22

»Ich verstehe nur eins nicht«, sagte Theo. »Warum seid ihr drei nicht tot?«

Sie saßen an dem langen Tisch im Kontrollraum – alle außer Finn und Rey, die sich bereits schlafen gelegt hatten. Peters Adrenalinrausch war verflogen und der Schmerz im Knöchel zu einem dumpfen Pochen geworden. Jemand hatte einen Brocken Eis von den Kondensatoren geschlagen, und Peter hielt ihn sich jetzt, eingewickelt in einen durchfeuchteten Lappen, auf das verstauchte Fußgelenk.

Die Tatsache, dass er soeben Zander Phillips getötet hatte, einen Mann, den er gekannt hatte, weckte in ihm noch keine Regung, für die er einen Namen gehabt hätte. Diese Erkenntnis war einfach so seltsam, dass er sie nicht verarbeiten konnte. Zander hatte den Schlüssel um den Hals getragen, und deshalb bestand kein Zweifel daran, dass er es war. Natürlich hatte Peter keine Wahl gehabt. Der Mann war vollständig verwandelt gewesen. Strenggenommen war der Viral, der da versucht hatte, durch die Luke einzudringen, nicht mehr Zander Phillips gewesen. Dennoch wurde Peter das Gefühl nicht los, kurz vor dem Abdrücken so etwas wie ein Wiedererkennen in den Augen des Virals gesehen zu haben – oder gar Erleichterung.

Später fragte Theo Caleb ganz genau aus. Die Geschichte des Jungen war ein wenig ungereimt, aber das konnte auch daran liegen, dass er zu lange draußen unter freiem Himmel gewesen war. Seine Lippen waren geschwollen und rissig, er hatte einen großen violetten Bluterguss an der Stirn, und seine Füße waren zerschnitten. Der Verlust seiner Schuhe schien ihn am meisten zu schmerzen. Es waren schwarze Nike Push-Offs gewesen, erzählte er, nagelneu mit Karton aus dem Footlocker in der Mall. Bei seinem Sprint quer durch das Tal hatte er sie irgendwie verloren, aber er hatte solche Angst gehabt, dass er es kaum bemerkt hatte.

»Wir besorgen dir ein neues Paar«, versprach Theo. »Aber jetzt erzähl mir von Zander.«

Caleb aß, während er redete. Er biss in seinen Zwieback und spülte ihn mit großen Schlucken Wasser herunter. Alles sei ganz normal gewesen, berichtete er, bis vor ungefähr sechs Tagen, als Zander angefangen habe, sich … sonderbar zu benehmen. Sehr sonderbar. Selbst für Zanders Verhältnisse, und das wollte etwas heißen. Er wollte nicht mehr vor den Zaun hinausgehen, und er schlief nicht mehr. Die ganze Nacht hindurch war er auf, ging im Kontrollraum auf und ab und murmelte vor sich hin. Caleb hatte angenommen, er sei einfach zu lange im Einsatz gewesen, und wenn die Ablösung käme, würde er schon wieder zu sich kommen.

»Und dann verkündete er plötzlich, wir müssten raus aufs Turbinenfeld, und ich soll den Karren holen und alles bereit machen. Ich sitze da und esse meinen Lunch, und er kommt einfach reinmarschiert und sagt: Los, mach schon. Er will einen Regler im westlichen Sektor auswechseln. Okay, sage ich, aber ist das so dringend? Ist es nicht ein bisschen spät, um noch rauszugehen? Er hatte so ein irres Glitzern im Blick, und er roch übel. Ich meine, er stank. Alles okay, frage ich, und er sagt, pack den Kram zusammen, wir gehen.«

»Wann war das?«

Caleb schluckte. »Vor drei Tagen.«

Theo beugte sich vor. »Ihr wart drei Tage draußen?«

Caleb nickte. Er hatte seinen Zwieback aufgegessen und machte sich mit den Fingern über einen Teller Sojabohnenpaste her. »Wir ziehen also mit dem Maultier los, aber jetzt kommt’s. Wir gehen nicht zum westlichen Feld. Wir gehen zum östlichen Feld. Da draußen funktioniert seit Jahren nichts mehr. Lauter tote Masten. Und man braucht ewig, um da hinzukommen. Mindestens zwei Stunden mit dem Karren. Es ist schon nach Halbtag, es wird also knapp. Ich sage: Zander, nach Westen geht’s da lang, Kumpel, was zum Teufel machen wir hier draußen? Willst du, dass wir umgebracht werden? Dann kommen wir zu dem Mast, den er angeblich reparieren will, und das Ding ist Schrott. Komplett hinüber. Das sehe ich schon von unten. Den Regler auszutauschen hat überhaupt keinen Sinn. Aber das will er machen. Also schleppe ich meinen Arsch die Leiter rauf und setze den Schlüssel an und fange an, das alte Gehäuse abzumontieren, und ich arbeite, so schnell ich kann. Okay, denke ich, das leuchtet nicht ein, und soweit ich es übersehe, riskieren wir hier unseren Hals wegen nichts. Aber vielleicht weiß er was, was ich nicht weiß. Und da hörte ich den Schrei.«

»Zander hat geschrien?«

Caleb schüttelte den Kopf. »Das Maultier. Ich mein’s ernst – genauso hat es geklungen. So was habe ich noch nie gehört. Als ich runterschaute, kippte es einfach um, ging zu Boden wie ein Sack Steine. Hat ’ne Sekunde gedauert, bis ich begriffen habe, was ich da sah. Blut. Und zwar eine Menge.« Er wischte sich mit dem Handrücken über den fettigen Mund und schob den leeren Teller zur Seite. »Zander hat immer gesagt, diese Sojapaste schmeckt, wie wenn du einem am Sack lutschst. Ich so: Wann hast du denn mal einem am Sack gelutscht, Zander? Als ob ich das wirklich wissen wollte.«

