59
Als sie in der Garnison ankamen, war es Nachmittag. Ihre Rucksäcke hatten sie zurückbekommen, ihre Waffen nicht. Sie waren keine Gefangenen, aber es stand ihnen auch nicht frei, zu gehen, wohin sie wollten. Der Ausdruck, den der Major benutzt hatte, war »Schutzhaft«. Vom Fluss aus marschierten sie geradewegs nach Norden über den Bergkamm. Im nächsten Tal stießen sie auf eine lehmige Piste, zerfurcht von Hufabdrücken und Reifenspuren. Dichte Wolken waren von Westen her aufgezogen; man roch und fühlte den Regen kommen. Als die ersten Tropfen fielen, trug der Wind Holzrauch zu ihnen hin.
Major Greer trat neben Peter. Er war ein großer, kräftiger Mann mit einer Stirn, die so zerfurcht war, dass sie aussah wie gepflügt. Er mochte vierzig Jahre alt sein, und er trug einen locker sitzenden, grün und braun gefleckten Tarnanzug mit einem breiten Gürtel, der sich straff um die Taille schlang. Seine Taschen waren prall gefüllt mit seiner Ausrüstung. Über den kahlrasierten Schädel hatte er eine Wollmütze gezogen. Wie bei allen seinen Leuten, einem Trupp von fünfzehn Mann, war sein Gesicht mit Holzkohle und Erde beschmiert, was das Weiße der Augen erschreckend lebendig erscheinen ließ. Sie sahen aus wie Wölfe, wie Kreaturen des Waldes; wie der Wald selbst. Seit Wochen waren sie im Wald unterwegs, eine Langstrecken-Patrouille.
Greer blieb auf dem Weg stehen und schulterte sein Gewehr. Im Halfter an seiner Hüfte steckte eine schwarze Pistole. Er trank in tiefen Zügen aus seiner Wasserflasche und deutete dann damit zum Berghang. Es war jetzt nicht mehr weit. Peter spürte es daran, dass Greers Männer schneller wurden. Eine heiße Mahlzeit, ein Feldbett zum Schlafen, ein Dach über dem Kopf.
»Gleich hinter dem nächsten Höhenkamm«, sagte Greer.
In den letzten Stunden war zwischen ihnen etwas entstanden, das sich für Peter anfühlte wie der Beginn einer Freundschaft. Nach dem anfänglichen Durcheinander ihrer Gefangennahme, das noch dadurch verschlimmert wurde, dass keiner von beiden sagen wollte, wer er war, war es Michael gewesen, der die Pattsituation beendete. Er hob sein Gesicht aus der Kotze und rief: »O fuck. Ich ergebe mich. Wir sind aus Kalifornien, okay? Kann mich bitte jemand erschießen, damit der Boden aufhört, sich zu drehen?«
Greer schraubte seine Flasche zu, und Alicia kam von hinten heran. Von Anfang an war sie ungewöhnlich schweigsam gewesen. Sie hatte keine Einwände erhoben, als Greer ihnen befohlen hatte, unbewaffnet weiterzugehen. Das passte eigentlich überhaupt nicht zu ihr. Aber wahrscheinlich stand sie nur unter Schock, wie sie alle. Während des ganzen Marsches war sie schützend an Amys Seite geblieben. Vielleicht, dachte Peter, schämte sie sich einfach dafür, dass sie sie geradewegs in die Falle der Soldaten geführt hatte. Was Amy anging, so schien sie diese neue Wendung so aufzunehmen, wie sie alles aufnahm: neutral und wachsam.
»Wie ist es da?«, fragte er Greer.
