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Auszug aus dem Tagebuch der Ida Jaxon (»Das Buch Auntie«)

Vorgelegt auf der Dritten Internationalen Tagung zur Nordamerikanischen Quarantäne-Periode

Zentrum zur Erforschung menschlicher Kulturen und Konflikte

University of New South Wales, Indo-Australische Republik

16.–21. April 1003 n.V.

… und es war das reine Chaos. So viele Jahre sind vergangen, aber solch eine Tragödie vergisst man nie, die vielen Tausend Leute, die sich voller Angst an die Zäune drängen, die Soldaten mit den Hunden, die für Ruhe zu sorgen hatten, die Schüsse in die Luft. Und ich, gerade mal acht Jahre alt, mit meinem Köfferchen, das meine Mama mir am Abend zuvor gepackt hatte, während sie die ganze Zeit heulte, weil sie wusste, was sie tat: Sie schickte mich für immer weg.

Die Jumps hatten New York erobert, Pittsburgh und D. C. Fast das ganze Land, soweit ich mich erinnere. Überall dort hatte ich Verwandte. Und vieles wussten wir einfach nicht. Zum Beispiel, was mit Europa oder Frankreich oder China passiert war, obwohl ich gehört hatte, wie mein Daddy mit ein paar anderen Männern aus unserer Straße darüber sprach, dass das Virus dort anders wäre: Es brächte einfach alle um. Wie durch ein Wunder war Philadelphia damals die letzte Stadt auf der ganzen Welt, in der noch Leute waren. Wir waren eine Insel. Als ich meine Mama nach dem Krieg fragte, sagte sie, die Jumps wären Leute wie du und ich, nur krank. Ich war selber krank gewesen, und deshalb bekam ich eine Heidenangst, als sie mir das erzählte. Ich fing an, bitterlich zu weinen, weil ich dachte, ich könnte eines Tages einfach aufwachen und sie und meinen Daddy und meine Verwandten umbringen, wie die Jumps es taten. Meine Mama nahm mich fest in den Arm und sagte, nein, nein, Ida, das ist was anderes, es ist überhaupt nicht das Gleiche, und jetzt sei still und hör auf zu weinen, und das tat ich dann. Trotzdem konnte ich das alles eine Zeitlang überhaupt nicht begreifen – warum jetzt Krieg war und überall Soldaten kamen, wenn jemand auch nur einen Schnupfen oder Halsweh kriegte.

So nannten wir sie – Jumps. Nicht Vampire, obwohl man das Wort auch manchmal hören konnte. Mein Cousin Terrence sagte, sie wären welche. Er zeigte sie mir in einem Comic, den er hatte, eine Art Bilderbuch, wie ich mich erinnere, aber als ich meinen Daddy danach fragte und ihm die Bilder zeigte, sagte er, nein, Vampire kämen nur in erfundenen Geschichten vor, nett aussehende Männer in Anzügen und Capes und mit guten Manieren, aber das hier ist die Wirklichkeit, Ida. Keine erfundene Geschichte. Inzwischen gibt es natürlich viele Namen für sie: Flyers und Smokes und Drinks und Virals und so weiter, aber wir nannten sie Jumps, weil sie genau das taten, wenn sie einen schnappten: Sie sprangen. Mein Daddy sagte, egal, wie man sie nennt, sie sind einfach niederträchtige Drecksäcke. Du bleibst im Haus, wie die Army es gesagt hat, Ida. Ich war entsetzt, als ich ihn so reden hörte, denn mein Daddy war Diakon der African Methodist Episcopal Church, und ich hatte ihn bisher nie so reden gehört. Nachts war es am schlimmsten, besonders in dem Winter damals. Wir hatten kein Licht wie heute. Es gab nicht viel zu essen außer dem, was die Army uns gab, und heizen konnten wir nur, wenn wir etwas hatten, das wir verbrennen konnten. Die Sonne ging unter, und sofort spürte man sie, diese Angst, die sich wie ein Deckel auf alles legte. Wir wussten nie, ob die Jumps nicht in dieser Nacht kommen würden. Mein Daddy hatte unsere Fenster mit Brettern vernagelt, und er hatte auch ein Gewehr, das er die ganze Nacht neben sich hatte, wenn er bei Kerzenlicht am Küchentisch saß, Radio hörte und vielleicht ein Schlückchen trank. Bei der Marine war er Funkoffizier gewesen und kannte sich aus. Eines Nachts kam ich herein und sah, dass er weinte. Sass einfach da, die Hände vor dem Gesicht, und zitterte und weinte. Die Tränen liefen ihm über die Wangen. Ich weiß nicht, was mich geweckt hatte, aber vielleicht waren es seine Geräusche gewesen. Er war ein starker Mann, mein Daddy, und es tat mir leid, ihn so traurig zu sehen. Ich fragte, was ist denn, Daddy, warum weinst du so? Hat dir etwas Angst gemacht? Und er schüttelte den Kopf und sagte, Gott liebt uns nicht mehr, Ida. Vielleicht haben wir was falsch gemacht. Aber er tut es nicht mehr. Er ist einfach auf und davon. Dann kam meine Mama herein und sagte, sei still, Monroe, du bist ja betrunken. Und dann hat sie mich ins Bett gescheucht. So hieß mein Daddy: Monroe Jaxon der Dritte. Meine Mama hieß Anita. Damals wusste ich es nicht, aber ich glaube, in der Nacht, als er weinte, hatte er das mit dem Zug gehört. Es könnte aber auch was anderes gewesen sein.

