9
Ich hieß … Fanning.
Den ganzen Tag über lagen ihm diese Worte auf den Lippen. Als er um acht Uhr aufwachte, als er duschte und sich anzog und frühstückte und auf dem Bett in seinem Zimmer saß, durch die Kanäle zappte, seine Parliaments rauchte und auf die Nacht wartete – den ganzen Tag über hörte er nur das:
Fanning. Ich hieß Fanning.
Grey sprach es nicht aus. Der Name war keiner, den er kannte. Er war nie jemandem begegnet, der Fanning hieß – oder so ähnlich wie Fanning. Nicht, soweit er sich erinnern konnte. Und trotzdem hatte der Name sich, während er schlief, irgendwie in seinem Kopf festgesetzt, als habe er beim Einschlafen einen Song gehört, der immer und immer wieder abgespielt wurde, bis der Text eine Furche in sein Hirn pflügte, und jetzt hing ein Teil seines Verstandes in dieser Furche fest und kam nicht wieder heraus. Fanning? Was zum Teufel …? Er musste an den Gefängnispsychiater denken, an Dr. Wilder, der ihn in einen Zustand, tiefer als der Schlaf, geführt hatte, in den Raum, den er »Verzeihen« nannte, und an das langsame tap-tap-tap seines Stifts auf der Schreibtischplatte, dieses Geräusch, das in ihm herumspukte. Jetzt konnte Grey nicht mehr das Fernsehprogramm wechseln oder sich am Kopf kratzen oder eine Zigarette anzünden, ohne die Worte zu hören, und ihr synkopischer Rhythmus bildete den Takt zu jedem noch so kleinen Handgriff, den er tat.
(Schnipp) Ich … (anzünden) hieß … (ziehen) Fanning … (ausatmen).
Er saß da und rauchte und wartete und rauchte wieder. Was zum Teufel war los mit ihm? Er fühlte sich anders, und die Veränderung war nicht gut. Nervös, als sei er irgendwie aus dem Takt geraten. Normalerweise konnte er einfach still dasitzen und buchstäblich gar nichts tun, während die Stunden verstrichen – das hatte er in Beeville ziemlich gut gelernt: ganze Tage in gedankenloser Trance dahinfließen zu lassen. Aber heute ging es nicht. Heute fühlte er sich zappelig wie ein Käfer in der Bratpfanne. Er versuchte fernzusehen, doch die Worte und die Bilder schienen nichts miteinander zu tun zu haben. Der Nachmittagshimmel draußen vor den Fenstern der Baracke sah aus wie altes Plastik, ein verwaschenes Grau. Grau wie Grey. Ein Tag, der tadellos dazu geeignet war, die Stunden zu verdösen. Aber hier saß er auf der Kante seines ungemachten Betts und vibrierte innerlich wie eine Maultrommel.
Außerdem hatte er das Gefühl, keine Sekunde geschlafen zu haben, obwohl er den Wecker um fünf glatt verpennt und seine Frühschicht versäumt hatte. Es war eine Zusatzschicht, und deshalb würde er sich eine Ausrede ausdenken können – dass er da etwas durcheinandergebracht oder einfach vergessen hatte –, aber so oder so würde er etwas zu hören bekommen. Um zehn Uhr abends war er wieder dran. Er musste wirklich noch ein Nickerchen machen, eine Mütze voll Schlaf tanken, um dann acht Stunden lang Zero zu beobachten, wie er ihn beobachtete.
Um sechs zog er seinen Parka an und ging quer über das Gelände zur Kantine. Die Sonne würde erst in einer Stunde untergehen, aber die Wolken hingen tief am Himmel und saugten das letzte Licht auf wie ein Schwamm. Ein klammer Wind wehte ihm schneidend entgegen, als er zur Kantine stapfte, einem Hohlblockgebäude, das aussah, als sei es in aller Eile errichtet worden. Die Berge konnte er überhaupt nicht sehen, und an solchen Tagen hatte Grey manchmal das Gefühl, das Gelände sei in Wirklichkeit eine Insel – die Welt sei stehen geblieben und in ein schwarzes Meer des Nichts gestürzt, irgendwo hinter dem Ende der langen Straße. Fahrzeuge kamen und verschwanden – Laster und Lieferwagen und militärische Fünftonner mit Vorräten –, aber nach allem, was Grey wusste, hätten sie vom Mond kommen und dahin zurückfahren können. Sogar seine Erinnerung an die Welt begann zu verblassen. Er war seit sechs Monaten nicht mehr jenseits des Zauns gewesen.
In der Kantine hätte um diese Zeit Hochbetrieb herrschen müssen; fünfzig oder mehr Leute hätten den Raum mit Wärme und Lärm erfüllen müssen, aber als er durch die Tür trat, den Reißverschluss an seinem Parka herunterzog und den Schnee von den Schuhsohlen stampfte, ließ er den Blick umherwandern und sah nur eine Handvoll Männer verstreut an den Tischen sitzen, allein oder in kleinen Gruppen, alles in allem nicht mehr als ein Dutzend. Man sah ihrer Kleidung an, was sie taten: Das medizinische Personal trug OP-Anzüge und Gummi-Clogs, die Soldaten in ihren winterlichen Tarnanzügen beugten sich über ihre Tabletts und schaufelten ihr Essen in den Mund wie Farmarbeiter, und der Putztrupp saß in UPS-braunen Overalls an den Tischen. Hinter dem Speisesaal war eine Lounge mit Pingpong und Air Hockey, aber niemand spielte dort, und auch vor dem Großbildfernseher saß keiner. Es war still im Raum; man hörte nur leises Gemurmel und das Klirren von Glas und Porzellan. Eine Zeitlang hatten in der Lounge auch ein paar Tische mit Computern gestanden, mit eleganten neuen vMacs für E-Mail und allen möglichen Kram, aber eines Morgens im Sommer hatten ein paar Techniker während des Frühstücks alle Geräte auf einem Rollwagen weggeschafft. Ein paar Soldaten hatten sich beschwert, aber das hatte nichts geholfen, die Computer waren nicht zurückgekommen, und alles, was noch verriet, dass es sie mal gegeben hatte, waren ein paar Drähte, die aus der Wand hingen. Ihre Entfernung war eine Art Strafe gewesen, vermutete Grey, aber er wusste nicht, wofür. Er selbst hatte nie etwas mit den Computern anfangen können.
Trotz des nervösen Gefühls in seinem Körper machte der Essensgeruch ihn hungrig – bei dem enormen Appetit, den das Depo machte, war es ein Wunder, dass er nicht noch mehr auf die Waage brachte –, und er belud sein Tablett, als er am Büfett entlangging. In Gedanken genoss er schon die Mahlzeit, die er gleich einnehmen würde: einen Teller Minestrone, Salat mit Croutons und Käse, Stampfkartoffeln und rote Bete und eine Scheibe Schinken, auf der ein Ring gedörrter Ananas saß wie ein Diadem. Er vollendete das Ganze mit einem Stück Zitronentorte und einem großen Glas Eiswasser und trug sein Tablett zu einem freien Tisch in der Ecke. Die meisten Schrubberschwinger aßen wie er allein; es gab eigentlich nicht viel, worüber man reden durfte. Manchmal verging eine ganze Woche, ohne dass Grey auch nur »Buh« zu irgendjemandem sagte – außer dem Posten auf Ebene drei, der ihn vor dem Zellentrakt ein- und auscheckte. Es hatte eine Zeit gegeben, erinnerte Grey sich – und eigentlich war es noch nicht so lange her –, als die technischen und medizinischen Mitarbeiter ihm Fragen gestellt hatten, lauter Zeug über Zero und die Kaninchen und die Zähne. Sie hatten sich seine Antworten angehört und genickt und vielleicht etwas auf ihrem Laptop notiert. Aber jetzt holten sie sich die Berichte wortlos ab, als sei die ganze Sache mit Zero erledigt, als gebe es nichts Neues zu erfahren.
