
Einfach so. Es war vorbei. »Das war’s?«
Sanjay hatte sich bereits in die Papiere vor ihm vertieft. Er blickte auf und runzelte die Stirn, als sei er überrascht, Peter immer noch im Zimmer zu sehen. »Ja. Vorläufig.«
»Ihr werdet nichts weiter … mit mir machen?«
Sanjay zuckte die Achseln. Er war mit seinen Gedanken schon woanders. »Was sollen wir mit dir machen?«
Peter empfand eine unerwartete Enttäuschung. Beim Warten draußen hatte er sich mit Alicia und Hollis verbunden gefühlt, sie hatten ein gemeinsames Interesse am Ergebnis dieses Hearings gehabt. Jetzt war jeder für sich.
»Wenn es sich so abgespielt hat, wie du sagst, trifft dich keine Schuld. Die Schuld hat Caleb. Soo hat gesagt – und Jimmy stimmt ihr zu –, dass die Sache mit deinem Bruder eine Belastung für dich ist, die man auf alle Fälle mit berücksichtigen sollte. Nimm dir noch ein paar Tage frei. Danach werden wir sehen.«
»Und was ist mit den andern?«
Sanjay zögerte. »Vermutlich gibt es keinen Grund, es dir nicht zu sagen. Bald wissen es sowieso alle. Soo Ramirez hat ihren Rücktritt als First Captain angeboten, und der Haushalt hat dieses Angebot mit einigem Widerstreben angenommen. Sie war nicht auf ihrem Posten, als der Angriff kam, und trägt deshalb einen Teil der Schuld. Jimmy ist neuer First Captain. Und Hollis ist vorläufig vom Dienst auf der Mauer suspendiert.«
»Und Lish?«
»Alicia ist aufgefordert worden, den Dienst bei der Wache zu quittieren. Sie ist der Schwerarbeit zugeteilt worden.«
»Du machst Witze.« Von allem, was passiert war, konnte Peter diese Entscheidung am wenigsten nachvollziehen. Alicia als Schrauberin? Das war einfach unvorstellbar.
Sanjay zog tadelnd seine buschigen Brauen hoch. »Nein, Peter. Ich versichere dir, ich mache keine Witze.«
Peter wechselte einen kurzen Blick mit Dana: Hast du davon gewusst? Ja, sagten ihre Augen.
»Wenn das alles ist …«, sagte Sanjay.
Peter ging zur Tür, doch dann kamen ihm plötzlich Zweifel, und er drehte sich noch einmal um.
»Was ist mit dem Kraftwerk?«
Sanjay seufzte müde. »Was soll damit sein, Peter?«
»Wenn Arlo tot ist, sollten wir dann nicht jemanden hinunterschicken?«
Als er ihre verdatterten Gesichter sah, hatte er im ersten Moment den Eindruck, er habe etwas Falsches gesagt und sich im letzten Augenblick doch noch selbst belastet. Aber dann ging ihm ein Licht auf: Sie hatten nicht daran gedacht.
»Ihr habt nicht gleich bei Tagesanbruch jemanden hingeschickt?«
Sanjay drehte sich zu Jimmy um, und der zuckte sichtlich ertappt die Achseln. »Jetzt ist es zu spät«, sagte er leise. »Bis zum Einbruch der Dunkelheit ist das nicht mehr zu schaffen. Wir müssen bis morgen warten.«
»Himmel noch mal, Jimmy!«
»Hör zu, ich hab’s versäumt, okay? Es war eine Menge los. Und Finn und Rey muss ja nichts zugestoßen sein.«
Sanjay nahm sich einen Moment Zeit, um durchzuatmen und sich wieder zu fassen. Peter sah ihm an, dass er außer sich vor Wut war.
»Danke, Peter. Wir werden darüber beraten.«
Es gab nichts weiter zu sagen. Peter trat hinaus auf den Flur. Ian stand noch da, wo er ihn verlassen hatte; mit verschränkten Armen lehnte er an der Wand.
»Das mit Lish hast du vermutlich gehört, hm?«, fragte Ian.
»Ja.«
Ian zuckte die Achseln. Seine Haltung hatte sich gelockert. »Hör zu, ich weiß, du bist mit ihr befreundet. Aber irgendwie geschieht es ihr ganz recht. Einfach so über die Mauer zu gehen.«
»Und das Mädchen?«
Ian stutzte. Wut sprach aus seinem Blick, und er runzelte die Stirn. »Was soll schon mit ihr sein? Ich habe ein Kind, Peter. Was interessiert mich irgendein Walker?«
Peter antwortete nicht. Ian hatte allen Grund, wütend zu sein.