Der Major zuckte die Achseln. »So, wie Sie es sich vorstellen. Eine Riesenlatrine. Aber besser, als draußen im Regen zu sitzen.«
Als sie die Kammhöhe erreicht hatten, kam die Garnison in Sicht. Sie schmiegte sich unter ihnen in ein muldenförmiges Tal: eine Ansammlung von Segeltuchzelten und Fahrzeugen, umringt von einem Palisadenzaun aus angespitzten Pfählen, mindestens fünfzehn Meter hoch. Der Fuhrpark bestand aus etwa einem halben Dutzend Humvees, zwei Tanklastern sowie einer ganzen Reihe von kleineren Trucks, Pick-ups und Fünftonnern mit schweren, schlammverkrusteten Reifen. Ringsum am Zaun zählte er ein Dutzend große Flutlichtscheinwerfer auf hohen Masten, und auf einer Koppel am anderen Ende des Geländes grasten ein paar Pferde. Zwischen den Gebäuden und auf den Beobachtungstürmen waren Soldaten postiert. In der Mitte der Anlage, alles überragend, flatterte eine große Flagge im Wind: rot, weiß und blau mit einem weißen Stern in der Mitte. Das Ganze konnte nicht mehr als einen halben Quadratkilometer groß sein, aber von oben sah es aus wie eine ganze Stadt: das Herz einer Welt, an die er immer geglaubt hatte, ohne sich je ein Bild davon zu machen.
»Sie haben Licht«, sagte Michael. Die Männer aus Greers Einheit zogen an ihnen vorbei, den Berg hinunter.
»Was denkst du denn?«, sagte einer namens Muncey – ein Corporal, kahl geschoren wie alle andern, und mit breitem Schiefe-Zähne-Lächeln. Die meisten von Greers Männern gaben sich soldatisch wortkarg und redeten nur, wenn man sie ansprach. Aber Muncey schwatzte wie ein Vogel. Passenderweise war er für das Funkgerät zuständig, das er auf dem Rücken trug, ein Gerät mit einem Generator, dessen Handkurbel unten herausragte wie ein Schwanz.
»Hinter dem Zaun da?«, sagte er grinsend. »Da ist Texas. Was wir hier nicht haben, brauchst du nicht.«
Sie waren keine reguläre Truppe, hatte Greer erklärt. Zumindest waren sie nicht die U. S. Army. Es gab keine U. S. Army mehr. Wessen Army seid ihr dann?, hatte Peter gefragt.
Da hatte Greer ihnen von Texas erzählt.
Als sie unten angekommen waren, war dort ein ganzer Pulk von Männern am Tor versammelt. Trotz der Kälte und des einsetzenden, gleichmäßigen Nieselregens waren manche nackt bis zu den Hüften. Man sah schmale Taillen und von Muskelsträngen überzogene Schultern und Brustpartien. Alle waren glattrasiert, auch auf dem Kopf. Und alle waren bewaffnet – mit Gewehren, Pistolen und vereinzelten Armbrüsten.
»Die Leute werden glotzen«, sagte Greer leise. »Gewöhnt euch lieber daran.«
»Wie viele … Sprengs bringt ihr denn sonst so her?«, fragte Peter. Sprengs, hatte Greer ihm erklärt, war ihre Abkürzung für »Versprengte«.
Greer zog die Stirn kraus. Sie näherten sich jetzt dem Tor. »Keine. Weiter östlich findet man manchmal welche. Oben in Oklahoma hat das Dritte Bataillon mal eine ganze verdammte Stadt gefunden. Aber hier draußen? Wir suchen nicht mal.«
»Wofür war dann das Netz?«
»Sorry«, sagte Greer, »ich dachte, das hätten Sie kapiert. Das ist für die Dracs. Die ihr Smokes nennt.« Er ließ den erhobenen Zeigefinger kreiseln. »Die Dreherei macht sie meschugge. Im Netz kann man sie abknallen wie in der Schießbude.«
Peter erinnerte sich an etwas, das Caleb ihm erzählt hatte. Es war darum gegangen, dass die Virals sich vom Turbinenfeld fernhielten. Zander dachte immer, die Propeller machen sie verrückt. Er erzählte es Greer.
»Leuchtet ein«, meinte der Major. »Sie mögen’s nicht, wenn sich was dreht. Von Windrädern habe ich es allerdings noch nicht gehört.«
»Und was war das Zeug auf dem Baum?«, fragte Michael, der neben ihnen ging. »Das so übel gerochen hat.«
»Knoblauch.« Greer lachte kurz. »Der älteste Trick der Welt. Die verfluchten Dracs lieben das Zeug.«
Ihre Unterhaltung war zu Ende, als sie durch das Tor traten. Greers Einheit hatte sich zerstreut. Niemand sagte etwas. Im Vorbeigehen sah Peter, dass sie ihn alle nur kurz musterten, und sofort begriff er, wohin die Blicke der Soldaten sich richteten: auf die Frauen.