Grey arbeitete sich methodisch, Gang für Gang, durch sein Essen. Die Sache mit Fanning ging ihm immer noch durch den Kopf wie ein Nachrichtenticker, aber nicht mehr so schlimm; für ein paar Minuten vergaß er es fast. Er aß den letzten Bissen Torte, als jemand an seinen Tisch kam: einer der Soldaten. Grey glaubte sich zu erinnern, dass er Paulson hieß, aber die Soldaten sahen irgendwie alle gleich aus in ihren Camos und T-Shirts und blanken Stiefeln und mit Haaren, die so kurz geschoren waren, dass die Ohren abstanden, als hätte jemand sie zum Spaß seitlich an den Kopf geklebt. Paulsons Haarschnitt war so kurz, dass Grey nicht einmal erkennen konnte, welche Haarfarbe er hatte. Er nahm den Stuhl rechts von Grey, drehte ihn um und setzte sich rittlings darauf. Sein Lächeln empfand Grey nicht als freundlich.
»Euch Typen macht das Essen wirklich Spaß, was?«
Grey zuckte die Achseln.
»Du bist Grey, oder?« Er kniff die Augen zsuammen. »Hab dich schon mal gesehen.«
Grey legte die Gabel hin und schluckte seinen Kuchen herunter. »Yeah.«
Paulson nickte versonnen, als müsse er sich überlegen, ob das ein guter Name war oder nicht. Sein Gesicht erschien äußerlich ruhig, aber es sah aus, als müsse er sich Mühe geben. Einen Augenblick lang huschte sein Blick hinüber zu der Überwachungskamera, die in der Ecke über ihnen hing. Dann schaute er wieder Grey an.
»Weißt du, ihr Typen redet nicht viel«, sagte Paulson. »Ist ein bisschen unheimlich, wenn ich das mal sagen darf.«
Unheimlich. Paulson hatte keine Ahnung. Grey schwieg.
»Darf ich dich was fragen?« Paulson deutete mit dem Kinn auf Greys Teller. »Lass dich nicht stören. Du kannst weiteressen, während wir uns unterhalten.«
»Ich bin fertig«, sagte Grey. »Ich muss jetzt zum Dienst.«
»Wie ist die Torte?«
»Du willst dich nach der Torte erkundigen?«
»Nach der Torte? Nein.« Paulson schüttelte den Kopf. »Ich wollte nur höflich sein. Das wäre ein Beispiel für das, was man Smalltalk nennt.«
Grey fragte sich, was der Mann wollte. Die Soldaten sprachen sonst nie ein Wort mit ihm, und auf einmal saß dieser Paulson hier, schwatzte auf ihn ein, als ob weit und breit keine Kamera da wäre.
»Sie ist gut«, brachte er hervor. »Ich mag Zitrone.«
»Genug von der Torte. Die Torte ist mir scheißegal.«
Grey griff mit beiden Händen zu seinem Tablett. »Ich muss gehen«, sagte er, aber als er aufstehen wollte, legte Paulson ihm eine Hand auf das Handgelenk. In dieser einen Berührung spürte Grey, wie stark Paulson war – als seien die Muskeln an seinen Armen an Eisenstangen befestigt.
»Bleib. Sitzen. Verdammt.«
Grey blieb sitzen. Plötzlich wirkte der Speisesaal leer. Er warf einen Blick an Paulson vorbei und sah, dass es tatsächlich so war: Die meisten Tische waren unbesetzt. Nur am anderen Ende des Raums saßen zwei Techniker und tranken Kaffee aus Wegwerfbechern. Wo waren plötzlich alle?
»Weißt du, wir wissen, wer ihr Typen seid, Grey«, sagte Paulson ruhig und fest. Er beugte sich über den Tisch, und seine Hand lag immer noch auf Greys Handgelenk. »Wir wissen, was ihr getan habt; das meine ich. Kleine Jungs, oder was weiß ich. Ich sage: von mir aus. Jeder, wie er kann. Was gut ist für die Gans, ist gut für den Ganter. Kannst du mir folgen?« Grey sagte nichts darauf. »So denkt zwar keiner außer mir hier, aber das ist meine Meinung. Und soviel ich weiß, ist dies immer noch ein freies Land.« Er rutschte auf seinem Stuhl nach vorn und schob sein Gesicht noch näher heran. »Ich kannte mal einen Typen auf der Highschool, weißt du? Der schmierte sich Kuchenteig auf den Schwanz und ließ ihn von seinem Hund ablecken. Wenn du also einen kleinen Jungen ficken willst – nur zu. Ich persönlich kapier’s zwar nicht, aber das ist deine Sache.«
Grey wurde schlecht. »Tut mir leid«, brachte er hervor. »Ich muss gehen.«
»Wo musst du denn hin, Grey?«
»Wohin?« Er versuchte zu schlucken. »Zum Dienst. Ich muss arbeiten.«
»Nein, musst du nicht.« Paulson nahm einen Löffel von Greys Tablett und drehte ihn mit der Spitze seines Zeigefingers auf dem Tisch. »Deine Schicht fängt erst in drei Stunden an. Ich kenne die Zeiten, Grey. Wir plaudern hier miteinander, verdammt.«
Grey beobachtete den Löffel und wartete darauf, dass Paulson noch etwas sagte. Plötzlich brauchte er eine Zigarette, lechzte danach mit jedem Molekül seines Körpers, war wie besessen davon. »Was willst du von mir?«
Paulson drehte den Löffel ein letztes Mal. »Was ich will, Grey? Das ist die Frage, nicht wahr? Ich will etwas, da hast du recht.« Er beugte sich über den Tisch und winkte Grey mit dem Zeigefinger näher heran. Als er weitersprach, flüsterte er fast. »Ich will, dass du mir von Ebene vier erzählst.«
Grey spürte, wie sein Inneres jäh nach unten sackte, als habe er den Fuß auf eine nicht vorhandene Stufe gesetzt.
»Ich putze da bloß. Ich gehöre zum Reinigungstrupp.«
»Entschuldige bitte«, sagte Paulson. »Aber – nein. Das kaufe ich dir nicht eine Sekunde lang ab.«
Grey dachte wieder an die Kameras. »Richards …«
Paulson schnaubte. »Scheiß auf den.« Er sah hinauf zu der Kamera, winkte kurz, drehte dann die Hand langsam herum und ballte sie zur Faust. Nur sein Mittelfinger ragte hoch. »Glaubst du, da schaut wirklich jemand hin? Den ganzen Tag, jeden Tag? Hört uns zu? Beobachtet, was wir tun?«
»Aber da unten ist nichts. Ich schwöre.«
Paulson schüttelte langsam den Kopf, und Grey sah einen wilden Ausdruck in seinem Blick. »Wir wissen beide, dass das Bullshit ist. Also bitte, ja? Lass uns ehrlich zueinander sein.«
»Ich putze nur«, sagte Grey kläglich. »Ich bin nur zum Arbeiten hier.«
Paulson sagte nichts. Es war so still, dass Grey seinen eigenen Herzschlag zu hören glaubte.