Nur der liebe Gott selber weiß, warum er Philadelphia so lange verschont hat. Ich erinnere mich inzwischen kaum noch daran; nur ab und zu an Kleinigkeiten. Zum Beispiel, wie ich abends mit meinem Daddy losgegangen bin, um an der Ecke ein Wassereis zu kaufen. Ich kann mich auch noch an meine Freunde in der Joseph Pennell Elementary School erinnern und an ein kleines Mädchen namens Sharise, die unten an der Ecke wohnte; wir beide konnten stundenlang miteinander schwatzen. Im Zug habe ich nach ihr gesucht, doch ich habe sie nicht gefunden.

An meine Adresse erinnere ich mich noch. 2121 West Laveer. Da war ein College in der Nähe, und es gab Geschäfte und belebte Straßen und alle möglichen Leute, die da jeden Tag hin und her gingen. Und ich weiß noch, wie mein Daddy mich mal mit dem Bus in die Stadt mitnahm, raus aus unserem Viertel, damit ich die Weihnachtsschaufenster sehen konnte. Da kann ich nicht mehr als fünf Jahre alt gewesen sein. Der Bus fuhr am Krankenhaus vorbei, wo mein Daddy arbeitete. Er machte dort Röntgenaufnahmen. Das waren Fotos von den Knochen der Leute. Den Job hatte er, seit er vom Militärdienst zurückgekommen war und meine Mama kennengelernt hatte, und er sagte immer, es wäre der perfekte Job für einen Mann wie ihn, sich die Dinge von innen anzusehen. Eigentlich hatte er Arzt werden wollen, aber Röntgenfotograf war fast genauso gut. Er zeigte mir dann die Schaufenster, die zu Weihnachten bunt dekoriert waren, mit Lichtern und Schnee und einem Baum und Figuren, die sich bewegten – Elfen und Rentiere und alles Mögliche. Ich war so glücklich wie noch nie im ganzen Leben, weil ich so etwas Schönes zu sehen bekam und wir beide da in der Kälte standen, wir beide zusammen. Wir wollen ein Geschenk für Mama kaufen, sagte er und legte mir seine große Hand auf den Kopf, wie er es immer machte. Einen Schal, oder vielleicht ein Paar Handschuhe. Alle Straßen waren voll von Leuten. So viele Leute, alte und junge, und jeder sah anders aus. Noch heute denke ich gern daran und wandere in Gedanken zurück zu diesem Tag. Niemand weiß mehr, was Weihnachten war, aber es war ein bisschen wie heute die Erste Nacht. Ich weiß nicht mehr, ob wir Schal und Handschuhe gekauft haben oder nicht. Wahrscheinlich ja.