Theo seufzte ungeduldig. »Caleb, bitte. Das Blut …«

Caleb trank einen großen Schluck Wasser. »Ja, okay, also. Das Blut. Zander kniet bei der Stute, und ich schreie, hey, Zander, was ist passiert? Einen Moment lang tut er gar nichts, er kauert am Boden neben ihrem Kopf, und ich kann nicht sehen, was da los ist. Und als er aufsteht, sehe ich, er ist nackt bis zum Gürtel, er hat ein Messer in der Hand, und er ist voller Blut. Irgendwie habe ich die Zeichen übersehen, und ich denke, ich habe ungefähr fünf Sekunden, bis er die Leiter zu mir raufkommt. Aber das tut er nicht. Er setzt sich unten an den Mast, in den Schatten einer Strebe, wo ich ihn nicht sehen kann. Zander, schreie ich zu ihm runter, hör zu. Du musst dagegen ankämpfen. Ich bin ganz allein hier oben. Ich denke mir, wenn ich ihn irgendwie ablenken kann, schaffe ich es vielleicht abzuhauen.«

»Das verstehe ich nicht.« Alicia runzelte die Stirn. »Wann könnte er sich denn infiziert haben?«

»Das ist es ja«, sagte Caleb. »Das konnte ich mir auch nicht erklären. Ich war ja Tag für Tag ungefähr jede Minute mit ihm zusammen.

»Und nachts?«, fragte Theo. »Du sagst, er hat nicht geschlafen. Vielleicht war er draußen.«

»Wäre möglich. Aber warum sollte er? Außerdem, er sah eigentlich nicht verändert aus, abgesehen von dem Blut.«

»Was war mit seinen Augen?«

»Nichts. Keine Orangefärbung, soweit ich sehen konnte. Ich sage euch, es war unheimlich. Ich hocke also oben auf dem Mast, Zander ist unten, vielleicht befallen, vielleicht nicht, aber so oder so wird es irgendwann dunkel. Zander, schreie ich, hör zu, ich komme jetzt runter, egal wie. Ich bin nicht bewaffnet, ich habe nur den Schraubenschlüssel, aber vielleicht kann ich ihm damit eins überbraten und verschwinden. Und irgendwie muss ich ihm auch den Torschlüssel abnehmen. Von der Leiter aus kann ich ihn nicht sehen, und als ich drei Meter über dem Boden bin, denke ich, scheiß drauf, ich springe einfach. Ich habe nichts mehr zu verlieren, tot bin ich sowieso. Ich lasse mich fallen, komme wieder hoch und hole mit dem Schraubenschlüssel aus. Aber da ist er schon weg. Zander hat ihn mir glatt aus der Hand gerissen, und er steht hinter mir. Und dann sagt er: Steig wieder rauf.«

»Wieder rauf?« Das war Arlo.

Caleb nickte. »Kein Witz. Das hat er gesagt. Und wenn er dabei war, rüberzuticken, konnte ich es immer noch nicht erkennen. Aber er hat das Messer in der einen Hand, den Schraubenschlüssel in der andern, er ist überall voll Blut, und ohne den Torschlüssel kann ich nicht zurück. Ich frage ihn, was soll das heißen, steig wieder rauf? Und er sagt, oben auf dem Mast bist du sicher. Also bin ich wieder raufgestiegen.« Caleb zuckte die Achseln. »Und da oben habe ich drei Tage gesessen, bis ich euch auf der Straße dort gesehen habe.«

Peter sah seinen Bruder an, aber Theo wusste anscheinend auch nicht, was er von dieser seltsamen Geschichte halten sollte. Was hatte Zander vorgehabt? War er schon befallen gewesen oder noch nicht? Es war viele Jahre her – länger, als die Lebenden sich erinnern konnten –, dass jemand das Anfangsstadium der Infektion mit eigenen Augen gesehen hatte. Doch es gab jede Menge Geschichten, vor allem aus der Anfangszeit, aus der Zeit der Walker, Geschichten über bizarres Verhalten. Nicht nur über den Blutdurst und das spontane Entkleiden, das alle kannten. Seltsame Äußerungen, öffentliche Reden, manische Wahnsinnstaten. Ein Walker, erzählte man sich, war ins Lagerhaus eingebrochen und hatte sich dort regelrecht zu Tode gefressen. Ein anderer hatte seine Kinder in ihrem Bett umgebracht und sich dann selbst angezündet. Und ein Dritter hatte sich nackt ausgezogen, war vor den Augen der Wache auf die Mauer hinaufgestiegen und hatte aus voller Lunge zuerst die Gettysburgh Address – die in einem der Klassenzimmer in der Zuflucht an der Wand hing – aufgesagt und dann fünfundzwanzig Strophen von »Row Row Row Your Boat« gesungen, bevor er sich zwanzig Meter in die Tiefe stürzte.

»Und die Smokes?«, fragte Theo.