»Sag mal, schläfst du gut, Grey?«
»Was?«
Paulson kniff die Augen bedrohlich zusammen. »Ich habe gefragt, ob … du … gut … schläfst.«
Grey verstand überhaupt nichts mehr. »Ich nehm’s an, ja«, stammelte er. »Na klar, schlafe ich gut.«
Paulson lachte leise und resigniert. Er lehnte sich zurück und schaute zur Decke. »Du nimmst es an. Du nimmst es an.«
»Ich weiß nicht, warum du mich so was fragst.«
Paulson atmete jäh aus. »Träume, Grey«, sagte er mit plötzlichem Nachdruck. Dann senkte er die Stimme wieder und beugte sich dicht zu Grey herüber. »Ich rede von Träumen. Ihr Typen träumt doch, oder? Na, verdammt, ich träume jedenfalls. Die ganze verfluchte Nacht lang. Jede Nacht. Und ich träume einen verrückten Scheiß.«
Verrückt, dachte Grey: Das beschrieb die Situation ziemlich vollständig. Paulson war verrückt. Die Räder berührten die Straße nicht mehr, die Ruder waren nicht mehr im Wasser. Vielleicht zu viele Monate auf diesem Berg, zu viele Tage in Schnee und Kälte. Grey hatte solche Leute in Beeville gekannt: ganz okay, als sie dort ankamen, aber als ein paar Monate vergangen waren, brachten sie keine zwei sinnvollen Sätze mehr zusammen.
»Willst du wissen, wovon ich träume, Grey? Na los. Rate mal.«
»Ich will nicht.«
»Du sollst verdammt noch mal raten.«
Grey schaute auf die Tischplatte. Er spürte, dass die Kameras ihn beobachteten – er spürte Richards, der das alles irgendwo verfolgte. Bitte, dachte er. Um Himmels willen. Keine Fragen mehr.
»Ich … weiß es nicht.«
»Du weißt es nicht.«
Er schüttelte den Kopf und starrte weiter auf den Tisch. »Nein.«
»Dann will ich es dir verraten«, sagte Paulson leise. »Ich träume von dir.«
Sie schwiegen beide. Paulson war verrückt, dachte Grey. Verrückt verrückt verrückt.
»Es tut mir leid«, stammelte er. »Da unten ist nichts.«
Er wollte wieder aufstehen und wartete darauf, dass Paulson ihm die Hand auf den Ellenbogen legte und ihn festhielt.
»Na schön.« Paulson winkte kurz. »Ich bin vorläufig fertig. Hau ab.« Er drehte sich auf seinem Stuhl um und schaute zu Grey herauf, der mit seinem Tablett dastand. »Aber ich will dir noch ein Geheimnis verraten. Möchtest du es hören?«
Grey schüttelte den Kopf.
»Kennst du die beiden Besenschwinger, die verschwunden sind?«
»Wen?«
»Du kennst die Typen.« Paulson runzelte die Stirn. »Die beiden Fettsäcke. Blödmann und sein Freund.«
»Jack und Sam.«
»Genau.« Paulsons Blick wanderte in die Ferne. »Die Namen hab ich nie mitgekriegt. Vermutlich standen die auch nicht auf dem Zettel.«
Grey wartete darauf, dass Paulson weiterredete. »Was ist mit ihnen?«
»Tja, ich hoffe, das waren keine Freunde von dir. Denn hier ist eine kleine Neuigkeit. Sie sind tot.« Paulson stand auf. Er sah Grey nicht an, als er fortfuhr. »Wir sind alle tot.«
Es war dunkel, und Carter hatte Angst.
Er war irgendwo unten, tief unten. Im Aufzug hatte er vier Knöpfe gesehen, und die Nummern waren rückwärts gelaufen wie in einer Tiefgarage. Als sie ihn dort auf den Wagen gelegt hatten, war er benommen gewesen und hatte keinen Schmerz empfunden; sie hatten ihm irgendetwas gegeben, eine Spritze, die ihn schläfrig machte, ohne ihn einschlafen zu lassen, und so hatte er ein bisschen gespürt, was sie da an seinem Nacken machten. Ein kleiner Schnitt, und sie hatten etwas hineingetan. Hände und Füße fixiert, »damit er es bequem hatte«, sagten sie. Dann hatten sie ihn in den Aufzug geschoben, und das war das Letzte, woran er sich erinnerte: die Knöpfe, und ein Finger, der auf E4 drückte. Der Mann mit der Pistole, dieser Richards, war nicht mehr zurückgekommen, obwohl er es versprochen hatte.
Jetzt war Carter wach, und auch wenn er nicht sicher war, hatte er doch das Gefühl, unten zu sein, tief unten im Loch. Er war immer noch an Händen und Füßen gefesselt, und wahrscheinlich hatte er auch einen Gurt um den Leib. Der Raum war kalt und dunkel, aber irgendwo sah er blinkende Lichter; wie weit sie entfernt waren, konnte er nicht erkennen. Und er hörte das Rauschen eines Ventilators. Er konnte sich kaum erinnern, worüber er mit den Männern gesprochen hatte, bevor sie ihn herunterbrachten; sie hatten ihn gewogen, das wusste er noch, und ein paar andere Dinge getan, die jeder Arzt tat: seinen Blutdruck gemessen und ihn in einen Becher pissen lassen und mit dem Hämmerchen an sein Knie geschlagen und in seine Nase und seinen Mund gespäht. Dann hatten sie ihm die Kanüle in den Handrücken gestochen – das hatte wehgetan, höllisch wehgetan, und das hatte er auch gesagt, daran erinnerte er sich: verdammt! – und den Schlauch mit dem Beutel am Ständer verbunden. Der Rest war verschwommen. Er erinnerte sich an ein komisches Licht, einen leuchtend roten Punkt an der Spitze eines Stifts, und die Gesichter um ihn herum hatten plötzlich Masken getragen. Einer, er konnte nicht sehen, welcher, sagte: »Das ist nur der Laser, Mr Carter. Sie werden jetzt vielleicht einen sanften Druck spüren.« Jetzt, hier im Dunkeln, wusste er es wieder: Als sein Gehirn sich in Wasser verwandelte und alles weit wegschwamm, da hatte er gedacht, dass Gott sich einen letzten Spaß mit ihm gemacht hatte und dass er jetzt vielleicht doch die Spritze bekommen würde. Und er hatte sich gefragt, ob er bald den lieben Gott sehen würde, oder Mrs Wood oder den Teufel höchstpersönlich.
Aber er war nicht gestorben, er hatte nur geschlafen, keine Ahnung, wie lange. Seine Gedanken waren eine Zeitlang umhergedriftet, aus einer Dunkelheit in die andere, als wandere er durch ein Haus, in dem kein Licht brannte. Weil er auch jetzt nichts sehen konnte, war es unmöglich, sich zu orientieren. Er wusste nicht mal, wo oben und wo unten war. Alles tat weh, und seine Zunge fühlte sich an wie eine zusammengerollte Socke in seinem Mund oder wie ein seltsames pelziges Tier, das dort wohnte. In seinem Nacken, dicht über den Schulterblättern, pochte der Schmerz. Er hob den Kopf, aber er sah nur ein paar kleine Lichtpunkte – rote Lichter wie das an dem Stift. Er konnte nicht erkennen, wie weit entfernt oder wie groß sie waren. Es hätten die Lichter einer fernen Stadt sein können.