Jetzt ist das alles nicht mehr da. Auch die Sterne nicht. Manchmal denke ich, diesen Anblick vermisse ich am meisten aus der Zeit Davor. Vom Fenster meines Zimmers aus konnte ich über die Dächer der Häuser schauen und sie sehen, diese Lichtpunkte am Himmel, die da hingen, als ob Gott selbst seine Weihnachtsbeleuchtung da aufgehängt hätte. Meine Mama sagte mir, wie ein paar davon hießen, und dass man Bilder sehen könnte, wenn man sie eine Weile anschaute, einfache Dinge wie Löffel und Leute und Tiere. Ich dachte immer, wenn man die Sterne ansieht, sieht man Gott. Als schaue man in sein Gesicht. Es musste dunkel sein, damit man ihn deutlich sehen konnte. Vielleicht hat er uns vergessen, vielleicht auch nicht. Vielleicht haben wir ihn vergessen, als wir die Sterne nicht mehr sehen konnten. Ehrlich gesagt sind sie das Einzige, was ich gern noch einmal sehen würde, bevor ich sterbe.

Es gab noch mehr Züge, glaube ich. Wir hatten gehört, dass überall welche abfuhren, dass auch andere Städte sie losgeschickt hatten, bevor die Jumps kamen. Vielleicht war das nur das Gerede von Leuten, die Angst haben und sich an jedes Fitzelchen Hoffnung klammern. Ich weiß nicht, wie viele es wirklich schafften, dahin durchzukommen, wo sie hinwollten. Manche wurden nach Kalifornien geschickt, andere an Orte, deren Namen ich nicht mehr weiß. Nur von einem einzigen Trupp haben wir noch mal etwas gehört, ganz am Anfang, als Funkgeräte noch erlaubt waren. Irgendwo in New Mexico, glaube ich, war das. Aber dann passierte irgendetwas mit ihrem Licht, und danach hörten wir nichts mehr von ihnen. Wenn Peter, Theo und die andern recht haben, sind wir die Einzigen, die noch übrig sind.

Über den Zug und Philadelphia und alles, was in diesem Winter passierte – darüber wollte ich eigentlich schreiben. Es war schlicht furchtbar. Die Army war überall, nicht bloß Soldaten, sondern auch Panzer und andere solche Geräte. Mein Daddy sagte, sie sollten uns vor den Jumps beschützen, aber für mich waren die Soldaten einfach große Männer mit Gewehren, und die meisten waren weiß. Trau keinem Weißen, Ida – das habe ich oft genug von meinem Daddy zu hören bekommen, als wären sie alle nur ein einziger Mann. Heute klingt das komisch, wo alle Leute so miteinander vermischt sind. Wer das hier liest, weiß wahrscheinlich nicht mal mehr, wovon ich rede. Wir kannten einen Kerl aus unserem Viertel, der erschossen wurde, nur weil er versuchte, einen Hund zu fangen. Ich nehme an, er dachte, einen Hund zu essen wäre besser als gar nichts. Aber die Army hat ihn erschossen und in der Olney Avenue an einen Laternenpfahl gehängt, mit einem Schild auf der Brust, auf dem stand: »Plünderer«. Keine Ahnung, was er plündern wollte, außer vielleicht einen Hund, der halb verhungert war und sowieso gestorben wäre.