»Ja, das ist das Komische. Wie Zander sagte. Da waren keine. Zumindest keine, die in meine Nähe kamen. Ab und zu nachts habe ich sie gesehen, draußen im Tal. Aber sie haben mich in Ruhe gelassen. Sie jagen nicht gern in den Turbinenfeldern. Zander dachte immer, die Propeller machen sie verrückt. Vielleicht hat das damit was zu tun. Ich weiß es nicht.« Der Junge schwieg. Peter sah, dass die Erschöpfung nach diesen Strapazen ihn übermannte. »Als ich mich dran gewöhnt hatte, war es sogar ganz friedlich. Zander habe ich danach nicht mehr gesehen. Ich konnte ihn hören, wie er unten am Mast herumschlurfte. Aber er hat mir nie geantwortet. Da dachte ich, am besten warte ich, bis die Ablösung da ist, und versuche dann, irgendwie wegzukommen.«

»Und dann hast du uns gesehen.«

»Glaub mir, ich habe mir die Lunge aus dem Hals geschrien, aber ihr wart wahrscheinlich zu weit weg, um mich zu hören. Zander war weg. Das Maultier auch, die Virals müssen es weggeschleift haben. Ich hatte kein Wasser mehr, und kein Mensch würde mich im östlichen Sektor suchen kommen. Also beschloss ich, runterzuklettern und hierherzurennen. Ungefähr einen Kilometer von hier tauchten dann plötzlich überall Smokes auf. Ich dachte, das war’s, jetzt bin ich erledigt. Ich versteckte mich unter dem Sockel eines Windrads und wartete eigentlich nur noch auf den Tod. Aber aus irgendeinem Grund blieben sie auf Abstand. Ich weiß nicht, wie lange ich da unten gelegen habe. Jedenfalls war, als ich dann rausguckte, kein Smoke weit und breit zu sehen. Ich wusste, dass das Tor inzwischen geschlossen war, aber ich dachte wohl, ich würde schon irgendwie reinkommen.«

Arlo sah Theo an. »Das kapiere ich nicht«, sagte er. »Wieso haben sie ihn in Ruhe gelassen?«

»Weil sie ihm gefolgt sind«, sagte Alicia. »Das haben wir vom Dach aus gesehen. Vielleicht wollten sie ihn als Köder benutzen, um uns hinauszulocken? Seit wann tun sie das?«

»Keine Ahnung.« Theos Miene verhärtete sich, und er saß steif auf seinem Stuhl. »Hört mal zu. Ich bin froh, dass Caleb nichts passiert ist, versteht mich da nicht falsch. Aber das war eine saudumme Aktion von euch beiden. Wenn dieses Kraftwerk vom Netz geht, wenn die Lichter ausgehen, dann war’s das für alle. Ich weiß nicht, warum ich euch das erklären muss, aber anscheinend ist es nötig.«

Peter und Alicia schwiegen. Theo hatte recht. Wenn Peters Schuss nur ein paar Zentimeter nach links oder nach rechts gegangen wäre, dann wären sie jetzt wahrscheinlich alle tot. Es war ein Glückstreffer gewesen, und das wusste er.

»Aber das alles erklärt nicht, wie Zander sich infiziert hat«, fuhr Theo fort. »Oder was er sich dabei gedacht hat, als er Caleb oben auf dem Mast in Ruhe ließ.«

»Zum Teufel damit.« Arlo schlug sich mit den flachen Händen auf die Knie. »Mich interessiert vor allem, was es mit diesen Gewehren auf sich hat. Wie viele sind es?«

»Zwölf Kisten unten an der Treppe«, sagte Alicia. »Und noch mal sechs auf dem Kriechspeicher unter dem Dach.«

»Und genau da werden sie auch bleiben«, erklärte Theo.

Alicia lachte. »Das ist nicht dein Ernst.«

»O doch. Sieh dir doch an, was beinahe passiert wäre. Kannst du ganz ehrlich behaupten, ihr wärt ohne diese Gewehre da hinausgegangen?«

»Vielleicht nicht. Aber wegen der Gewehre ist Caleb noch am Leben. Und du kannst sagen, was du willst, ich bin froh, dass wir ihn da weggeholt haben. Und das sind nicht einfach Gewehre, Theo. Die Dinger sind nagelneu.«

»Das weiß ich«, sagte Theo. »Ich habe sie gesehen. Ich weiß alles darüber?«

»Ach ja?«

Er nickte. »Selbstverständlich.«

Einen Moment lang sagte niemand etwas. Alicia beugte sich über den Tisch. »Und wem gehören sie?«

Aber Theo richtete seine Antwort an Peter. »Sie haben unserem Vater gehört.«

Und in den letzten Stunden der Nacht erzählte Theo die Geschichte. Caleb hatte sich schlafen gelegt, weil ihm vor Müdigkeit die Augen zufielen, und Arlo hatte den Schnaps herausgeholt, wie sie es manchmal nach einer Nacht auf der Mauer taten. Er goss zwei Fingerbreit in jeden Becher.

Östlich von hier liege ein alter Stützpunkt des Marine Corps, erklärte Theo, ungefähr zwei Tagesritte weit entfernt. Er heiße Twentynine Palms. Das Meiste davon ist nicht mehr da, sagte er. Fast alles versandet. Man erkennt kaum noch, dass da mal was war, wenn man nicht weiß, wo man suchen muss. Ihr Vater hatte die Waffen in einem Bunker gefunden, gut verpackt in festen Kisten und trocken. Und nicht nur Gewehre. Auch Pistolen und Mörser. Maschinengewehre und Granaten. Eine ganze Halle mit Fahrzeugen, sogar zwei Panzer. Die schweren Waffen konnten sie nicht bewegen, und die Fahrzeuge liefen nicht mehr, aber die Gewehre hatten ihr Vater und Onkel Willem mit dem Karren zum Kraftwerk gebracht – insgesamt drei Fuhren, bis Onkel Willem gestorben war.

»Und warum hat er niemandem etwas davon erzählt?«, fragte Peter.