»Du hast recht«, sagte er schließlich. »Es war dumm.«
Ians Miene wurde milder. »Hey«, sagte er, »die Leute sind aufgebracht, das ist alles. Tut mir leid, dass ich wütend geworden bin. Niemand sagt, es ist deine Schuld.«
Aber das ist es, dachte Peter. Das ist es.
Kurz nach Tagesanbruch hatte Michael die Antwort gefunden. 1432 Megahertz: natürlich.
Die Frequenz war offiziell »nicht zugewiesen«, weil sie es in Wirklichkeit doch gewesen war – nämlich dem Militär. Ein digitales Kurzstreckensignal mit einem Zyklus von neunzig Minuten auf der Suche nach seinem Mainframe.
Und die ganze Nacht hindurch war das Signal immer stärker geworden. Jetzt war es praktisch vor der Haustür.
Die Verschlüsselung wäre kein Problem. Knifflig wäre es, den Handshake zu finden – mit anderen Worten, genau die Antwort zu senden, die den Transmitter des Signals, wo und was immer er sein mochte, dazu veranlassen würde, sich mit dem Mainframe zu verbinden. Wenn ihm das gelänge, bräuchte er nur noch die Daten heraufzuladen.
Wonach also suchte das Signal? Wie lautete die digitale Antwort auf die Frage, die es alle neunzig Minuten stellte?
Er dachte über etwas nach, das Elton gesagt hatte, kurz bevor er zu Bett ging. Jemand ruft uns.
Und dann ging ihm ein Licht auf.
Er wusste, was er brauchte. Das Lichthaus war voll von allem möglichen Schrott, der in Tonnen oder auf den Regalen lagerte, und er wusste von mindestens einem BlackBerry aus Beständen der Army. Die Dinger enthielten ein paar alte Lithium-Akkus, die immer noch zu gebrauchen waren – nicht mehr als ein paar Minuten, aber mehr brauchte er nicht. Er arbeitete schnell, und er behielt die Uhr im Auge und wartete darauf, dass das Neunzig-Minuten-Intervall verging, damit er das Signal auffangen könnte. Undeutlich nahm er wahr, dass draußen irgendein Tumult im Gange war, doch es scherte ihn nicht weiter. Er könnte den BlackBerry in den Computer einstöpseln, das Signal abgreifen, die eingebettete ID erfassen und die Daten direkt bearbeiten.
Elton schnarchte auf seiner durchgelegenen Pritsche im hinteren Teil der Baracke, träumte seine schmutzigen Träume und ließ Michael in Ruhe arbeiten. Verflucht noch mal, wenn der Alte nicht bald mal badete, wusste Michael nicht mehr, was er machen sollte. Die ganze Bude stank nach alten Socken.
Es war beinahe Halbtag, als er schließlich fertig war. Wie lange hatte er gearbeitet, fast ohne von seinem Stuhl aufzustehen? Nach der Sache mit Mausami war er zu aufgeregt gewesen, um zu schlafen, und lieber ins Lichthaus zurückgegangen. Das war vielleicht zehn Stunden her. Sein Arsch fühlte sich an, als habe er mindestens so lange hier gesessen. Und er musste dringend pinkeln. Er verließ den Schuppen zu schnell, und das grelle Tageslicht traf seine Augen unvorbereitet.
»Michael!«
Jacob Curtis, Gabes Junge. Michael sah, wie er schwerfällig den Weg heraufgelaufen kam und mit den Armen fuchtelte, und er holte tief Luft, um sich zu wappnen. Der Junge konnte nichts dazu, aber mit Jacob zu reden konnte eine Strapaze sein. Bevor Gabe krank geworden war, hatte er ihn manchmal ins Lichthaus gebracht und Michael gefragt, ob der Junge sich irgendwie nützlich machen könne. Michael hatte sein Bestes getan, aber eigentlich kapierte Jacob nicht viel. Man konnte ganze Tage damit verplempern, ihm die einfachsten Aufgaben zu erklären.
Er kam vor Michael zum Stehen, stützte die Hände auf die Knie und keuchte atemlos. Trotz seiner Körpergröße waren seine Bewegungen unkoordiniert wie die eines Kindes, und die einzelnen Teile waren nie ganz im Gleichtakt. »Michael«, japste er. »Michael …«
»Ruhig, Jacob. Immer langsam.«
Der Junge wedelte mit der Hand vor seinem Gesicht, als könne er so mehr Sauerstoff in seine Lunge pumpen. Michael wusste nicht, ob er verstört oder nur aufgeregt war. »Ich suche … Sara«, brachte der Junge hervor.