»Aaach-tung!«
Alle standen stramm. Ein Mann kam zielstrebig von einem der Zelte auf sie zu. Auf den ersten Blick sah er nicht so aus, wie Peter sich einen hochrangigen Offizier beim Militär vorgestellt hatte. Er sah aus wie eine Tonne, war einen ganzen Kopf kleiner als Greer, und sein Watschelgang wirkte nachlässig. Seine Gesichtszüge waren zerknautscht, als wären sie unter dem kahlrasierten Schädel zu sehr zusammengedrückt. Aber als er näher kam, spürte Peter die Kraft seiner Autorität, eine mysteriöse Energie, die den Mann umgab wie statische Elektrizität. Der offene, stechende Blick seiner kleinen, dunklen Augen passte so gar nicht zu diesem Gesicht.
Er betrachtete Peter eine ganze Weile, die Hände in die Hüften gestemmt, und dann schaute er an ihm vorbei zu den andern und taxierte sie alle nacheinander.
»Ich werd’ verrückt.«
Er sprach mit dem gleichen breiten Akzent wie Greer und seine Leute.
»Rührt euch, alle.«
Alle standen bequem. Peter wusste nicht, was er sagen sollte. Am besten, er überließ das Reden diesem Mann.
»Männer vom Zweiten.« Er hob die Stimme und wandte sich an die versammelten Soldaten. »Mir ist zur Kenntnis gekommen, dass ein paar dieser Sprengs Frauen sind. Ihr werdet diese Frauen nicht ansehen. Ihr werdet nicht mit ihnen sprechen, nicht in ihre Nähe kommen, ja nicht einmal auf den Gedanken kommen, sie hätten etwas mit euch zu tun – oder ihr mit ihnen. Sie sind nicht eure Freundinnen und nicht eure Ehefrauen. Sie sind nicht eure Mütter und nicht eure Schwestern. Sie sind gar nichts, sie existieren nicht, sie sind nicht hier. Ist das klar?«
»Sir, jawohl, Sir!«
Peter drehte sich zu Alicia um, die bei Amy stand, aber sie sah ihn nicht an. Hollis warf ihm einen Blick zu und runzelte skeptisch die Stirn. Offenbar wusste er auch nicht, was er damit anfangen sollte.
»Ihr sechs, legt eure Rucksäcke ab und kommt mit. Major, Sie auch.«
Sie folgten ihm in das Zelt, einen einzelnen Raum mit einem Lehmboden unter dem durchhängenden Segeltuchdach. Die Einrichtung bestand aus einem dickbauchigen Ofen, zwei mit Papieren bedeckten Sperrholztischen auf Böcken und einem weiteren, kleinen Tisch an der Rückwand, auf dem ein Funkgerät stand. Davor saß ein Soldat mit Kopfhörern. An der Zeltwand über ihm hing eine große, farbige Landkarte, auf der Dutzende von Stecknadeln mit bunten Köpfen ein unregelmäßiges V bildeten. Als Peter näher heranging, sah er, dass die Spitze des V mitten in Texas lag. Der eine Arm erstreckte sich nordwärts über Oklahoma ins südliche Kansas; der zweite ging westwärts nach New Mexico, schwenkte dann ebenfalls nach Norden und endete kurz hinter der Grenze von Colorado – dort, wo sie jetzt standen. Auf einem schwarzen Streifen am oberen Rand der Karte stand in gelber Schrift POLITIKUNTERRICHT FÜR MITTELSCHULEN. Darunter las er: Fox & Sons Schulwandkarten, Cincinnati, Ohio.
Greer trat zu ihm. »Willkommen im Krieg«, murmelte er.
Der Commander war hinter ihnen eingetreten und wandte sich an den Funker, der unverhohlen die Frauen anstarrte, genau wie die Männer draußen es getan hatten. Anscheinend hatte er sich für Sara entschieden, aber wieder zuckte sein Blick nervös zu Alicia und Amy hinüber.
»Corporal, entschuldigen Sie uns bitte.«
Es kostete ihn sichtlich viel Mühe, seinen Blick loszureißen. Er streifte den Kopfhörer ab und bekam ein hochrotes Gesicht. »Sir, Verzeihung, Sir.«
»Raus, Junge.«
Der Corporal rappelte sich hoch und stolperte hinaus.