»Er hat es erzählt – unserer Mutter und auch ein paar anderen. Und er ist ja nicht allein geritten, weißt du. Ich nehme an, der Colonel wusste Bescheid. Wahrscheinlich auch Old Chou. Und Zander musste davon wissen, denn er hat sie hier gebunkert.«

»Aber nicht Sanjay«, warf Alicia ein.

Theo schüttelte stirnrunzelnd den Kopf. »Glaub mir, Sanjay wäre der Letzte gewesen, dem mein Vater etwas davon gesagt hätte. Nichts gegen Sanjay. Er macht einen guten Job. Aber er war immer ganz entschieden gegen die Ritte, besonders nachdem Raj getötet worden war.«

»Stimmt«, sagte Arlo. »Er war einer von den dreien.«

Theo nickte. »Ich glaube, es ist Sanjay immer gegen den Strich gegangen, dass sein Bruder mit unserem Vater reiten wollte. Ich habe es nie ganz verstanden, aber es gab aus irgendeinem lange zurückliegenden Grund böses Blut zwischen ihnen. Und nachdem Raj getötet worden war, wurde es noch schlimmer. Sanjay brachte den Haushalt gegen unseren Vater auf, wählte ihn als Oberhaupt ab und machte Schluss mit den Langen Ritten. Unser Vater zog sich zurück und fing an, allein zu reiten.«

Peter hielt den Schnapsbecher unter die Nase. Der scharfe Dunst brannte ihm in den Nasenlöchern. Er stellte den Becher wieder auf den Tisch. Es war schwer zu sagen, was ihn mehr deprimierte – dass sein Vater ihm dieses Geheimnis vorenthalten hatte, oder dass Theo es getan hatte.

»Warum haben sie die Gewehre überhaupt versteckt?«, fragte er. »Statt sie einfach auf den Berg zu bringen?«

»Und wie sollte es dann weitergehen? Überleg doch, Bruder. Wir alle haben euch da draußen gehört. Nach meiner Zählung habt ihr sechsunddreißigmal geschossen, um – wie viele? – zwei Virals zu töten? Und wie viele waren es insgesamt? Diese Gewehre hätten ungefähr eine Jahreszeit gereicht, wenn er sie einfach der Wache ausgehändigt hätte. Die Leute hätten auf ihren eigenen Schatten geschossen. Verflucht, die halbe Zeit hätten sie wahrscheinlich aufeinander geschossen. Ich glaube, davor hatte er die größte Angst.«

»Wie viele sind noch da?«, fragte Alicia.

»In dem Bunker? Ich weiß es nicht. Ich war nie da.«

»Aber du weißt, wo er ist.«

Theo nahm einen Schluck Schnaps. »Ich weiß, worauf du hinauswillst. Und du kannst gleich wieder aufhören. Unser Vater – na ja, er hatte Flausen im Kopf. Peter, das weißt du genauso gut wie ich. Er konnte einfach nicht akzeptieren, dass wir als Einzige übrig sind, dass da draußen niemand mehr ist. Er dachte, wenn er andere finden könnte, und wenn sie Gewehre hätten …« Er ließ den Satz in der Schwebe.

Alicia richtete sich auf. »Eine Armee«, sagte sie und schaute in die Runde. »Das war’s, nicht wahr? Er wollte eine Armee aufstellen. Gegen die Smokes.«

»Und das ist sinnlos«, sagte Theo, und Peter hörte die Bitterkeit in der Stimme seines Bruders. »Sinnlos und verrückt. Die Army hatte Gewehre, und was ist aus ihr geworden? Ist sie je zu uns zurückgekommen? Mit ihren Gewehren und Raketen und Hubschraubern? Nein, sie ist nicht zurückgekommen, und ich sage dir, warum nicht: Weil die Soldaten alle tot sind.«

Alicia ließ sich nicht beirren. »Ich finde die Idee trotzdem fabelhaft.«

Theo lachte bitter. »Dass es dir gefallen würde, habe ich mir gedacht.«

»Und ich glaube auch nicht, dass wir allein sind«, legte sie noch einen drauf. »Es gibt noch andere so wie wir. Irgendwo da draußen.«

»Ach ja? Warum bist du da so sicher?«

»Ich weiß nicht«, sagte sie. »Ich bin’s einfach.«

Theo starrte stirnrunzelnd in seinen Becher und ließ den Schnaps eine Weile kreisen. »Glaub, was du willst«, sagte er leise. »Dadurch wird es nicht wahr.«

»Unser Vater hat es auch geglaubt«, sagte Peter.

»Ja, das hat er, Bruder. Und es hat ihn das Leben gekostet. Ich weiß, dass wir darüber nicht sprechen, aber es ist die Wahrheit. Wenn man auf der Mauer steht, um ihm bei seiner Rückkehr den Gnadentod zu geben, wird einem so manches klar, glaub mir. Unser Vater ist nicht da rausgeritten, um seinem Leben ein Ende zu machen. Wer das glaubt, weiß nicht das Geringste über ihn. Er hat es getan, weil er die Ungewissheit einfach nicht ertragen konnte. Nicht eine Minute länger. Es war tapfer, und es war dumm, und er hat seine Antwort bekommen.«

»Er hat einen Walker gesehen. Bei Milagro.«

»Kann sein«, sagte Theo. »Wenn du mich fragst, er hat gesehen, was er sehen wollte. Und wenn schon. Was würde sich durch einen Walker ändern?«

Theos Hoffnungslosigkeit erschütterte Peter zutiefst. Sie zeugte nicht nur von Resignation, sondern erschien ihm regelrecht illoyal.