Und eines Nachts hörten wir dann einen unglaublich lauten Knall, und dann noch einen und noch einen, und Flugzeuge kreischten über unsere Köpfe hinweg und mein Daddy sagte mir, sie hätten die Brücken gesprengt. Den ganzen nächsten Tag über sahen wir noch mehr Flugzeuge, wir rochen Feuer und Rauch, und wir wussten, dass die Jumps in der Nähe waren. Ganze Stadtteile standen in Flammen. Ich ging ins Bett, und einige Zeit später weckte mich ein Streit. Unser Haus hatte nur vier Zimmer und war hellhörig; man konnte in einem Zimmer nicht niesen, ohne dass in einem andern jemand »Gesundheit!« rief. Ich hörte, wie meine Mama weinte und weinte, und mein Vater sagte, das kannst du nicht, wir müssen es tun, du musst stark sein, Anita. Lauter solche Sachen, und dann ging meine Zimmertür auf, und mein Vater stand da. Er hielt eine Kerze in der Hand, und noch nie im Leben hatte ich ihn so verstört gesehen. Als wäre er einem Geist begegnet, und der Geist war er selbst. Schnell zog er mich warm an und sagte: »Sei jetzt brav, Ida. Geh und sag deiner Mutter auf Wiedersehen.« Und als ich das tat, hielt sie mich lange, lange fest im Arm und weinte so sehr, dass es immer noch wehtut, wenn ich daran denke, nach all den Jahren. Ich sah den kleinen Koffer an der Tür und fragte, fahren wir irgendwohin, Mama? Gehen wir weg? Aber sie gab keine Antwort, sie weinte nur immer weiter und hielt mich fest, bis mein Daddy mich losmachte. Dann gingen wir, mein Daddy und ich. Nur wir beide.

Erst draußen wurde mir klar, dass es noch mitten in der Nacht war. Es war kalt und windig. Flocken fielen vom Himmel, und ich dachte, es wäre Schnee, bis ich eine von meiner Hand leckte und merkte, dass es Asche war. Man konnte den Rauch riechen; er brannte mir in den Augen und im Hals. Wir hatten einen weiten Weg und waren fast die ganze Nacht auf den Beinen. Das Einzige, was sich auf der Straße bewegte, waren die Trucks der Army. Manche hatten Trichter auf dem Dach, aus denen Stimmen kamen, die den Leuten sagten, sie sollten nicht stehlen und ruhig bleiben bei der Evakuierung. Ein paar Leute waren auch unterwegs, zuerst nicht viele, aber immer mehr, je weiter wir kamen, bis die Straße voll von ihnen war. Keiner sprach ein Wort. Alle gingen in unsere Richtung mit ihren Koffern. Ich glaube, ich hatte noch gar nicht begriffen, dass es nur die Kinder waren, die wegfahren würden.

Es war noch dunkel, als wir am Bahnhof ankamen. Ich habe schon das eine oder andere darüber gesagt. Mein Vater sagte, wir wären schon so früh hingegangen, um nicht Schlange stehen zu müssen. Er hasste Schlange stehen, aber es sah aus, als hätte die halbe Stadt die gleiche Idee gehabt. Wir mussten lange warten, und allmählich wurde die Sache unangenehm, das konnte man spüren. Wie wenn ein Gewitter aufzieht und die Luft knistert und knackt. Die Leute hatten zu viel Angst. Die Feuer gingen aus, und die Jumps kamen, sagten die Leute. Wir hörten lautes Krachen in der Ferne, wie Donner, und Flugzeuge flogen über uns hinweg, schnell und tief. Jedes Mal, wenn man eins sah, knackte es in den Ohren, und eine Sekunde danach gab es einen Knall, dass der Boden unter den Füßen wackelte. Manche Leute waren auch ohne Kinder da. Mein Vater hielt mich fest an der Hand. Im Zaun war eine Öffnung, wo die Soldaten die Leute durchließen, und da mussten wir auch hin. Es war so eng in dem Gedränge, dass ich kaum noch Luft kriegte. Manche Soldaten hatten Hunde dabei. Was auch passiert, du bleibst bei mir, Ida, sagte mein Daddy. Halt dich fest.

Dann endlich konnten wir unter uns den Zug sehen. Wir waren auf einer Brücke über den Gleisen. Ich schaute daran entlang, aber ich konnte nicht bis zum Ende sehen, so lang war der Zug. Er schien sich endlos hinzuziehen, hundert Wagen lang. Und er sah anders aus als jeder Zug, den ich bis dahin gesehen hatte. Die Wagen hatten keine Fenster, und seitlich ragten lange Stangen mit Netzen heraus, wie Vogelflügel. Auf den Dächern waren Soldaten mit großen Gewehren in Metallkäfigen, eingesperrt wie Kanarienvögel. Zumindest nehme ich an, dass es Soldaten waren, denn sie trugen silbern glänzende Anzüge zum Schutz gegen das Feuer.

