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Als Theo erwachte, schreckte er nicht hoch, sondern hatte das Gefühl, ganz langsam in die Welt der Lebenden zu taumeln. Seine Augen waren offen – schon eine ganze Weile, begriff er. Das Baby, dachte er. Er tastete nach Mausami und fand sie neben sich. Sie bewegte sich, als er sie berührte, und zog die Knie an. Das war es gewesen. Er hatte von dem Baby geträumt.
Er war durchgefroren bis auf die Knochen, und trotzdem war seine Haut schweißnass. Hatte er Fieber? Man musste schwitzen, nur so ging das Fieber runter, das hatte die Lehrerin immer gesagt, und auch seine Mutter, und sie hatte dabei sein Gesicht gestreichelt, während er glühend im Bett gelegen hatte. Aber das war lange her, die Erinnerung an eine Erinnerung. Er hatte seit so vielen Jahren kein Fieber mehr gehabt, dass er gar nicht mehr wusste, wie es sich anfühlte.
Er schlug die Decke zur Seite und stand auf. Er zitterte vor Kälte, und die Feuchtigkeit auf seiner Haut sog den letzten Rest Wärme aus seinem Körper. Er trug dasselbe dünne Hemd, das er den ganzen Tag getragen hatte, als er hinter dem Haus Holz gestapelt hatte. Der Winter konnte kommen: Endlich war alles versorgt, verstaut und weggeschlossen. Er zog das schweißnasse Hemd aus und wühlte ein frisches aus der kleinen Kommode. In einem der Außengebäude hatte er Schränke voller Kleider gefunden, manche noch in der Verkaufsverpackung: Hemden, Hosen, Socken, Thermo-Unterwäsche und Pullover aus einem Material, das sich anfühlte wie Baumwolle, aber keine war. Mäuse und Motten hatten ein paar Sachen angefressen, aber nicht alles. Wer immer diesen Vorrat angelegt hatte, hatte langfristig gedacht. Er holte Stiefel und Schrotgewehr von ihrem Platz neben der Tür und ging die Treppe hinunter. Das Feuer im Wohnzimmer war zu glühender Asche heruntergebrannt. Er wusste nicht, wie spät es war, aber vermutlich würde bald der Morgen dämmern. Er und Maus hatten im Laufe der Wochen einen Rhythmus gefunden, sie hatten die Nächte verschlafen und waren aufgewacht, wenn die ersten Sonnenstrahlen zum Fenster hereinschienen, und so hatte er angefangen, die Zeit auf eine Weise zu erfassen, die ganz natürlich und zugleich für ihn völlig neu war. Es war, als habe er ein tief verborgenes Reservoir des Instinkts angezapft, ein lange Zeit vergrabenes Stammesgedächtnis. Es lag nicht nur daran, dass es hier keine Scheinwerfer gab, sondern an dem Ort an sich. Auch Maus hatte es gespürt, an jenem ersten Tag, als sie zusammen zum Fluss gegangen waren, um zu angeln, und später in der Küche, als sie ihm gesagt hatte, sie seien in Sicherheit.
Er setzte sich hin und zog die Stiefel an, nahm einen dicken Pullover vom Haken, vergewisserte sich, dass das Gewehr geladen war, und trat hinaus auf die Veranda. Im Osten, jenseits der Hügel, kroch ein zartes Leuchten am Himmel herauf. In der ersten Woche, als Maus geschlafen hatte, hatte er jede Nacht auf der Veranda verbracht und dabei leise Trauer empfunden. Sein Leben lang hatte er die Dunkelheit und das, was sie bringen konnte, gefürchtet. Niemand, nicht einmal sein Vater, hatte ihm erzählt, wie schön der Nachthimmel war. Unter ihm fühlte man sich klein und gleichzeitig groß, als Teil einer endlosen Ewigkeit. Einen Moment lang blieb er in der Kälte stehen und atmete die Nachtluft ein und aus, bis Geist und Körper wirklich wach waren. Wenn er schon auf war, konnte er auch gleich das Feuer anzünden, damit Mausami nicht in einem eiskalten Haus aufwachen musste.
Theo trat von der Veranda hinunter und ging in den Garten. Die letzten Tage hatte er fast nur damit verbracht, Holz zu holen und zu hacken. Die Wälder am Fluss waren voll von totem Holz, trocken und gut für den Ofen. Die Säge, die er gefunden hatte, taugte nichts mehr; die Zähne waren stumpf vom Rost. Aber die Axt war gut. Jetzt lagerten die Früchte seiner Arbeit reihenweise gestapelt in der Scheune und mit einer Plastikplane bedeckt unter der Dachtraufe.