»So.« Der Commander sah Greer scharf an. »Major. Haben Sie vielleicht vergessen, etwas zu melden?«
»Drei der Sprengs sind Frauen, Sir.«
»Ja. Ja, das stimmt. Danke, dass Sie mich darüber in Kenntnis setzen.«
»Verzeihung, General.« Greer verzog gequält das Gesicht. »Wir hätten es durchgeben sollen.«
»Ja, das hätten Sie. Da Sie die Leute gefunden haben, übergebe ich Ihnen die Zuständigkeit. Glauben Sie, das können Sie bewältigen?«
»Selbstverständlich, Sir. Kein Problem.«
»Stellen Sie eine Einheit zusammen, und verschaffen Sie ihnen ein Quartier. Sie brauchen auch eine eigene Latrine.«
»Jawohl, General.«
»Gehen Sie.«
Greer nickte, warf Peter einen kurzen Blick zu – viel Glück, schien er zu sagen – und verließ das Zelt. Der General – Peter kannte noch immer nicht seinen Namen – musterte sie noch einmal kurz. Jetzt, da sie allein waren, wirkte er lockerer.
»Sie sind Jaxon?«
Peter nickte.
»Ich bin Brigadier General Curtis Vorhees, Zweites Expeditionsbataillon, Armee der Republik Texas.« Die Andeutung eines Lächelns. »Ich bin hier der Leithammel – für den Fall, dass Major Greer auch das zu erwähnen versäumt hat.«
»Hat er nicht, Sir. Ich meine, er hat. Es erwähnt.«
»Gut.« Vorhees nickte, und sein Blick ging von einem zum andern. »Und ich soll Ihnen also abnehmen – verzeihen Sie, wenn ich in diesem Punkt ein wenig ungläubig erscheine –, dass Sie sechs den ganzen Weg von Kalifornien hierher zu Fuß gekommen sind.«
Genau gesagt, dachte Peter, sind wir ein Stück weit mit dem Auto gefahren. Und dann wieder mit der Eisenbahn. Aber er antwortete schlicht: »Jawohl.«
»Und warum, wenn ich fragen darf, unternimmt jemand einen solchen Versuch?«
Peter öffnete den Mund und wollte antworten, aber schon wieder erschien ihm die Wahrheit zu gewaltig. Draußen regnete es jetzt richtig. Die Tropfen prasselten auf das Zeltdach.
»Das ist eine lange Geschichte«, brachte Peter hervor.
»Da bin ich sicher, Mr Jaxon. Und ich würde sie sehr gern hören. Einstweilen müssen wir uns mit ein paar Präliminarien befassen. Sie sind zivile Gäste des zweiten Expeditionsbataillons. Für die Dauer Ihres Aufenthalts unterstehen Sie meiner Autorität. Glauben Sie, damit können Sie leben?«
Peter nickte.
»In sechs Tagen wird diese Einheit nach Süden marschieren, um in der Stadt Roswell, in New Mexico, mit dem Dritten Bataillon zusammenzutreffen. Von dort können wir Sie mit einem Nachschubkonvoi nach Kerrville bringen. Ich schlage vor, dass Sie dieses Angebot annehmen, aber das ist ausschließlich Ihre Entscheidung. Zweifellos werden Sie darüber unter sich beraten wollen.«
Peter drehte sich zu den andern um. Sie waren genauso überrascht wie er. Dass ihre Reise hier zu Ende sein könnte, war eine Möglichkeit, an die er nicht gedacht hatte.