Ich weiß nicht mehr, was mit meinem Vater passierte. An manche Dinge kann man sich nicht erinnern, weil das Gedächtnis sie nicht speichert, wenn sie einmal passiert sind. Ich erinnere mich an eine Frau, die einen Karton mit einer Katze bei sich hatte, und ein Soldat sagte, Lady, was haben Sie mit der Katze vor, und dann ging es ganz schnell: Ob man’s glaubt oder nicht, der Soldat erschoss die Frau an Ort und Stelle. Dann fielen noch mehr Schüsse, und die Leute rannten auseinander und schubsten und schrien, und bei all dem wurden mein Daddy und ich getrennt. Als ich seine Hand suchte, war sie nicht mehr da. Das Gedränge bewegte sich wie ein Fluss und riss mich mit. Es war furchtbar. Die Leute schrien, der Zug wäre noch gar nicht voll und würde trotzdem abfahren. Das muss man sich vorstellen: Ich hatte meinen Koffer verloren, und das Einzige, woran ich dachte, war, dass mein Daddy stinkwütend auf mich sein wird. Pass auf deine Sachen auf, Ida, sagte er immer, und sei nicht so nachlässig. Wir haben schwer gearbeitet für das, was wir haben; also geh nicht damit um, als wäre es nichts. Deshalb dachte ich gerade, ich bekäme jetzt den größten Ärger meines Lebens wegen dem Koffer, als mich etwas zu Boden schleuderte, und als ich aufstand, sah ich die Toten überall um mich herum. Einer war ein Junge, den ich aus der Schule kannte. Vincent Gum – der Kerl kriegte immer Ärger, weil er so gern Kaugummi kaute und in der Schule immer welchen im Mund hatte. Aber jetzt hatte er ein Loch mitten in der Brust und lag auf dem Rücken in einer Blutpfütze. Aus dem Loch in seiner Brust kam immer noch mehr Blut, mit lauter Luftblasen wie der Schaum in der Badewanne. Ich weiß noch, dass ich dachte, da liegt Vincent Gum, und er ist tot. Eine Kugel ist durch seinen Körper gefahren und hat ihn umgebracht. Er wird sich nie wieder bewegen oder reden oder sein Kaugummi kauen. Er wird jetzt immer nur daliegen und ein Gesicht machen, als hätte er alles vergessen.

Ich war immer noch auf der Brücke, und die Leute fingen an, auf den Zug hinunterzuspringen. Alles schrie durcheinander. Die Soldaten feuerten in die Menge, als ob ihnen jemand befohlen hätte, auf alles zu schießen, was sich bewegte. Ich spähte über das Geländer und sah, dass die Leichen sich stapelten wie Holz in einem Feuer, und überall war Blut, so viel Blut, dass man denken konnte, die Welt hätte ein Leck bekommen.

Dann hob mich jemand hoch. Ich dachte, es wäre mein Daddy, und er hätte mich doch noch gefunden, aber er war es nicht, es war bloß irgendein Mann. Ein großer dicker Weißer mit einem Bart. Er packte mich um die Taille und rannte mit mir zur anderen Seite der Brücke, wo eine Art Trampelpfad durch das Unkraut hinunterführte. Wir stiegen auf eine Mauer über den Gleisen, und der Mann fasste mich bei den Händen und ließ mich hinunter, und ich dachte, gleich lässt er mich fallen, und dann werde ich sterben wie Vincent Gum. Ich sah dem Mann ins Gesicht, und nie werde ich seine Augen vergessen. Es waren die Augen eines Menschen, der wusste, dass er so gut wie tot war. Mit diesem Blick ist man nicht jung oder alt, nicht schwarz oder weiß, nicht mal Mann oder Frau. Das alles hat man dann hinter sich. Er schrie: Jemand muss sie nehmen, jemand muss dieses Kind hier nehmen! Und dann packte mich jemand bei den Beinen und hob mich herunter, und ehe ich mich versah, war ich im Zug, und der Zug fuhr. Und irgendwo da drin fing ich an zu denken, dass ich niemanden je wiedersehen würde, nicht meine Mama und meinen Daddy und überhaupt niemanden, den ich bis dahin gekannt hatte.