Diese Leute, dachte er, als er auf das offene Scheunentor zuging. Die Leute auf den Fotos. Ob sie hier glücklich gewesen waren? Er hatte keine weiteren Bilder gefunden, und erst vor ein paar Tagen war er auf die Idee gekommen, den Wagen zu durchsuchen. Er wusste nicht genau, wonach er eigentlich suchte, aber nachdem er ein paar Minuten auf dem Fahrersitz gesessen und in der Hoffnung, dass irgendetwas passieren würde, planlos auf Knöpfe gedrückt und Schalter betätigt hatte, war tatsächlich etwas passiert: Eine kleine Klappe am Armaturenbrett hatte sich geöffnet, und in dem Fach dahinter hatte er einen Stapel Landkarten und, darunter versteckt, eine lederne Brieftasche gefunden. Darin steckte ein Ausweis mit der Aufschrift Finanzbehörde Utah, Abt. Kraftfahrzeugsteuer. Darunter stand ein Name: David Conroy. David Conroy, 1634 Mansard Place, Provo, UT. Das waren sie, sagte er zu Mausami, als er ihr die Karte zeigte. Die Conroys.
Die Scheunentür, dachte er jetzt, als er den Hof überquerte. Warum stand sie offen? Konnte er tatsächlich vergessen haben, sie zu schließen? Im nächsten Augenblick drang ein neues Geräusch an sein Ohr, ein leises Rascheln in der Scheune.
Er blieb wie angewurzelt stehen und zwang sich zu absoluter Reglosigkeit. Lange Zeit hörte er nichts mehr. Vielleicht war es Einbildung gewesen.
Dann kam es wieder.
Was immer da drinnen war, hatte ihn anscheinend noch nicht bemerkt. Wenn es ein Viral war, hatte Theo nur einen einzigen Schuss. Er könnte ins Haus zurückgehen und Mausami warnen, aber wo sollten sie sich verstecken? Seine einzige Chance lag im Überraschungselement. Vorsichtig und mit angehaltenem Atem lud er die Flinte durch und hörte das leise Klicken, mit dem die erste Patrone in die Kammer glitt. Aus der Tiefe der Scheune drang ein leiser, dumpfer Schlag und ein beinahe menschliches Seufzen. Theo schob den Gewehrlauf langsam vor, bis er das Holz des Scheunentors berührte. Behutsam drückte er die Tür weiter auf, als eine geflüsterte Stimme hinter ihm durch das Halbdunkel kam.
»Theo? Was machst du da?«
Mausami in ihrem langen Nachthemd. Das lange Haar floss über ihre Schultern, und sie schwebte wie eine Geistererscheinung in der Morgendämmerung. Theo öffnete den Mund und wollte sie zurück ins Haus schicken, als die Tür aufflog und den Gewehrlauf mit solcher Wucht beiseitestieß, dass er sich um sich selbst drehte. Ehe er sich versah, war die Waffe losgegangen, und der Rückstoß schleuderte ihn zurück. Ein springender Schatten flog an ihm vorbei in den Hof.
»Schieß nicht!«, schrie Mausami.
Es war ein Hund.
Das Tier kam ein paar Meter vor Mausami rutschend zum Stehen und klemmte den Schwanz ein. Das Fell war dicht und silbergrau mit schwarzen Flecken. Der Hund stand auf dürren Beinen vor Maus und schaute sie mit einer Art Verbeugung an. Der Kopf war unterwürfig gesenkt, die Ohren schmiegten sich nach hinten in das wollige Nackenfell. Anscheinend wusste er nicht, wohin er schauen und ob er weglaufen oder angreifen sollte. Ein dunkles Knurren kam aus seiner Kehle.
»Maus, sei vorsichtig«, warnte Theo.
»Ich glaube, er tut mir nichts. Oder, mein Junge?« Sie hockte sich hin und streckte dem Hund die Hand entgegen, damit er daran schnuppern konnte. »Du hast nur Hunger, nicht wahr? Hast in der Scheune etwas zu fressen gesucht.«
Der Hund stand genau zwischen Theo und Mausami. Sollte er aggressiv werden, wäre die Flinte nutzlos. Theo drehte sie in den Händen herum, damit er sie als Keule benutzen könnte. Vorsichtig kam er näher.
»Tu das Gewehr weg«, sagte Mausami.
»Maus …«
»Mach schon, Theo.« Lächelnd sah sie den Hund an und streckte ihm weiter die Hand entgegen. »Wir zeigen dem netten Mann, was für ein braver Hund du bist. Komm her, mein Junge. Möchtest du an Mamas Hand schnuppern?«
Unsicher machte das Tier einen Schritt auf sie zu, wich zurück und kam wieder heran. Es folgte seiner schwarzen Knopfnase zu Mausamis ausgestreckter Hand. Verblüfft sah Theo, wie der Hund den Kopf an die Hand schmiegte und anfing, sie zu lecken. Maus saß jetzt auf dem Boden. Gurrend redete sie mit dem Tier und streichelte ihm Kopf und Nackenfell.