»Wo es einen gibt, gibt es auch noch andere«, beharrte Peter.

»Was es gibt, Bruder, sind die Smokes. Daran können alle Gewehre dieser Welt nichts ändern.«

Eine Zeitlang schwiegen alle. Der Gedanke hing in der Luft, unausgesprochen, aber mit Händen zu greifen. Wie viel Zeit hatten sie noch, bis die Lichter ausgingen? Bis niemand mehr die Akkus aufladen konnte?

»Das glaube ich nicht«, sagte Arlo. »Und ich kann mir nicht vorstellen, dass du so denkst, Theo. Wenn es nichts anderes mehr gibt, was hat dann das alles noch für einen Sinn?«

»Was es für einen Sinn hat?« Wieder starrte Theo in seinen Becher. »Das würde ich selber gerne wissen. Vermutlich besteht der einzige Sinn darin, am Leben zu bleiben. Die Lichter brennen zu lassen, solange wir können.« Er hob den Becher an die Lippen und trank ihn in einem Zug leer. »Apropos: Bald wird es hell, Leute. Lasst Caleb schlafen, aber weckt die andern. Wir müssen die Kadaver beseitigen.«

Es waren vier. Drei fanden sie im Hof, und einen – Zander – auf dem Dach. Er lag mit dem Gesicht nach oben auf dem Betondach neben der Luke, die nackten Gliedmaßen ausgestreckt, als habe er sich ergeben wollen. Die Kugel aus Peters Gewehr hatte seinen Kopf durchschlagen und die Schädeldecke weggerissen. Sie hing an einem Hautlappen schräg herunter. Er hatte schon angefangen, in der Morgensonne zu schrumpfen. Ein feiner grauer Dunst stieg von seiner verwesenden Haut auf.

Peter war an das Aussehen der Virals gewöhnt, aber es war immer noch verstörend, einen aus der Nähe zu sehen. Die Gesichtszüge, wie wegpoliert und zu einer fast infantilen Ausdruckslosigkeit geglättet. Die gekrümmten Hände und Füße mit ihren Greifklauen und den rasiermesserscharfen Krallen. Die kompakte Muskulatur an Gliedern und Torso und der lange, in alle Richtungen drehbare Hals. Die spitzen Zähne, dicht an dicht gedrängt wie Nadeln aus Stahl. Finn trug Gummistiefel und Handschuhe und hatte sich einen Lappen vor das Gesicht gebunden, als er mit einer Forke den Schlüssel an seiner Schnur aufhob und in einen Blecheimer fallen ließ. Sie überschütteten den Schlüssel mit Alkohol und zündeten ihn an. Dann legten sie ihn zum Trocknen in die Sonne. Was die Flammen nicht abgetötet hatte, würden die Sonnenstrahlen erledigen. Zander, steif wie ein Stück Holz, rollten sie auf eine Plastikplane, die sie dann über ihm zu einem Schlauch zusammenfalteten. Arlo und Rey schleppten ihn zur Dachkante und ließen ihn in den Hof hinunterfallen.

Als sie alle vier Leichen vor den Zaun hinausgeschleift hatten, stand die Sonne hoch und heiß am Himmel. Peter lehnte sich an ein Rohr und sah von der windabgewandten Seite her zu, wie Theo Alkohol über die Kadaver schüttete. Er kam sich nutzlos vor, doch mit seinem verstauchten Knöchel war er keine große Hilfe. Alicia stand mit einem Gewehr im Arm Wache. Caleb war inzwischen aufgewacht und zu ihnen herausgekommen. Peter sah, dass er hohe Lederstiefel trug.

»Von Zander.« Der Junge zuckte ein wenig schuldbewusst die Achseln. »Sein Extra-Paar. Ich dachte, er hat bestimmt nichts dagegen.«

Theo nahm eine Dose Schwefelhölzer aus seinem Beutel und zog die Gesichtsmaske herunter. In der anderen Hand hielt er eine Fackel. Große runde Schweißflecken durchfeuchteten sein Hemd am Hals und unter den Armen. Es war ein altes Hemd aus dem Lagerhaus. Die Ärmel waren längst verschwunden, und der Kragen war zerfranst. In die Brusttasche war in einer geschwungenen Schrift der Name Armando gestickt.

»Will noch jemand etwas sagen?«

Peter spürte, dass er es tun sollte, aber er fand keine Worte. Der Anblick der Leiche auf dem Dach hatte nichts an dem unguten Gefühl geändert, dass Zander immer noch Zander gewesen war. Aber all diese Kadaver auf dem Stapel waren einmal jemand gewesen. Vielleicht war einer von ihnen Armando.

»Okay, dann übernehme ich es.« Theo räusperte sich. »Zander, du warst ein guter Ingenieur und ein guter Freund. Du hattest nie ein böses Wort für irgendjemanden, und dafür danken wir dir. Ruhe in Frieden.« Er riss ein Streichholz an, hielt es an die Fackel, bis sie brannte, und zündete die Kadaver an.

Die Haut verbrannte schnell. Sie löste sich auf wie Papier, und dann folgte der Rest. Die Knochen fielen in sich zusammen und zerbarsten zu kleinen Aschewölkchen. Nach einer Minute war alles vorbei. Als die letzten Flammen erloschen waren, schaufelten sie die Asche in die flache Grube, die Rey und Finn ausgehoben hatten, und bedeckten sie mit einer Schicht Erde.