»Nun zu der anderen Sache«, fuhr Vorhees fort. »Sie haben gehört, dass ich mit dem Major darüber gesprochen habe. Ich muss Sie ersuchen, die Frauen in Ihrer Gruppe anzuweisen, keinen Kontakt mit meinen Männern aufzunehmen. Sie werden in ihrem Zelt bleiben, außer wenn sie sich zur Latrine begeben. Alles, was sie brauchen, bekommen sie von Ihnen oder von Major Greer. Ist das klar?«
Peter sah keinen Grund zur Widerrede, aber diese Anweisung erschien ihm einfach lächerlich. »Ich weiß nicht genau, ob ich ihnen das vorschreiben kann, Sir.«
»Sie können es nicht?«
»Nein, Sir.« Er hob die Schultern. Es gab keine anderen Worte dafür. »Wir gehören alle zusammen.«
Der General seufzte. »Vielleicht haben Sie mich missverstanden. Dass ich es als Bitte formuliere, ist reine Höflichkeit. In Anbetracht des Auftrags des Zweiten Expeditionsbataillons wäre es absolut unangebracht, ja gefährlich, wenn die Frauen sich hier frei bewegten.«
»Wieso wären sie dabei in Gefahr?«
Vorhees runzelte die Stirn. »Sie nicht. Ich denke dabei nicht an die Frauen.« Er holte geduldig Luft und fing noch einmal an. »Ich werde es Ihnen so einfach erklären, wie ich kann. Wir sind eine Freiwilligenarmee. Wer sich den Expeditionsstreitkräften anschließt, tut es auf Lebenszeit und mit einem blutigen Eid. Jeder dieser Männer hat geschworen, sein Leben zu geben. Er hat alles aufgegeben und lebt nur noch für diese Truppe und die Männer, die dazugehören. Jedes Mal, wenn ein Mann das Gelände verlässt, muss er davon ausgehen, dass er nicht zurückkommen wird. Und er akzeptiert es. Mehr noch, er will es so. Ein Mann wird immer für seine Freunde sterben, aber eine Frau – eine Frau bringt ihn dazu, dass er leben will. Und wenn das passiert, garantiere ich Ihnen: Er wird durch dieses Tor hinausgehen und nicht zurückkommen.«
Vorhees redete davon, seinem Leben ein Ende zu setzen, das war Peter klar. Aber nach allem, was sie durchgemacht hatten, war es einfach unvorstellbar, ihnen – und vor allem Alicia – zu sagen, sie müssten sich in ihrem Zelt verkriechen.
»Ich bin sicher, diese Frauen sind hervorragende Kämpferinnen«, fuhr Vorhees fort. »Sie wären sonst nie so weit gekommen. Aber unser Kodex ist sehr streng, und Sie müssen ihn respektieren. Wenn Sie das nicht können, gebe ich Ihnen Ihre Waffen zurück, und Sie müssen weitergehen.«
»Okay«, sagte er. »Wir gehen weiter.«
»Moment, Peter.«
Es war Alicia. Peter drehte sich zu ihr um.
»Lish, es ist okay. Ich bin auf eurer Seite. Wenn er sagt, wir müssen gehen, dann gehen wir.«
Aber Alicia beachtete ihn nicht. Sie schaute den General an, und Peter sah, dass sie vor ihm strammstand.
»General Vorhees. Colonel Niles Coffee vom Ersten Expeditionsbataillon lässt Ihnen seine Grüße ausrichten.«
»Niles Coffee?« Sein Gesicht fing an zu leuchten. »Der Niles Coffee?«
»Lish …« Langsam ging Peter ein Licht auf. »Meinst du etwa … den Colonel?«
Aber Alicia antwortete nicht. Sie sah ihn nicht einmal an, und ihr Gesicht trug einen Ausdruck, den er noch nie gesehen hatte.
»Junge Frau. Colonel Coffee ist mit allen seinen Leuten vor dreißig Jahren draufgegangen.«
»Nein, Sir«, sagte Alicia. »Er hat überlebt.«
»Coffee lebt?«
»Er ist gefallen, Sir. Vor drei Monaten.«
Vorhees’ Blick irrte im Zelt umher und kehrte dann zu Alicia zurück. »Und wer, wenn ich fragen darf, sind Sie?«
Sie senkte knapp das Kinn. »Seine Adoptivtochter, Sir. Gefreiter Alicia Donado, Erstes Expeditionsbataillon.«
Niemand sagte etwas. Was jetzt kam, war endgültig, das wusste Peter. Und unwiderruflich. Vor lauter Panik wurde ihm ganz schwindlig. Es war, als sei ihm der Boden unter den Füßen plötzlich und ohne Vorwarnung weggerissen worden.
»Lish, was redest du da?«
Sie drehte sich zu ihm um, und ihre Augen schwammen in Tränen.