Wolgast … der Name schwebte aus der Dunkelheit in seinen Kopf herein. Irgendetwas mit Wolgast, und was er gesagt hatte – dass er noch unendlich viel Zeit habe. Die Zeit kann ich Ihnen geben, Anthony. Alle Zeit der Welt. Unendlich viel. Als wüsste er, was sich im tiefsten Winkel von Carters Herzen verbarg, als wären sie einander nicht gerade erst begegnet, sondern schon seit Jahren gute Bekannte. Solange Anthony zurückdenken konnte, hatte niemand so mit ihm gesprochen.
Dabei musste er an den Tag denken, an dem alles angefangen hatte, als gehörten die beiden zusammen. Juni: Es war Juni, das wusste er. Juni, und die Luft unter der Autobahnbrücke glühend heiß, und Carter stand in einem Keil aus schmutzigem Schatten und hielt sein Pappschild vor der Brust – HABE HUNGER, BITTE UM KLEINE SPENDE, GOTT SEGNE SIE –, als der Wagen, ein schwarzer GMC Denali, am Randstein hielt. Das Beifahrerfenster öffnete sich, nicht nur einen Spaltbreit, damit die Person, die im Wagen saß, ihm ein paar Münzen oder einen zusammengefalteten Schein herausreichen konnte, ohne dass sich auch nur ihre Finger berühren mussten. Nein, die Scheibe glitt ganz herunter, in einer einzigen, fließenden Bewegung, sodass Carters Spiegelbild in dem schwarz getönten Glas sich senkte wie ein Vorhang im Rückwärtsgang. Ihm war, als habe sich in der Welt ein Loch aufgetan und einen geheimen Raum offenbart. Es war gerade zwölf Uhr, und der Mittagsverkehr auf der Westschleife wurde immer dichter. Über seinem Kopf dröhnte es wie ein langer Güterzug auf ratternden Gleisen.
»Hallo?«, rief jemand aus dem Auto. Eine Frauenstimme, und sie hatte Mühe, das Tosen des Autoverkehrs und den Echohall unter der Brücke zu übertönen. »Hallo, Sie? Sir? Verzeihen Sie, Sir!«
Als er an das offene Fenster herantrat, spürte Carter die kühle, klimatisierte Luft aus dem Wageninneren an seiner Haut. Er roch den süßen, rauchigen Geruch von neuem Leder und, als er noch näher kam, auch den Duft von Parfüm. Sie beugte sich zum Beifahrerfenster herüber, und ihr Körper straffte den Sicherheitsgurt. Sie hatte die Sonnenbrille hochgeschoben. Eine Weiße natürlich. Das hatte er schon gewusst, bevor er sie sah. Ein schwarzer Denali mit glänzendem Lack und einem riesigen, spiegelblanken Kühlergrill. Der San Felipe Drive in östlicher Richtung, der von der Galleria Shopping Mall nach River Oaks führte, wo die großen Villen standen. Aber die Frau war jung, jünger, als er gedacht hätte bei einem solchen Auto, höchstens dreißig, und was sie trug, sah aus wie Tenniskleidung – ein weißer Rock und ein passendes Top, und die Haut feucht und glänzend. Glattes Haar, blond mit dunkleren Strähnen, aus dem Gesicht gekämmt und zurückgebunden. Eine zierliche Nase, hohe Wangenknochen. Er sah keinen Schmuck außer einem Ring mit einem Diamanten, so groß wie ein Zahn. Er wusste, er sollte nicht genauer hinschauen, aber er konnte nicht anders: Er ließ den Blick durch den hinteren Teil des Wagens wandern. Da war ein leerer Kindersitz, über dem buntes Plüschspielzeug hing, und daneben auf dem Sitz eine große Einkaufstüte, die aus Papier war, aber aussah wie Metall. Darauf stand der Name des Geschäfts: Nordstrom’s.
»Was immer Sie übrig haben«, stammelte Carter. »Gott segne Sie.«
Ihre Handtasche, ein Riesending zum Umhängen aus Leder, lag auf ihrem Schoß. Sie wühlte den Inhalt heraus und warf ihn neben sich auf den Sitz: einen Lippenstift, ein Adressbüchlein, ein winziges, juwelenähnliches Telefon. »Ich möchte Ihnen etwas geben«, sagte sie. »Ist ein Zwanziger genug? Geben das die Leute? Ich weiß es nicht.«
»Gott segne Sie.« Carter wusste, dass die Ampel jetzt grün werden würde. »Was immer Sie übrig haben.«
Sie zog ihre Brieftasche hervor, als hinter ihnen die erste ungeduldige Hupe ertönte. Die Frau drehte sich hektisch um und blickte dann hinauf zur Ampel, die jetzt grün leuchtete.
»O verdammt, verdammt.« Hastig blätterte sie in ihrer Brieftasche, so groß wie ein Buch, mit Druckknöpfen und Reißverschlüssen und Fächern voller Zettel. »Ich weiß es nicht«, sagte sie immer wieder. »Ich weiß es nicht.«
Das Gehupe nahm zu, und dann gab der Wagen hinter ihr, ein roter Mercedes, aufbrüllend Gas, schoss auf die mittlere Spur hinüber und schnitt einen SUV. Der Fahrer des SUVs trat auf die Bremse und drückte endlos auf die Hupe.
»Tut mir leid, tut mir leid«, sagte die Frau. Sie starrte ihre Brieftasche an wie eine verschlossene Tür, deren Schlüssel sie nicht finden konnte. »Hier ist nur Plastikgeld. Ich dachte, ich hätte einen Zwanziger, vielleicht war es aber auch ein Zehner, o verdammt, verdammt …«
»Hey, du Arschloch!« Ein Mann streckte den Kopf aus dem Seitenfenster eines großen Pick-ups, zwei Autos hinter ihnen. »Siehst du die Ampel nicht? Mach die Straße frei!«
»Ist schon gut«, sagte Anthony und wich zurück. »Sie müssen weiterfahren.«
»Bist du taub?«, schrie der Mann. Wieder gellte die Hupe. Er schwenkte einen nackten Arm aus dem Fenster. »Mach Platz da, verdammt!«
Die Frau verrenkte den Rücken, um in den Rückspiegel zu schauen. Sie riss die Augen weit auf. »Seien Sie still!«, rief sie erbittert und schlug mit den Fäusten auf das Lenkrad. »Mein Gott, seien Sie doch still!«
»Lady, fahren Sie Ihren Scheißwagen aus dem Weg!«
»Ich wollte Ihnen etwas geben. Mehr wollte ich nicht. Ich wollte doch nur helfen …«
Carter begriff, dass es Zeit war, zu verduften. Er wusste, was als Nächstes kommen würde: Eine Autotür würde auffliegen, wütende Schritte kämen heran, ein Männergesicht, dicht vor ihm, zähnefletschend – Belästigst du die Lady? Was fällt dir ein, Junge? –, und dann noch mehr Männer, keine Ahnung, wie viele, es waren immer viele in solch einem Moment, und was immer die Frau sagen würde, sie würde ihm nicht helfen können, denn sie würden sehen, was sie sehen wollten: einen schwarzen Mann und eine weiße Frau mit einem Babysitz und einer Einkaufstüte und mit einer offenen Brieftasche auf dem Schoß.
»Bitte«, sagte er, »Lady, Sie müssen weiterfahren.«
Die Tür des Pick-ups öffnete sich und spuckte einen massigen, rotgesichtigen Mann in Jeans und T-Shirt aus. Seine Hände waren so groß wie Baseballhandschuhe. Er würde Carter zerquetschen wie eine Wanze.