Was ich danach in Erinnerung habe, ist eher ein Gefühl als irgendetwas Handfestes. Ich erinnere mich, dass Kinder weinten und dass ich Hunger hatte, ich erinnere mich an Dunkelheit und Hitze und den Geruch von dicht zusammengedrängten Körpern. Draußen hörten wir Schüsse, und wir spürten die Hitze des Feuers, die durch die Wände drang, als stände die ganze Welt in Flammen. Die Wände wurden so heiß, dass man sie nicht mehr anfassen konnte, ohne sich die Hand zu verbrennen. Einige Kinder waren nicht mal vier Jahre alt, praktisch noch Babys. Wir hatten zwei Wächter bei uns im Wagen, einen Mann und eine Frau. Sie sahen aus wie Soldaten, aber das waren sie nicht, sie waren von der Katastrophenbehörde FEMA. Das weiß ich noch, weil es in dicken gelben Lettern hinten auf ihren Jacken stand. Mein Daddy hatte Verwandte unten in New Orleans; er war da aufgewachsen, bis er zur Navy ging, und er sagte immer, FEMA bedeutete: Fehlerhafter Einsatz mit Absicht. Ich weiß nicht mehr, was aus der Frau geworden ist, aber der Mann hieß Chou und hat später eine andere Wächterin geheiratet, und als sie starb, hatte er noch zwei andere Frauen. Eine von denen war Mazie Chou, Old Chous Großmutter.

Das Merkwürdige war, der Zug hielt nicht an. Für nichts. Ab und zu hörten wir ein mächtiges Krachen, und dann zitterte der Wagen wie ein Blatt im Wind, aber wir fuhren trotzdem weiter. Eines Tages verließ die Frau den Wagen und ging nach hinten, um bei ein paar anderen Kindern zu helfen, und dann kam sie völlig aufgelöst zurück. Ich hörte, wie sie dem Mann erzählte, dass die Wagen hinter uns weg wären. Sie hatten den Zug so gebaut, dass sie einen Wagen abhängen konnten, wenn die Jumps hineinkamen, und das war das Krachen gewesen, das wir gehört hatten: ein Wagen nach dem andern, der hinten abgesprengt wurde. Ich wollte nicht über diese Wagen und die Kinder darin nachdenken, und bis heute habe ich es auch nicht getan. Deshalb werde ich hier auch nicht weiter darüber schreiben.