Sie klopften den Grabhügel fest, als Caleb plötzlich sprach. »Ich möchte nur sagen … ich glaube, er hat sich dagegen gewehrt. Er hätte mich da draußen umbringen können.«

Theo legte die Schaufel zur Seite. »Versteh mich nicht falsch«, sagte er. »Aber es macht mir Sorgen, dass er es nicht getan hat.«

In den folgenden Tagen dachte Peter immer wieder an die Ereignisse jener Nacht und ließ sie im Geiste noch einmal vorüberziehen. Nicht nur das, was auf dem Dach passiert war, und Calebs seltsame Geschichte von seinem Mast, sondern auch den verbitterten Ton seines Bruders, als sie von den Gewehren gesprochen hatten. Denn Alicia hatte recht: Diese Gewehre bedeuteten etwas. Sein Leben lang hatte Peter die Welt aus der Zeit Davor als etwas Verschwundenes betrachtet. Es war, als sei eine Messerklinge in die Zeit gefallen und habe sie in zwei Hälften zerschnitten, in das, was vorher war, und das, was danach war. Zwischen diesen Hälften gab es keine Brücke. Der Krieg war verloren, die Army gab es nicht mehr, die Welt außerhalb der Kolonie war das offene Grab einer Geschichte, an die niemand sich mehr erinnerte. Peter hatte sich nie den Kopf darüber zerbrochen, was sein Vater da draußen in der Dunkelheit eigentlich gesucht hatte. Vermutlich, weil es auf der Hand gelegen hatte: Menschen, andere Überlebende. Aber als er eins der Gewehre seines Vaters in der Hand gehalten hatte – und auch jetzt, als er in der Unterkunft lag, während sein Knöchel allmählich heilte, und sich daran erinnerte, wie es sich angefühlt hatte –, spürte er, dass da mehr war: als sei die Vergangenheit mit all ihrer Macht in ihn geflossen. Und vielleicht war es das, was sein Vater die ganze Zeit auf seinen Langen Ritten versucht hatte. Er hatte versucht, sich an die Welt zu erinnern.

Sicher hatte Theo das gewusst, sicher hatte er die Größe gekannt, die in ihm war wie in allen Männern der Langen Ritte. Peter hatte schon vor langer Zeit beschlossen, Theo nicht zu verübeln, was seine Mutter am Morgen ihres Todes gesagt hatte. Gib acht auf deinen Bruder, Theo. Er ist nicht stark wie du. Die Wahrheit war die Wahrheit, und im Laufe der Jahre hatte Peter festgestellt, dass er mit diesem Wissen über sich selbst gut leben konnte. Manchmal war es beinahe eine Erleichterung. Ihr Vater hatte ein schwieriges und verzweifeltes Unternehmen begonnen, und nichts sprach dafür, dass er recht hatte. Wenn Theo nun also diese Bürde – für sie beide – auf seine Schultern nahm, dann war es Peter mehr als recht.

Aber als er gehört hatte, wie sein Bruder zu Arlo sagte, es habe alles keinen Sinn, und ihnen bleibe nichts weiter, als die Lichter brennen zu lassen, solange es ging – wie er das ausgerechnet zu Arlo sagte, der ein Kind in der Zuflucht hatte –, da war es ein anderer Theo gewesen als der, den er kannte. Etwas in seinem Bruder hatte sich verändert. Was mochte es sein?

Sie blieben fünf Tage. Finn und Rey verbrachten den ersten Tag damit, den Elektrozaun zu reparieren, und dann gingen sie daran, auf dem westlichen Feld die Turbinen zu schmieren. Arlo, Theo und Alicia begleiteten sie paarweise abwechselnd, und sie kehrten jedes Mal lange vor Sonnenuntergang zurück, um die Anlage zu sichern. Da Peter nichts anderes zu tun hatte, spielte er Solitaire mit einem Kartenspiel, bei dem drei Karten fehlten, oder er durchstöberte eine Kiste mit bunt zusammengewürfelten Büchern im Lagerraum: Charlie und die Schokoladenfabrik, Die Geschichte des Osmanischen Reiches, Zane Greys Ritter der Weiten Wüste (Klassiker der Westernliteratur). Innen auf dem hinteren Deckel jedes Buches klebte eine Tasche aus Pappe mit der Aufschrift EIGENTUM DER RIVERSIDE COUNTY PUBLIC LIBRARY, und in der Tasche steckte eine Karte mit einer Liste von Daten in verblasster Tinte: 7. September 2014, 3. April 2012, 21. Dezember 2016.

»Wer hat die hergebracht?«, fragte er Theo eines Abends, nachdem die Gruppe vom Turbinenfeld zurückgekommen war. Ein Stapel Bücher türmte sich neben seiner Koje.

Theo stand am Waschbecken und wusch sich das Gesicht. »Ich glaube, die sind schon lange hier. Ich weiß nicht, ob Zander besonders gut lesen konnte. Deshalb hat er sie wohl ins Lager gestellt. Ist was Gutes dabei?«

Peter hielt das Buch hoch, das er gerade las: Moby Dick oder Der Wal. »Ehrlich gesagt, ich bin nicht mal sicher, ob es wirklich Englisch ist. Ich habe heute fast den ganzen Tag für eine Seite gebraucht.«

Sein Bruder lachte erschöpft. »Lass mich mal deinen Knöchel sehen«, sagte Theo und setzte sich auf die Bettkante. Behutsam nahm er Peters Fuß in beide Hände und drehte ihn im Gelenk. Seit der Nacht des Angriffs hatten die beiden kaum ein Wort miteinander gesprochen. Aber eigentlich waren alle ziemlich schweigsam.