»Siehst du?« Sie lachte, als der Hund ihr laut und feucht ins Ohr nieste. »Er ist ein großes altes Schätzchen, weiter nichts. Wie heißt du denn, mein Alter? Hm? Hast du einen Namen?«
Theo merkte, dass er das Gewehr immer noch schlagbereit über dem Kopf hielt. Er entspannte sich einigermaßen verlegen.
Mausami runzelte nachsichtig die Stirn. »Er nimmt es dir bestimmt nicht übel. Oder, mein Guter?« Energisch zerzauste sie dem Hund die Mähne. »Was meinst du? Du bist so mager. Wie wär’s mit einem Frühstück? Wie würde dir das gefallen?«
Die Sonne war jetzt über die Berge heraufgestiegen. Die Nacht war vorbei, begriff Theo, und sie hatte einen Hund gebracht.
»Conroy«, sagte er.
Mausami sah ihn an. Der Hund leckte ihr das Ohr, und es sah fast unanständig aus, wie er seine Schnauze an ihrem Kopf rieb.
»So nennen wir ihn«, erklärte Theo. »Conroy.«
Mausami nahm den Kopf des Hundes zwischen die Hände und knetete seine Lefzen. »Bist du das? Bist du Conroy?« Sie ließ ihn nicken und lachte vergnügt. »Ja, das ist Conroy.«
Theo wollte ihn nicht ins Haus lassen, doch gegen Mausami kam er nicht an. Conroy stürmte die Treppe hinauf und durchstöberte jedes Zimmer, als ob ihm das Haus gehörte. Seine langen Krallen klickten aufgeregt über die Dielen. Mausami kochte ihm ein Frühstück aus Fisch und Kartoffeln, in Schmalz gebraten, und stellte ihm den Napf auf den Boden unter dem Küchentisch. Conroy hatte es sich bereits auf dem Sofa bequem gemacht, aber als er das Geräusch des Steinguts auf dem Holzboden hörte, kam er sofort in die Küche gestürmt, vergrub die Schnauze im Napf und schob ihn beim Fressen mit der langen Nase vor sich her. Maus füllte eine zweite Schüssel mit Wasser und stellte sie ihm hin. Als Conroy mit seinem Frühstück fertig war und ausgiebig schlürfend getrunken hatte, trottete er wieder hinaus und kehrte zum Sofa zurück, wo er sich mit einem geräuschvollen Seufzer der Zufriedenheit niederließ.
Conroy, der Hund. Wo kam er her? Offensichtlich war er schon früher bei Menschen gewesen; jemand hatte für ihn gesorgt. Er war mager, aber nicht unterernährt. Sein Fell war verfilzt und voller Kletten, aber er sah gesund aus.
»Schütte mir Wasser in die Wanne«, befahl Maus. »Wenn er auf dem Sofa herumliegt, will ich ihn baden.«
Theo ging hinaus und zündete ein Feuer an, um Wasser heiß zu machen. Als die Wanne voll war, stand die Sonne hoch über dem Garten. Der Winter stand vor der Tür, doch tagsüber konnte es noch mild sein, warm genug, um im Hemd herumzulaufen. Theo setzte sich auf einen Holzklotz und sah zu, wie Maus den Hund badete. Sie massierte eine ganze Handvoll von ihrer kostbaren Seife in sein silbriges Fell, kämmte mit den Fingern die Knoten heraus, so gut es ging, und zupfte die Kletten ab. Der Hund war das Inbild verzweifelter Demütigung. Ein Bad?, schien er zu fragen. Wessen Idee war das? Als Maus fertig war, hob Theo das große, triefende Bündel aus dem Zuber, und Maus ließ sich wieder auf die Knie sinken – selbst solche einfachen Bewegungen fielen ihr von Tag zu Tag schwerer –, um ihn in eine Wolldecke zu hüllen.
»Mach nicht so ein eifersüchtiges Gesicht!«
»Habe ich das getan?« Aber sie hatte ihn erwischt; er war tatsächlich eifersüchtig. Conroy hatte die Decke wieder abgeworfen und schüttelte sich energisch. Wassertropfen sprühten im Bogen nach beiden Seiten.
»Gewöhn dich lieber daran«, sagte Maus.