»Oh, Peter«, sagte sie, und der erste Tropfen rollte über ihre Wimpern auf ihre schweißglänzende Wange. »Es tut mir leid. Ich hätte es dir wirklich sagen müssen.«
»Sie können sie nicht mitnehmen!«
»Bedaure, Jaxon«, sagte der General. »Aber das haben Sie nicht zu entscheiden. Da gibt es gar nichts zu entscheiden.« Er ging forschen Schrittes zum Zelteingang. »Greer! Jemand soll Major Greer in mein Zelt schicken, und zwar sofort!«
»Was geht hier vor?«, wollte Michael wissen. »Peter, was erzählt sie da?«
Plötzlich redeten alle durcheinander. Peter packte Alicia bei den Armen und zwang sie, ihn anzusehen. »Lish, was soll das? Überleg doch, was du tust!«
»Es ist schon passiert.« Erleichterung schimmerte durch die Tränen, als habe sie eine Last, die sie lange getragen hatte, endlich ablegen können. »Es ist passiert, bevor ich dich kannte. Lange vorher. An dem Tag, als der Colonel in die Zuflucht kam und mich zu sich genommen hat. Ich musste ihm versprechen, es niemandem zu erzählen.«
Jetzt begriff er, was sie ihm am Morgen zu sagen versucht hatte. »Du bist ihnen gefolgt.«
Sie nickte. »Ja, seit zwei Tagen schon. Als ich flussabwärts die Gegend erkundet habe, bin ich auf einen ihrer Lagerplätze gestoßen. Die Asche ihres Feuers war noch warm. So weit hier draußen konnte es niemand anders sein, dachte ich.« Sie schüttelte zaghaft den Kopf. »Ganz ehrlich, Peter, ich hatte nicht von Anfang an vor, die Soldaten zu finden. Ich war immer davon ausgegangen, dass der alte Mann mir irgendwelche Geschichten erzählt hat. Das musst du mir glauben.«
Greer kam triefend nass aus dem Regen ins Zelt.
»Major Greer«, sagte der General, »diese Frau gehört zum Ersten Expeditionsbatallion.«
Greers Unterkiefer klappte herunter. »Sie – was?«
»Sie ist Niles Coffees Tochter.«
Greer starrte Alicia mit weit aufgerissenen Augen an, als wäre sie ein seltsames Tier. »Heiliger Strohsack. Coffee hatte eine Tochter?«
»Sie sagt, sie hat den Eid geschworen.«
Greer kratzte sich verwirrt den kahlen Schädel. »Mein Gott. Sie ist eine Frau. Was wollen Sie jetzt machen?«
»Nichts. Vereidigt ist vereidigt. Die Männer werden lernen müssen, damit zu leben. Bringen Sie sie zum Haareschneiden, und teilen Sie sie zum Dienst ein.«
Es ging alles zu schnell. Peter hatte das Gefühl, etwas Großes sei in ihm aufgebrochen. »Lish, sag ihnen, dass du lügst!«
»Es tut mir leid, Peter. Es muss sein. Major?«
Greer nickte ernst und trat an ihre Seite.
»Du kannst mich nicht verlassen«, hörte Peter sich sagen, aber die Stimme, die diese Worte aussprach, war nicht seine eigene.
»Ich muss, Peter. Es geht nicht anders.«
Ohne es zu merken, hatte er sie umarmt. Tränen schnürten ihm die Kehle zusammen. »Ich kann … das nicht ohne dich.«
»Doch, du kannst. Das weiß ich.«
Es hatte keinen Sinn. Alicia verließ ihn. Er spürte, wie sie ihm entglitt. »Ich kann nicht. Ich kann nicht.«
»Es ist gut.« Ihre Stimme war dicht an seinem Ohr. »Still jetzt.«
Sie hielt ihn eine ganze Weile so fest, und sie beide waren umhüllt von einem Kokon des Schweigens, als wären sie allein. Schließlich nahm Alicia sein Gesicht zwischen beide Hände, zog ihn zu sich heran und küsste ihn einmal und sehr kurz auf die Stirn. Es war ein Kuss, der um Vergebung bat und sie zugleich gewährte: ein Abschiedskuss. Dann war Abstand zwischen ihnen. Sie hatte ihn losgelassen und trat zurück.
»Danke, General«, sagte sie. »Major Greer, ich bin so weit.«