»Hey!«, schrie er und streckte den Zeigefinger aus. Seine dicke runde Gürtelschnalle glänzte in der Sonne. »Du da!«
Die Frau hob den Blick zum Rückspiegel und sah, was Carter sah: Der Mann hatte eine Pistole. »O mein Gott! O mein Gott!«, schrie sie.
»Er will den Wagen klauen! Der kleine Nigger klaut ihr den Wagen!«
Carter war starr vor Schreck. Alles brach jetzt über ihn herein – ein wütendes Tosen, die ganze Welt hupte und brüllte und wollte sich auf ihn stürzen, wollte ihn endlich ergreifen. Die Frau langte hastig zur Beifahrertür und stieß sie auf.
»Steigen Sie ein!«
Er konnte sich nicht von der Stelle rühren.
»Machen Sie schon!«, schrie sie. »Steigen Sie ein!«
Und aus irgendeinem Grund gehorchte er. Er ließ sein Pappschild fallen, sprang in den Wagen und schlug die Tür zu, und die Frau trat das Gaspedal durch und überfuhr die Ampel, die inzwischen wieder auf Rot gesprungen war. Autos schleuderten links und rechts an ihnen vorbei, als sie über die Kreuzung schossen. Eine Sekunde lang war Carter sicher, dass es krachen würde, und er schloss die Augen und machte sich auf den Zusammenstoß gefasst. Aber nichts passierte; alle wichen ihnen aus.
Es war völlig irre, dachte er. Sie jagten unter der Brücke hervor in den Sonnenschein. Die Frau fuhr so schnell, dass es aussah, als habe sie ihn ganz vergessen. Sie überfuhren ein Bahngleis, und der Denali machte einen solchen Satz, dass Carters Kopf ans Wagendach stieß. Auch die Frau schien es durchzuschütteln, denn sie trat viel zu heftig auf die Bremse, sodass er nach vorn gegen das Armaturenbrett flog. Dann riss sie das Lenkrad herum und fuhr auf den Parkplatz vor einer Reinigung und einem Shipley’s Doughnuts. Ohne Anthony anzusehen oder ein Wort zu sagen, ließ sie den Kopf auf das Lenkrad sinken und fing an zu weinen.
Er hatte noch nie eine weiße Frau weinen sehen, nicht aus der Nähe, außer im Kino und im Fernsehen. Im dicht verschlossenen Innenraum des Denali konnte er ihre Tränen riechen; sie rochen wie schmelzendes Wachs. Auch der saubere Duft ihrer Haare drang ihm in die Nase. Dann merkte er, dass er auch sich selbst riechen konnte, was er schon lange nicht mehr getan hatte, und der Geruch war nicht gut. Er war übel, wirklich übel, wie verdorbenes Fleisch und saure Milch, und er schaute an sich herunter auf seine schmutzigen Hände und Arme und das T-Shirt und die Jeans, die er schon seit vielen Tagen trug, und er schämte sich.
Nach einer Weile hob sie den Kopf vom Steuer und wischte sich mit dem Handrücken die Nase. »Wie heißen Sie?«
»Anthony.«
Einen Moment lang fragte er sich, ob sie ihn jetzt schnurstracks zur Polizei fahren würde. Der Wagen war so sauber und neu, dass er sich darin vorkam wie ein großer, schmieriger Fleck. Aber wenn ihr der Gestank unangenehm war, ließ sie es sich nicht anmerken.
»Ich kann hier aussteigen«, sagte er. »Tut mir leid, dass ich Ihnen solchen Ärger gemacht hab.«
»Sie? Sie haben doch gar nichts getan.« Sie atmete tief durch, legte den Kopf nach hinten an die Kopfstütze und schloss die Augen. »O Gott, mein Mann wird mich umbringen. O Gott, o Gott. Rachel, was hast du dir nur dabei gedacht?«
Anscheinend war sie wütend, und vermutlich wartete sie darauf, dass er einfach ausstieg. Sie waren nur vier Blocks nördlich der Richmond Street; von dort konnte er mit dem Bus zu seinem Schlafplatz zurückfahren, einem Brachgrundstück unten am Westpark Drive, neben dem Recycling Center. Es war ein guter Platz; er hatte da nie Ärger, und wenn es regnete, ließen die Leute von der Müllsammelstelle ihn in einer der leeren Garagen schlafen. Er hatte etwas mehr als zehn Dollar bei sich, ein paar Scheine und Kleingeld vom Vormittag unter der 610 – genug, um nach Hause zu fahren und sich etwas zu essen zu kaufen.
Er legte die Hand an die Tür.
»Nein«, sagte sie rasch. »Steigen Sie nicht aus.« Sie drehte sich zu ihm um. Ihre Augen waren verquollen vom Weinen. Forschend sah sie ihn an. »Sie müssen mir sagen, ob Sie das ernst meinen.«
Carter wusste nicht, wovon sie redete.
»Was Sie da auf Ihr Schild geschrieben haben. Was Sie gesagt haben. Gott segne Sie. Ich habe gehört, wie Sie es sagten. Denn die Sache ist die« – sie wartete nicht auf seine Antwort –, »ich habe nicht das Gefühl, gesegnet zu sein, Anthony.« Sie lachte gehetzt, sodass er eine Reihe von kleinen, perlweißen Zähnen sah, und dann senkte sie den Blick. »Ist das nicht merkwürdig? Ich sollte es eigentlich, aber ich tue es nicht. Ich fühle mich schrecklich. Ich fühle mich andauernd schrecklich.«
Carter wusste nicht, was er sagen sollte. Wieso fühlte eine weiße Lady wie sie sich schrecklich? Aus den Augenwinkeln sah er den leeren Kindersitz mit der bunten Spielzeugsammlung auf dem Rücksitz, und er fragte sich, wo das Kind jetzt war. Vielleicht sollte er irgendetwas darüber sagen – wie schön es für sie sein müsse, ein Baby zu haben. Die Leute hatten gern Kinder, nach seiner Erfahrung, vor allem die Frauen.
»Ist nicht so wichtig«, sagte die Frau. Sie starrte mit leerem Blick durch die Frontscheibe zu dem Doughnut-Laden hinüber. »Ich weiß, was Sie denken. Sie brauchen nichts zu sagen. Wahrscheinlich komme ich Ihnen vor wie eine Verrückte.«
»Sie kommen mir ganz okay vor.«
Sie lachte wieder verbittert. »Ja, das ist es eben, nicht wahr? Das ist es ja gerade. Ich wirke ganz okay. Da können Sie jeden fragen. Rachel Wood hat alles, was ein Mensch sich wünschen kann. Rachel Wood wirkt völlig okay.«
Eine Weile saßen sie einfach so da. Die Frau weinte leise und starrte ins Leere, und Carter fragte sich immer noch, ob er besser aussteigen sollte. Aber die Lady war ganz verstört, und es wäre nicht in Ordnung, sie so allein zu lassen. Wollte sie, dass er Mitleid mit ihr hatte? Rachel Wood: Vermutlich war das ihr Name, und sie redete von sich selbst. Aber sicher war er nicht. Vielleicht war Rachel Wood auch eine Freundin von ihr, oder jemand, der auf ihr Baby aufpasste. Früher oder später würde er verschwinden müssen, das war klar. Die Stimmung, in der sie jetzt war, würde vergehen, und dann würde sie begreifen, dass sie sich für diesen stinkenden Nigger, der da in ihrem Auto saß, beinahe hätte erschießen lassen. Aber vorläufig genügten die kühle Luft aus dem Gebläse am Armaturenbrett und das seltsame, traurige Schweigen der Frau, um ihn sitzen bleiben zu lassen.