Sie hatte recht. Das Baby würde bald da sein. Alles an ihr erschien größer. Sogar ihr Haar, das üppig und glänzend über ihre Schultern fiel, wirkte fülliger. Er erwartete immer, dass sie sich darüber beklagte, aber sie tat es nie. Als er sie mit Conroy beobachtete, der sich ihren verspäteten und unnötigen Versuchen, ihn abzutrocknen, endlich doch gefügt hatte, war er plötzlich zutiefst froh – froh über alles. Dort in seiner Zelle hatte er nur sterben wollen. Eigentlich schon vorher. Ein Teil seiner selbst hatte schon immer mit diesem Wunsch gekämpft. Einfach loslassen: Theo kannte diesen Sog, eine Sehnsucht, so schmerzlich wie jeder Hunger. Sich dem Schicksal überlassen, einfach hinaustreten ins Dunkel. Es war zu einer Art Spiel für ihn geworden: Er sah sich selbst zu, wie er seinen täglichen Verrichtungen nachging, als wäre er nicht schon halb tot, und wie er jeden, sogar Peter, damit täuschte. Je schlimmer es wurde, desto leichter fiel ihm diese Täuschung, bis sie am Ende das Einzige war, was ihn noch trug. Als Michael ihm an jenem Nachmittag auf der Veranda vom Zustand der Akkus berichtet hatte, war ihm unwillkürlich ein Gedanke durch den Hinterkopf gegangen: Gott sei Dank, es ist vorbei.
Und wie anders sah es jetzt aus! Er hatte sein Leben wieder. Mehr als das, es war, als habe er ein ganz neues Leben bekommen.
Sie brachten den Tag zu Ende und zogen sich bei Sonnenuntergang zurück. Conroy ließ sich am Fußende des Bettes nieder, und wie jeden Abend schliefen sie miteinander und fühlten, wie das Baby zwischen ihnen strampelte – ein beharrliches, Aufmerksamkeit heischendes Klopfen, fast wie ein Morsecode. Anfangs hatte er es verstörend empfunden, aber jetzt nicht mehr. Es gehörte alles zusammen: das Treten und Stoßen des Babys in seiner warmen Höhle, Mausamis leise Schreie, der Rhythmus ihrer Bewegungen, sogar die Geräusche, die Conroy machte, wenn er sich behutsam umdrehte. Ein Segen, dachte Theo. Dieses Wort kam ihm in den Sinn, als der Schlaf herankroch. Das war dieser Ort hier: ein Segen.
Dann fiel ihm das Scheunentor ein.
Er wusste, dass er den Riegel vorgeschoben hatte. Er hatte das Bild klar und deutlich vor Augen: Er hatte die Tür in ihren knarrenden Angeln zugedrückt und den Riegel an seinen Platz geschoben, bevor er zum Haus zurückgegangen war.
Aber wie hatte Conroy dann hineinkommen können?
Im nächsten Augenblick war er in seiner Hose, zerrte mit der einen Hand die Stiefel über die Füße und zog sich mit der anderen den Pullover über den Kopf. Den ganzen Tag über war er im Haus und draußen unterwegs gewesen, und er hatte nicht ein einziges Mal in die Scheune geschaut.
»Was ist?«, fragte Mausami. »Theo, was ist los?«
Sie richtete sich auf und zog die Decke über die Brust. Conroy spürte die Aufregung; er war aufgesprungen und lief mit langen, klickenden Krallen im Zimmer hin und her.
Theo griff nach dem Schrotgewehr neben der Tür. »Bleib hier.«
Er hätte Conroy lieber bei ihr gelassen, doch der Hund wollte nichts davon wissen; als Theo die Haustür öffnete, schoss das Tier hinaus. Zum zweiten Mal an diesem Tag schlich Theo auf die Scheune zu, den Kolben der Flinte an die Schulter gepresst. Die Tür stand immer noch offen, wie sie sie zurückgelassen hatten. Conroy lief vor ihm her und verschwand in der dunklen Scheune.
Theo trat durch das Tor und hielt den Finger schussbereit am Abzug. Er hörte, wie der Hund durch die Dunkelheit lief und am Boden entlangschnupperte.
»Conroy?«, flüsterte er. »Was ist da?«
Als seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte er den Hund sehen. Er lief gleich hinter dem Volvo im Kreis herum. Auf dem Boden hinter dem Holzstapel stand eine Laterne, die Theo vor ein paar Tagen dort abgestellt hatte. Er kniete davor nieder und zündete hastig den Docht an. Er hörte, dass Conroy auf dem staubigen Boden etwas gefunden hatte.
Eine Konservendose. Theo hob sie auf und hielt sie an ihrem schartigen Rand hoch. Jemand hatte sie mit einem Messer geöffnet. Das Innere der Dose war noch feucht und roch nach Fleisch. Theo hob die Laterne höher und ließ das Licht über den Boden fallen. Fußabdrücke. Menschliche Fußspuren im Staub.
Jemand war hier gewesen.