»Na, sieht ja schon besser aus.« Theo rieb sich das Stoppelkinn. Er war hohläugig vor Erschöpfung. »Die Schwellung ist zurückgegangen. Glaubst du, du kannst reiten?«

»Ich würde kriechen, um hier rauszukommen, wenn es sein müsste.«

Am nächsten Morgen nach dem Frühstück brachen sie auf. Arlo hatte sich bereit erklärt, bei Rey und Finn zu bleiben, bis die nächste Ablösung käme. Caleb hatte auch bleiben wollen, aber Theo redete es ihm aus: Wenn Arlo hier sei, und solange sie innerhalb des Elektrozauns blieben, sei ein vierter Mann unnötig. Und Caleb habe mehr als genug getan.

Eine andere Frage betraf die Gewehre. Theo wollte sie lassen, wo sie waren, doch Alicia fand, es sei unvernünftig, sie allesamt hier zu lassen. Sie wüssten immer noch nicht, was mit Zander passiert sei und warum die Smokes Caleb nicht umgebracht hätten, obwohl sie Gelegenheit dazu gehabt hatten. Schließlich fanden sie einen Kompromiss: Sie würden bewaffnet zurückreiten, aber die Gewehre dann vor der Befestigungsmauer verstecken. Die restlichen Waffen würden hierbleiben.

»Ich bezweifle, dass ich sie brauche«, sagte Arlo, als die Gruppe aufsaß. »Wenn hier Smokes auftauchen, quatsche ich sie einfach tot.« Aber auch er trug ein Gewehr über der Schulter. Alicia hatte ihm gezeigt, wie man es lud und reinigte, und sie hatte ihn im Hof ein paarmal schießen lassen. »Allmächtiger!«, hatte er mit seiner dröhnenden Stimme gerufen und mit dem nächsten Schuss das Ziel vom Zaunpfahl fliegen lassen. »Das ist ja unglaublich!« Theo hatte recht, dachte Peter: Wenn man so ein Gewehr einmal hatte, wollte man es nicht mehr loslassen.

»Sei vorsichtig, Arlo«, mahnte Theo. Die Pferde, die seit Tagen keine Bewegung mehr gehabt hatten, warteten ungeduldig darauf, dass es losging. Sie tänzelten unter ihnen und stampften mit den Hufen im Staub. »Irgendetwas stimmt nicht. Bleibt innerhalb des Zauns, und schaltet ihn jeden Abend ein, bevor ihr die ersten Schatten seht. Okay?«

»Keine Sorge, Cousin.« Arlo grinste durch seinen Bart und sah Finn und Rey an. Die beiden versuchten gar nicht erst, ihre Verzweiflung zu verhehlen: Arlo und seinen Geschichten würden sie nicht entkommen. Wahrscheinlich würde er irgendwann sogar noch mit Singen anfangen, Gitarre hin oder her. Der Schlüssel, den sie Zanders Leiche abgenommen hatten, hing nun an Arlos Hals. Theo hatte den anderen.

»Ach, kommt schon, Jungs«, rief Arlo den beiden zu und klatschte in die Hände. »Kopf hoch. Das wird bestimmt ganz lustig werden.« Doch als er an Theos Pferd herantrat, wurde seine Miene plötzlich ernst. »Tu das in deinen Beutel«, sagte er leise und reichte Theo ein zusammengefaltetes Blatt Papier. »Für Leigh und das Baby, falls etwas passiert.«

Theo steckte das Blatt ein, ohne es anzusehen. »Zehn Tage. Bleibt drinnen.«

»Zehn Tage, Cousin.«

Sie ritten davon. Ohne den Karren konnten sie einfach querfeldein Kurs auf Banning nehmen und ihren Weg so um ein paar Kilometer abkürzen. Niemand sprach. Sie sparten ihre Kräfte für den weiten Ritt, der vor ihnen lag.

Als sie sich dem Stadtrand näherten, zügelte Theo sein Pferd.

»Jetzt hätte ich es fast vergessen.« Er schob die Hand in seine Satteltasche und holte das seltsame Ding heraus, das Michael ihm vor sechs Tagen am Tor in die Hand gedrückt hatte. »Weiß jemand noch, was das ist?«

Caleb trieb sein Pferd zu ihm heran, nahm Theo das Board ab und betrachtete es. »Das ist ein Motherboard. Ein Intel-Prozessor, Serie Pion. Siehst du die Neun? Daran kann man es erkennen.«

»Du verstehst was von diesem Kram?«

»Muss ich ja.« Caleb reichte ihm die Platine schulterzuckend zurück. »Für die Turbinensteuerung werden Pion-Prozessoren benutzt. Unsere sind für den Militäreinsatz gehärtet, aber im Grunde sind es die Gleichen. Sie sind unverwüstlich und superschnell. Sechzehn Gigahertz ohne Übertakten.«

Peter sah Theos Gesichtsausdruck. Sein Bruder hatte auch keine Ahnung, was das bedeutete.

»Tja, Michael will so was haben.«

»Das hättest du früher sagen sollen. Wir haben jede Menge davon im Kraftwerk.«

Alicia lachte. »Ich muss sagen, du überraschst mich, Caleb. Du klingst wie Akku. Ich wusste nicht mal, dass Schrauber lesen können.«

Caleb drehte sich im Sattel zu ihr um, aber wenn er beleidigt war, ließ er es nicht erkennen. »Machst du Witze? Was soll man denn hier unten sonst tun? Zander hat sich dauernd in die Bibliothek geschlichen, um neue Bücher zu holen. Da stehen Kisten über Kisten im Werkzeugschuppen. Und nicht bloß technisches Zeug. Der Kerl hat einfach alles gelesen. Er meinte, Bücher wären interessanter als Leute.«

Einen Augenblick lang schwiegen alle.