»Wie heißen Sie mit Nachnamen, Anthony?«
Er konnte sich nicht erinnern, dass ihm jemals irgendjemand diese Frage gestellt hatte. »Carter«, sagte er.
Was sie als Nächstes tat, überraschte ihn mehr als alles andere bisher. Sie drehte sich auf dem Sitz herum, schaute ihm offen ins Gesicht und reichte ihm die Hand.
»Na«, sagte sie, und ihre Stimme hatte immer noch einen traurigen Unterton, »freut mich, Mr Carter. Ich bin Rachel Wood.«
Mr Carter. Das gefiel ihm. Ihre Hand war klein, aber ihr Händedruck war fest wie der eines Mannes. Er fühlte … Doch er fand kein Wort dafür. Er achtete darauf, ob sie sich die Hand abwischte, aber das versuchte sie gar nicht.
»O mein Gott!« Verblüfft riss sie die Augen auf. »Mein Mann kriegt einen Herzinfarkt. Sie dürfen ihm nicht erzählen, was passiert ist. Das meine ich ernst. Sie dürfen es keinesfalls erzählen.«
Carter schüttelte den Kopf. »Ich sag nichts.«
»Ich meine, es ist ja nicht seine Schuld, dass er ein so komplettes und totales Arschloch ist. Er wird es nur einfach nicht so sehen wie wir. Sie müssen es mir versprechen, Mr Carter.«
»Ich sag nichts.«
»Gut.« Sie nickte munter und zufrieden und schaute wieder nach vorn aus dem Fenster. Dann legte ihre glatte Stirn sich nachdenklich in Falten. »Doughnuts. Ich weiß nicht, warum ich ausgerechnet hier angehalten habe. Sie wollen wahrscheinlich keine Doughnuts, oder?«
Das bloße Wort überflutete seinen Mund mit Speichel, und sein Magen knurrte. »Doughnuts sind okay«, sagte er. »Der Kaffee ist gut.«
»Aber das ist kein richtiges Essen, oder?« Ihre Stimme klang fest; sie hatte einen Entschluss gefasst. »Was Sie brauchen, ist ein richtiges Essen.«
In dem Moment begriff Carter, was das Gefühl war: Er fühlte sich gesehen. Als wäre er bisher ein Geist gewesen, ohne es zu wissen. Sie wollte ihn offensichtlich mitnehmen. Sie wollte ihn mit nach Hause nehmen. Er hatte von Leuten wie ihr gehört, aber er hatte es nie geglaubt.
»Wissen Sie, Mr Carter, ich glaube, Gott hat Sie heute aus einem bestimmten Grund unter die Hochstraße gestellt. Ich glaube, er wollte mir etwas sagen.« Sie legte den Gang ein. »Sie und ich, wir werden Freunde werden. Ich spüre es einfach.«
Und sie waren Freunde geworden, genau wie sie es gesagt hatte. Das war das Merkwürdige. Er und diese weiße Lady, Mrs Wood mit ihrem Mann – der alt genug war, um ihr Vater zu sein, auch wenn Carter ihn fast nie zu Gesicht bekam –, mit ihrem großen Haus unter den Immergrüneichen mit dem satten Rasen und den Hecken, mit ihren beiden kleinen Töchtern – da war nicht nur das Baby, sondern auch die Größere, genau wie ihre Schwester eine niedliche Maus, und beide sahen aus wie aus einem Bilderbuch. Er spürte es ganz tief im Innern, bis ins Mark: Sie waren Freunde. Sie hatte mehr für ihn getan als irgendjemand sonst. Es war, als habe sie die Tür ihres Wagens geöffnet, und dahinter war ein großes Zimmer, und in dem Zimmer waren Menschen und Stimmen, die ihn beim Namen nannten, wenn sie mit ihm sprachen, und Essen und ein Bett zum Schlafen und alles andere. Sie hatte ihm Arbeit gegeben, nicht nur in ihrem Garten, sondern auch in anderen Häusern, und überall, wo er hinkam und den Rasen mähte, nannten die Leute ihn »Mr Carter« und fragten ihn, ob er heute vielleicht noch eine Kleinigkeit extra erledigen könnte, weil sie Besuch bekämen: das Laub von der Terrasse blasen oder Stühle lackieren oder den verstopften Gully sauber machen oder sogar ab und zu den Hund ausführen. Mr Carter, ich weiß, Sie haben viel zu tun, aber wenn es Ihnen nicht allzu viele Umstände macht, könnten Sie dann nicht …? Und er sagte immer ja, und in dem Umschlag unter der Fußmatte oder im Blumentopf waren dann jedes Mal zehn oder zwanzig Dollar mehr, ohne dass er darum bitten musste. Er mochte diese anderen Leute, aber in Wahrheit interessierten sie ihn nicht; er tat alles nur für sie. Mittwochs, am besten Tag der Woche – an ihrem Tag –, winkte sie ihm vom Fenster aus zu, wenn er den Rasenmäher aus der Gerage schob, und manchmal, sehr oft eigentlich, kam sie aus dem Haus, wenn er fertig war und aufräumte; sie legte sein Geld nicht unter die Matte wie die andern, sondern gab es ihm in die Hand, und vielleicht setzte sie sich dann noch kurz auf ein Glas Eistee mit ihm auf die Terrasse und erzählte ihm alles Mögliche aus ihrem Leben, aber sie fragte ihn auch nach seinem. Sie saßen im Schatten und unterhielten sich wie richtige Menschen. Mr Carter, sagte sie dann, Sie sind ein Gottesgeschenk. Mr Carter, ich weiß nicht, wie ich ohne Sie jemals zurechtgekommen bin. Sie sind der Puzzlestein, der noch gefehlt hat.
Er hatte sie geliebt. Das war die Wahrheit. Und es war das Geheimnis, das traurige, tragische Geheimnis bei all dem. Als er jetzt in der kalten Dunkelheit lag, spürte er, wie ihm die Tränen kamen, wie sie tief aus seiner Brust heraufstiegen. Wie konnte irgendjemand behaupten, er habe Mrs Wood etwas getan, wenn er sie doch so sehr geliebt hatte? Denn er wusste Bescheid. Er wusste, obwohl sie lächelte und lachte und zum Shoppen, zum Tennis und zum Friseur ging, war da etwas Leeres in ihr. Das hatte er schon am ersten Tag im Auto gesehen, und es hatte sein Herz angerührt, als könne er diese Leere für sie füllen, nur weil er es wollte. An den Tagen, an denen sie nicht in den Garten herauskam – was im Laufe der Zeit immer öfter vorkam –, sah er sie manchmal stundenlang auf dem Sofa sitzen. Sie ließ sogar das Baby schreien, wenn es nass oder hungrig war, und rührte keinen Finger. Es war, als sei alle Luft aus ihr entwichen. An manchen Tagen sah er sie überhaupt nicht, und dann vermutete er, dass sie sich irgendwo tief im Haus verkrochen hatte und traurig war. An solchen Tagen tat er mehr als sonst; er stutzte die Hecken oder jätete ein bisschen Unkraut auf dem Weg und hoffte, wenn er nur lange genug wartete, werde sie mit dem Tee herauskommen. Der Tee bedeutete, dass es ihr gutging, dass sie wieder einen Tag überstanden hatte, an dem sie sich schrecklich fühlte, wie sie es oft tat.