Aber Sie werden wissen wollen, wann wir hergekommen sind, und daran kann ich mich noch erinnern, denn da habe ich meinen Cousin Terrence gefunden. Ich wusste nicht, dass er auch im Zug war; er war in einem anderen Wagen. Und es war ein Glück, dass er nicht in einem der hinteren Wagen gewesen war. Denn als wir ankamen, waren es nur noch drei, und zwei davon waren fast leer. Wir waren in Kalifornien, sagten uns die Wächter. Kalifornien war kein Staat wie früher, sagten sie, es war ein ganz anderes Land. Busse würden uns abholen und in die Berge hinaufbringen, wo wir in Sicherheit wären. Der Zug fuhr langsamer und hielt an, und alle hatten Angst, aber es war auch ein bisschen aufregend, nach all den Tagen endlich auszusteigen. Und dann gingen die Türen auf, und es war so hell, dass alle die Hände vors Gesicht halten mussten. Ein paar Kinder fingen an zu weinen, weil sie dachten, es wären die Jumps, die uns jetzt holen wollten, doch jemand sagte, seid nicht so albern, das sind nicht die Jumps, und als ich die Augen aufmachte, war ich erleichtert, weil ich einen Soldaten sah, der dastand. Wir waren irgendwo in der Wüste. Sie brachten uns weg, und da standen noch viel mehr Soldaten um eine Reihe von Bussen, die im Sand parkten. Hubschrauber knatterten darüber, wirbelten den Staub auf und machten einen Höllenlärm. Wir bekamen Wasser zu trinken, kaltes Wasser. Im ganzen Leben war ich nie so froh gewesen über den Geschmack von kaltem Wasser. Das Licht war so hell, dass es mir immer noch in den Augen wehtat, wenn ich mich nur umschaute, doch dann sah ich Terrence. Er stand da im Sand wie wir alle, mit einem Koffer und einem Kissen. Noch nie hatte ich einen Jungen so fest und so lange umarmt, und wir mussten beide lachen und weinen und sagten immer wieder: Sieh mal an. Er war nicht mein Cousin ersten Grades, sondern eher einer zweiten Grades, wenn ich mich recht entsinne. Sein Vater war der Neffe meines Daddys, Carleton Jaxon. Carleton war Schweißer auf der Werft, und Terrence erzählte mir später, sein Vater hätte zu denen gehört, die den Zug gebaut hatten. Einen Tag vor der Evakuierung war Onkel Carleton mit Terrence zum Bahnhof gegangen und hatte ihn in den Triebwagen gesetzt, gleich hinter den Lokführer, und ihm befohlen, dort zu bleiben. Du bleibst da, Terrence. Tu, was der Lokführer dir sagt. So kam es, dass Terrence jetzt bei mir war. Er war nur drei Jahre älter als ich, aber damals kam mir der Unterschied größer vor, und deshalb sagte ich, du wirst auf mich aufpassen, nicht wahr, Terrence? Sag, dass du auf mich aufpasst. Und er nickte und sagte, ja, das würde er tun, und er hat es getan, bis er gestorben ist. Er war der erste Jaxon, der zum Haushalt gehörte, dem Obersten Rat der Kolonie, und seitdem gab es dort immer einen Jaxon.

Sie packten uns in die Busse. Für mich war alles anders, als Terrence bei mir war. Er lieh mir sein Kissen, und ich lehnte mich an ihn und schlief ein. Deshalb weiß ich nicht, wie lange wir mit dem Bus fuhren, aber ich glaube nicht, dass es mehr als ein Tag war. Und ehe ich mich versah, sagte Terrence, wach auf, Ida, wir sind da, du musst aufwachen. Sofort roch ich, dass die Luft da, wo wir jetzt waren, ganz anders war. Soldaten holten uns aus den Bussen, und zum ersten Mal sah ich die Mauer und die Scheinwerfer über uns, hoch oben auf ihren Masten, doch es war noch Tag, und deshalb brannten sie nicht. Die Luft war frisch und klar und so kalt, dass wir alle mit den Füßen stampften und froren. Überall war Militär, und FEMA-LKWs standen da, vollbeladen mit allen möglichen Sachen, mit Lebensmitteln und Gewehren und Toilettenpapier und Kleidung; auf manchen waren auch Tiere – Schafe und Ziegen und Pferde und Hühner in Käfigen und auch ein paar Hunde. Die Wächter stellten uns alle in einer Reihe auf, wie sie es vorher auch getan hatten, und sie schrieben unsere Namen auf, gaben uns saubere Kleider und führten uns in die Zuflucht. Der Raum, in den sie uns brachten, war der, den fast alle kennen und wo bis heute alle Kleinen schlafen. Ich nahm die Pritsche neben Terrence und stellte ihm die Frage, die mir im Kopf herumging: Wo sind wir hier, Terrence? Dein Daddy muss es dir doch gesagt haben, wenn er den Zug gebaut hat. Und Terrence war einen Moment lang ganz still und sagte dann: Hier wohnen wir jetzt. Die Scheinwerfer und die Mauern werden uns beschützen. Vor den Jumps, und vor allem andern, bis der Krieg vorbei ist. Es ist wie in der Geschichte von Noah: Das hier ist die Arche. Was für eine Arche, fragte ich, und wovon redest du, und werde ich meine Mama und meinen Daddy je wiedersehen? Und er sagte, ich weiß es nicht, Ida. Aber ich werde auf dich aufpassen, wie ich es versprochen habe. Auf dem Bett auf der anderen Seite saß ein Mädchen, das nicht älter war als ich. Sie weinte sich die Augen aus, und Terrence ging zu ihr und sagte leise, wie heißt du denn? Ich passe auch auf dich auf, wenn du willst. Da hörte sie auf. Sie war eine echte Schönheit, das war nicht zu übersehen, obwohl sie schmutzig und erschöpft war wie wir alle. Ein allerliebstes kleines Gesicht, und Haare, so hell und fein wie bei einem Baby. Sie nickte und sagte, ja, bitte tu das, und wenn es dir nicht allzu viel Mühe macht, kannst du auch auf meinen Bruder aufpassen. Ja, und dieses Mädchen, Lucy Fisher, wurde meine allerbeste Freundin, und sie war es, die Terrence später heiratete. Ihr Bruder hieß Rex, ein kleines Kerlchen und genauso hübsch wie Lucy, nur eben so, wie ein Junge hübsch ist, und ich nehme an, Sie werden wohl wissen, dass die Fishers und Jaxons seitdem immer auf die eine oder andere Weise miteinander verbandelt waren.