Nicht da, sagte Michael. »Hast du es zu Hause versucht?«
»Da ist sie auch nicht!« Jacob hob den Kopf. Seine Augen waren weit aufgerissen. »Ich habe sie gesehen, Michael.«
»Ich dachte, du kannst sie nicht finden.«
»Nicht sie. Die andere. Ich habe geschlafen und sie gesehen!«
Was der Junge sagte, ergab nicht immer viel Sinn, aber so hatte Michael ihn noch nie gesehen. In seinem Blick lag die nackte Panik.
»Ist etwas mit deinem Dad, Jacob? Geht’s ihm gut?«
Jacob zog die feuchte Stirn kraus. »Oh. Der ist gestorben.«
»Gabe ist tot?«
Es hatte verstörend sachlich geklungen; ebenso gut hätte er Michael mitteilen können, wie das Wetter war. »Er ist gestorben und wird nicht mehr aufwachen.«
»Oh mein Gott, Jacob. Das tut mir leid.«
Erleichtert sah Michael, dass Mar auf sie zukam.
»Jacob, wo bist du gewesen?« Die Frau blieb vor ihnen stehen. »Wie oft muss ich es dir sagen? Du darfst nicht einfach weglaufen. Das darfst du nicht!«
Der Junge wich zurück und ruderte mit den langen Armen. »Ich muss Sara finden!«
»Jacob!«
Ihre Stimme traf ihn wie ein Pfeil. Er blieb starr stehen, aber sein Gesicht war immer noch beseelt von einer seltsamen, unergründlichen Angst. Sein Mund stand offen, und er atmete stoßweise. Mar ging vorsichtig auf ihn zu, als wäre er ein großes, unberechenbares Tier.
»Jacob, sieh mich an.«
»Mama …«
»Still jetzt. Nicht mehr reden. Sieh mich an.« Sie hob die Hände, legte sie an seine Wangen und schaute ihm fest in die Augen.
»Ich habe sie gesehen, Mama.«
»Ich weiß. Aber es war nur ein Traum, Jacob, weiter nichts. Weißt du nicht mehr? Wir sind nach Hause gegangen, ich habe dich ins Bett gebracht, und du hast geschlafen.«
»Ja?«
»Ja, mein Schatz, du hast geschlafen. Es war nichts. Nur ein Traum.« Jacob atmete jetzt langsamer, und unter der Berührung seiner Mutter schien er sich zu beruhigen. »So ist es brav, mein Junge. Jetzt gehst du nach Hause und wartest da auf mich. Nicht mehr nach Sara suchen. Tust du das?«
»Aber Mama …«
»Kein Aber, Jacob. Tust du, was ich sage?«
Zögernd nickte er.
»Braver Junge.« Mar ließ ihn los und trat zurück. »Und jetzt ab nach Hause.«
Der Junge warf Michael einen kurzen, verstohlenen Blick zu und trabte davon.
Mar sah Michael an. »Das funktioniert immer, wenn er so ist. Alles andere nicht«, sagte sie und zuckte ermattet die Achseln.
»Ich habe von Gabe gehört«, sagte Michael. »Es tut mir leid.«
Mar sah aus, als habe sie so viel geweint, dass keine Tränen mehr übrig waren. »Danke, Michael. Ich glaube, Jacob wollte zu Sara, weil sie da war, am Ende. Sie war eine gute Freundin. Für uns alle.« Sie stockte, und ein schmerzlicher Ausdruck huschte über ihr Gesicht, aber dann schüttelte sie den Kopf, als wolle sie einen Gedanken abwehren. »Sag ihr doch bitte, dass wir ihr das nie vergessen. Ich glaube, ich hatte keine Gelegenheit, ihr richtig zu danken.
»Sie ist sicher nicht weit. Hast du im Krankenrevier nachgesehen?«
»Natürlich ist sie dort. Da war Jacob als Erstes.«
»Das verstehe ich nicht. Wenn Sara im Krankenrevier ist, warum hat er sie dann nicht gefunden?«
Mar sah ihn befremdet an. »Wegen der Quarantäne natürlich.«
»Quarantäne?«
Mar war fassungslos. »Michael, wo bist du gewesen?«