Und an jenem Nachmittag im Garten – an jenem furchtbaren Nachmittag – hatte er das größere Mädchen, Haley, allein angetroffen. Es war im Dezember, das Wetter nasskalt. Der Pool war voller Laub, und das kleine Mädchen, das in die Vorschule ging, trug die blauen Shorts ihrer Schuluniform und eine Kragenbluse und sonst gar nichts, nicht mal Schuhe, und sie saß auf der Terrasse. Sie hielt eine Puppe im Arm, eine Barbie. Ist heute denn keine Schule?, fragte Carter, und sie schüttelte den Kopf, ohne ihn anzusehen. War ihre Mama da? Daddy ist in Mexiko, sagte das Mädchen und fröstelte in der Kälte. Mit seiner Freundin. Mama wollte nicht aus dem Bett kommen.
Er ging zur Haustür, aber sie war abgeschlossen, und er läutete und rief dann zu den Fenstern hinauf. Keine Antwort. Er wusste nicht, was er mit dem kleinen Mädchen anfangen sollte, das so allein da draußen saß, aber es gab vieles, was er bei Leuten wie den Woods nicht verstand, und nicht alles, was sie taten, ergab einen Sinn für ihn. Er konnte dem Mädchen nur seinen schmutzigen alten Pullover geben. Sie nahm ihn und wickelte sich darin ein wie in eine Wolldecke. Er machte sich an die Arbeit und mähte den Rasen; er hoffte, der Lärm des Rasenmähers würde Mrs Wood aufwecken, und dann würde ihr einfallen, dass ihr kleines Mädchen allein draußen auf der Terrasse war und dass sie aus Versehen die Tür abgeschlossen hatte. Mr Carter, ich weiß nicht, wie das passieren konnte, ich bin irgendwie eingeschlafen, Gott sei Dank, dass Sie hier waren.
Er mähte den Rasen zu Ende, und das Mädchen saß still mit seiner Puppe da und sah ihm zu, und dann holte er den Skimmer aus der Garage, um den Pool zu reinigen. Und da fand er sie am Rande des Gartenwegs: eine kleine Kröte. Nicht größer als ein Penny. Es war ein Glück, dass er sie nicht mit dem Rasenmäher erwischt hatte. Er bückte sich und hob sie auf; sie wog nichts in seiner Hand. Hätte er sie nicht mit eigenen Augen gesehen, hätte er gesagt, seine Hand sei leer, so leicht war sie. Vielleicht lag es daran, dass das kleine Mädchen ihn von der Terrasse aus beobachtete oder dass Mrs Wood im Haus hinter ihm schlief – aber in diesem Augenblick hatte er das Gefühl, die kleine Kröte könnte alles irgendwie in Ordnung bringen, dieses winzige Ding da im Gras.
Komm mal her, sagte er zu dem Kind. Komm her, ich muss dir was zeigen. Ein kleines Baby, Miss Haley. Ein kleines Ding wie du.
Er drehte sich um und sah Mrs Wood; sie stand hinter ihm im Garten keine drei Schritte entfernt. Sie musste zur Vordertür herausgekommen sein, denn er hatte nichts gehört. Sie trug ein großes T-Shirt, wie ein Nachthemd, und ihr Haar stand wirr um den Kopf herum.
Mrs Wood, sagte er, da sind Sie ja, schön, dass Sie auf sind. Ich zeige Haley gerade eine –
Gehen Sie weg von ihr!
Aber das war nicht Mrs Wood, nicht die, die er kannte. Ihr Blick war wild und verrückt. Sie sah aus, als wüsste sie nicht, wer sie war.
Mrs Wood, ich will ihr doch nur was Schönes –
Gehen Sie weg! Weg! Lauf, Haley, lauf!
Und bevor er noch ein Wort sagen konnte, gab sie ihm einen Stoß, mit aller Kraft. Er stolperte rückwärts und blieb mit dem Fuß an dem Skimmer hängen, den er am Pool liegen gelassen hatte. Reflexhaft streckte er die Hand aus, und seine Finger krallten sich in ihr T-Shirt. Er spürte, wie sein Gewicht sie mitriss, und er konnte nichts mehr tun. So fielen sie ins Wasser.
Das Wasser. Es traf ihn wie eine Faust und füllte seine Nase und seine Augen und seinen Mund mit einem scheußlichen Chemikaliengeschmack wie der Atem eines Dämonen. Sie war unter und über ihm und um ihn herum, als sie untergingen, und ihre Arme und Beine verhedderten sich ineinander wie in einem Netz. Er wollte sich befreien, doch sie hielt ihn fest und zog ihn immer weiter hinunter. Er konnte nicht schwimmen, keinen einzigen Zug; er konnte irgendwie daherdümpeln, wenn es sein musste, aber selbst das machte ihm Angst, und er hatte nicht die Kraft, sie mitzuziehen. Er reckte den Kopf, um an die glänzende Wasseroberfläche zu gelangen, wo die Luft anfing, aber sie hätte ebenso gut eine Meile weit weg sein können. Die Frau zog ihn hinunter in eine Welt der Stille, als wäre der Pool ein umgedrehtes Stück Himmel – und da kapierte er es: Genau dahin wollte sie. Dahin hatte sie die ganze Zeit gewollt, seit jenem Tag unter der Autobahnüberführung, als sie angehalten und nach seinem Namen gefragt hatte. Was immer sie in der anderen Welt, in der dort über dem Wasser, gehalten haben mochte, jetzt war es endlich gerissen wie die Schnur eines Windvogels. Die Welt stand auf dem Kopf, und jetzt stürzte der Windvogel ab. Sie zog ihn in ihre Arme, drückte ihr Kinn an seine Schulter, und eine Sekunde lang sah er ihre Augen in den Strudeln des Wassers, sah die furchtbare, endgültige Dunkelheit darin. O bitte, lassen Sie mich doch. Ich sterbe, wenn Sie wollen, dachte er, ich sterbe für Sie, wenn Sie mich darum bitten. Lassen Sie mich an Ihrer Stelle sterben. Er brauchte nur einzuatmen. Das wusste er so genau, wie er seinen eigenen Namen kannte. Aber so sehr er es auch versuchte, er brachte es nicht über sich. Er hatte sein Leben schon zu lange, um es durch reine Willenskraft aufzugeben. Mit einem weichen Stoß landeten sie auf dem Grund. Mrs Wood hielt ihn immer noch fest, und er fühlte, wie ihre Schultern zuckten, als sie das erste Mal einatmete. Dann tat sie es noch einmal, und ein drittes Mal, und die letzten Luftblasen aus ihrer Lunge schwebten an seinem Ohr vorbei wie ein geflüstertes Geheimnis – Gott segne Sie, Mr Carter –, und dann ließ sie ihn los.
Er wusste nicht mehr, wie er aus dem Pool gekommen war oder was er zu dem kleinen Mädchen gesagt hatte. Sie weinte laut, und dann hörte sie auf. Mrs Wood war tot, ihre Seele war längst fort, lediglich ihr leerer Körper trieb langsam an die Oberfläche und fand seinen Platz zwischen dem schwimmenden Laub, das er hatte abschöpfen wollen. Das alles hatte etwas Friedliches, den schrecklichen Frieden eines gebrochenen Herzens – wie etwas, das zu lange gedauert und schließlich doch zum Ende gefunden hatte. Und es war, als habe er angefangen, wieder zu verschwinden. Stunden oder Minuten mochten vergangen sein, als die Nachbarin und dann die Polizei kam, aber inzwischen wusste er, dass er keiner Menschenseele erzählen würde, was passiert war, was er gesehen und gehört hatte. Es war ein Geheimnis, das sie ihm anvertraut hatte, das letzte Geheimnis: wer sie war. Und er musste es bewahren.