Niemand hat gesagt, es wäre meine Aufgabe, mich an all das zu erinnern, aber ich glaube, wenn ich es nicht aufgeschrieben hätte, wäre es inzwischen alles vergessen. Nicht nur, wie wir hergekommen sind, sondern auch die Welt, die alte Welt aus der Zeit Davor, in der wir zu Weihnachten Handschuhe und einen Schal gekauft haben und ich mit meinem Daddy die Straße hinaufgegangen bin, um Wassereis zu holen, und in einer Sommernacht am Fenster gesessen und zugesehen habe, wie die Sterne zu leuchten anfingen. Sie sind inzwischen natürlich alle gestorben, die Ersten, die hier eintrafen. Die meisten sind schon so lange tot, dass niemand sich auch nur an ihre Namen erinnert. Wenn ich an diese Zeiten denke, empfinde ich keine Trauer. Ein bisschen Trauer um Leute, die ich vermisse – wie Terrence, der mit siebenundzwanzig befallen wurde, und Lucy, die kurz danach bei der Entbindung starb, und Mazie Chou, die noch ziemlich lange lebte, dann allerdings auch verstarb, ich weiß nicht mehr, woran. Blinddarmentzündung, glaube ich, oder der Krebs. Am schwersten fällt es, an die zu denken, die einfach aufgegeben haben, wie es im Laufe der Jahre so viele getan haben. Die es schließlich selbst in die Hand genommen haben, aus Trauer oder Sorge, oder weil sie die Last dieses Lebens einfach nicht mehr weiter tragen wollten. Sie sind es, von denen ich träume. Sie haben die Welt unvollendet verlassen und wissen nicht mal, dass sie fort sind. Aber vermutlich gehört es zum Alter, dass man so empfindet. Man ist halb in einer Welt und halb in der anderen, und alles fließt im Kopf durcheinander. Es ist niemand mehr da, der auch nur weiß, wie ich heiße. Die Leute nennen mich »Auntie«, weil ich immer nur die Tante für alle war und selbst nie Kinder haben konnte, und ich glaube, das ist mir ganz recht. Manchmal ist es, als hätte ich so viele Leute in mir, dass ich überhaupt nicht allein bin. Und wenn ich gehe, werde ich sie mitnehmen.

Die Wächter sagten uns, die Army würde wiederkommen und noch mehr Kinder und Soldaten herbringen, aber das ist nie passiert. Die Busse und Lastwagen fuhren weg, und als es dunkel wurde, verschlossen sie die Tore, und dann gingen die Scheinwerfer an, hell wie der Tag, so hell, dass sie die Sterne verdunkelten. Das war ein Anblick. Terrence und ich waren hinausgegangen, um es zu sehen. Wir beide standen fröstelnd in der Kälte, und da wusste ich, dass es so war, wie er gesagt hatte. Hier würden wir von jetzt an leben. Wir waren da, wir beide, in der Ersten Nacht, als die Scheinwerfer angingen und die Sterne erloschen. Und in all den Jahren seitdem, in all den vielen, vielen Jahren, habe ich diese Sterne nicht wiedergesehen, nicht ein einziges Mal.

Passage Trilogie Bd. 1 - Der Übergang
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