Carter entschied, dass es in Ordnung war, was jetzt mit ihm passieren würde. Vielleicht hatte Wolgast gelogen, vielleicht auch nicht, aber Carters Lebenswerk war zu Ende, das wusste er jetzt. Niemand würde ihn noch einmal nach Mrs Wood fragen. Sie war jetzt nur noch etwas in seinem Kopf, als sei ein Teil von ihr mit diesem Flüstern in ihn übergegangen. Davon brauchte er niemandem etwas zu erzählen.
Ein Zischen durchbrach die Stille um ihn herum; es klang, als fahre die Luft aus einem Autoreifen, und ein einzelnes grünes Licht erschien an der gegenüberliegenden Wand, wo vorher ein rotes gewesen war. Eine Tür schwang auf, tauchte den Raum in fahles bläuliches Licht. Carter sah jetzt, dass er auf einer fahrbaren Trage lag und ein Krankenhaushemd trug. Die Kanüle mit dem Schlauch steckte immer noch in seiner Hand, und als er einen Blick auf die Nadel warf, die unter dem Pflaster seine Haut verzerrte, tat es plötzlich wieder scheußlich weh. Der Raum war größer, als er vermutet hatte. Überall waren weiße Oberflächen außer dort, wo die Tür sich geöffnet hatte, und den Apparaten an der Wand gegenüber, die anders aussahen als alles, was er kannte.
Eine Gestalt stand in der Tür.
Er schloss die Augen und ließ sich wieder zurücksinken. In Ordnung, dachte er. Alles in Ordnung. Ich bin bereit. Sollen sie kommen.
»Wir haben ein Problem.«
Es war kurz nach zehn. Sykes stand in Richards’ Bürotür.
»Ich weiß«, sagte Richards. »Ich bin schon dran.«
Das Problem war das Mädchen ohne Namen. Sie hatte jetzt einen Namen. Richards hatte die Nachricht kurz nach neun über den allgemeinen Informationsdienst der Polizeibehörden erhalten. Die Mutter des Mädchens stand im Verdacht, jemanden erschossen zu haben, irgendeine Sache vor dem Haus einer Studentenverbindung; der Junge, den sie erschossen hatte, war der Sohn eines Bundesrichters. Die Waffe, die sie am Tatort zurückgelassen hatte, hatte die örtliche Polizei zu einem Motel in der Nähe von Graceland geführt, wo der Manager – dessen Vorstrafenregister zwei Seiten füllte – das Mädchen anhand eines Fotos identifiziert hatte, das die Cops in dem Konvent von ihr aufgenommen hatten, in dem die Mutter sie zurückgelassen hatte. Die Nonnen hatten ihre Aussage gemacht und noch etwas anderes berichtet, womit Richards nichts anfangen konnte – es ging um irgendeinen Zwischenfall im Zoo von Memphis –, bevor eine von ihnen Doyle und Wolgast auf einem Überwachungsvideo erkannte, das in der Nacht zuvor an der I-55 am Checkpoint südlich von Memphis aufgenommen worden war. Das Lokalfernsehen hatte die Story rechtzeitig zu den Abendnachrichten erwischt, als die Fahndung nach dem entführten Kind herausgegangen war.
Im Handumdrehen suchte die ganze Welt nach zwei FBI-Agenten und einem kleinen Mädchen namens Amy Bellafonte.
»Wo sind sie jetzt?«, fragte Sykes.
Richards rief die Satellitenübertragung auf seinen Bildschirm und steuerte den Viewer auf die Staaten zwischen Tennessee und Colorado. Der Sender steckte in Wolgasts BlackBerry. Richards zählte achtzehn Hotpoints in dieser Region und fand dann denjenigen, der zu Wolgasts Tracking-ID gehörte.
»In West-Oklahoma.«
Sykes stand hinter ihm und schaute ihm über die Schulter. »Glauben Sie, er weiß es schon?«
Richards zoomte näher heran.
»Ich würde sagen, ja.« Er zeigte Sykes die ankommenden Daten.
Zielgeschwindigkeit 102 km/h.
Dann, einen Augenblick später:
Zielgeschwindigkeit 112 km/h.
Sie waren jetzt auf der Flucht. Richards würde sie holen müssen. Örtliche Polizeibehörden waren im Spiel, vielleicht auch die State Police. Es würde unangenehm werden, immer vorausgesetzt, dass er es überhaupt rechtzeitig schaffte. Der Hubschrauber aus Fort Carson war bereits unterwegs; Sykes hatte ihn angefordert.
Sie nahmen die Hintertreppe nach E1 im Laufschritt und traten hinaus, um zu warten. Nach Sonnenuntergang war es wärmer geworden. Dichter Nebel stieg in lockeren Spiralen unter den Lampen des Parkplatzes in die Höhe wie der Trockeneisdampf bei einem Rockkonzert. Sie standen schweigend nebeneinander; es gab nichts zu sagen. Die Situation war mehr oder weniger komplett im Arsch. Richards dachte an das Foto, das jetzt in allen Nachrichten gesendet wurde. Amy Bellafonte: schöne Quelle. Schwarzes Haar, das glatt auf ihre Schultern fiel – es sah feucht aus, als sei sie durch den Regen gegangen –, und ein glattes, kindliches Gesicht, die Wangen noch ein wenig gerundet vom Babyspeck, aber unter den Brauen dunkle Augen von wissender Tiefe. Sie trug Jeans und eine bis zum Hals geschlossene Sweatshirtjacke, und in der einen Hand hielt sie irgendein Spielzeug, ein Plüschtier. Vielleicht war es ein Hund. Aber die Augen – die Augen waren das, was Richards immer wieder in den Sinn kam. Sie schauten direkt in die Kamera, als wollten sie sagen: Siehst du? Was dachtest du, was ich bin, Richards? Dachtest du, niemand auf der Welt liebt mich?
Eine Sekunde lang, nur eine Sekunde lang, dachte er es. Es streifte ihn wie ein Flügelschlag: der Wunsch, er wäre ein anderer Mensch und der Ausdruck im Blick eines Kindes sagte ihm etwas.
Fünf Minuten später hörten sie den Hubschrauber, eine pulsierende Erscheinung, die tief über der Baumreihe im Südosten hereinschwebte. Er flog eine einzelne, suchende Kehre und zog einen Kegel aus blendendem Licht hinter sich her, und dann senkte er sich mit balletthafter Präzision auf den Parkplatz herunter, und die Rotorblätter drückten eine Welle von bebender Luft unter sich her. Ein UH-60 Blackhawk mit voller Bewaffnung, ausgerüstet für nächtliche Aufklärungsflüge. Das schien eine Menge zu sein – für ein einziges kleines Mädchen. Aber in dieser Situation blieb ihnen nichts anderes übrig. Sie hielten die Hände vor das Gesicht, um sich vor Wind und Lärm und wirbelndem Schnee zu schützen.
Als der Hubschrauber landete, griff Sykes nach Richards Ellenbogen.
»Sie ist ein Kind!«, schrie er über das Getöse hinweg. »Machen Sie es richtig!«
Was immer das heißen mochte, dachte Richards und ging zielstrebig davon, auf die offene Luke zu.