»Habe ich was Falsches gesagt?«, fragte Caleb.

Die Bibliothek lag in der Nähe der Empire Valley Outlet Mall am Nordrand der Stadt, ein gedrungenes, kastenförmiges Gebäude, umgeben von hartem Boden, aus dem hohe Unkrautbüschel wuchsen. Im Schutz einer Tankstelle stiegen sie ab. Theo nahm das Fernglas aus der Satteltasche und betrachtete das Gebäude.

»Ziemlich versandet. Aber die Fenster über dem Erdgeschoss sind noch intakt. Sieht aus, als wäre alles dicht.«

»Kannst du hineinsehen?«, fragte Peter.

»Die Sonne ist zu hell, und die Fenster spiegeln.« Er reichte Alicia das Fernglas und wandte sich an Caleb. »Bist du sicher?«

»Dass Zander oft hier war?« Der Junge nickte. »Ja, natürlich.«

»Warst du mal mit ihm da?«

»Ist das dein Ernst?«

Alicia war über einen Container auf das Dach der Tankstelle geklettert, um besser sehen zu können.

»Und?«, fragte Theo.

Sie nahm das Fernglas ab. »Du hast recht, die Sonne ist zu grell. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass da was drin ist, bei so vielen Fenstern.«

»Das hat Zander auch immer gesagt.« Caleb nickte.

»Das kapiere ich nicht«, sagte Peter. »Wieso ist er allein hierhergekommen?«

Alicia sprang vom Dach herunter. Sie klopfte sich die Hände an ihrem T-Shirt ab und strich sich eine schweißfeuchte Haarsträhne aus dem Gesicht. »Ich denke, wir sollten mal nachsehen. Es ist mitten am Tag. Eine bessere Gelegenheit finden wir nicht.«

Warum bin ich nicht überrascht?, fragte Theos Blick. Er sah Peter an. »Wofür stimmst du?«

»Seit wann stimmen wir ab?«

»Seit eben. Wenn wir es tun, müssen alle einverstanden sein.«

Peter versuchte, Theo am Gesicht abzulesen, was er wollte. Er spürte das Gewicht einer Herausforderung in Theos Frage. Warum denn das?, dachte er. Warum jetzt?

Er nickte zustimmend.

»Okay, Lish.« Theo griff nach seinem Gewehr. »Du hast deine Smoke-Jagd.«

Sie ließen Caleb bei den Pferden zurück und näherten sich dem Gebäude in lockerer Formation. Die Sandwehen reichten bis an die Fenster hinauf, aber der Vordereingang oben an der kurzen Treppe war frei. Die Tür ließ sich mühelos öffnen, und sie traten ein. Am anderen Ende des Eingangsflurs war eine zweite Flügeltür. An der Wand gleich hinter der Tür hing ein schwarzes Brett mit lauter Zetteln, verblichen, aber immer noch lesbar: Auto zu verkaufen, ’14er Nissan Serata, wenig Meilen … Abnehmen? Fragen Sie mich! … Babysitter gesucht, für nachmittags und gelegentlich abends, Auto erforderlich … Geschichten für Kinder, dienstags und donnerstags, 10:3011:30. Und größer als alle andern war ein gelbes Blatt, das sich an den Rändern rollte:

Signet.eps Signet.eps Signet.eps

Vorsicht!

Bleiben Sie in gut beleuchteten Bereichen.

Melden Sie jegliches Anzeichen einer Infektion.

Lassen Sie keine Fremden ins Haus.

Verlassen Sie die sicheren Zonen nur auf Anweisung eines Regierungsbeamten.

Signet.eps Signet.eps Signet.eps

Sie gingen weiter und kamen in einen großen Lesesaal, hell erleuchtet durch hohe Fenster, die zum Parkplatz hinausgingen. Es war stickig heiß hier drin.

Hinter dem Ausleihetisch saß eine Leiche.

Die Frau – Peter sah, dass es eine Frau war – hatte sich anscheinend erschossen. Die Waffe, ein kleiner Revolver, lag noch in ihrer Hand, die in den Schoß gefallen war. Die Leiche war braun wie Leder, und die ausgetrocknete Haut der Frau spannte sich straff über die Knochen. Das Einschussloch in der Schädelseite war deutlich zu sehen. Ihr Kopf war zur Seite geneigt, als sei ihr etwas heruntergefallen und sie suche danach.

»Ich bin froh, dass Arlo das hier nicht sieht«, sagte Alicia leise.

Schweigend gingen sie zwischen den Reihen der Bücherregale hindurch. Überall auf dem Boden lagen zahllose Bücher verstreut wie Schneewehen. Theo deutete mit dem Gewehrlauf zur Treppe.

»Augen überall.«

Die Treppe führte hinauf zu einem weiteren großen Lesesaal, durchflutet vom Sonnenlicht, das durch die Fenster hereinschien. Ein geräumiger Eindruck entstand dadurch, dass die Regale allesamt zur Seite geschoben worden waren, um Platz für die Feldbetten zu machen, die hier in Reihen hintereinander standen.

Auf jedem Feldbett lag eine Leiche.

»Das müssen ungefähr fünfzig sein«, flüsterte Alicia. »Ist das so was wie ein Lazarett?«

Theo ging zwischen den Reihen der Feldbetten hindurch. Ein seltsamer Moschusgeruch hing in der Luft. Auf halber Strecke blieb er an einer Pritsche stehen, bückte sich und hob einen kleinen Gegenstand auf, etwas Weiches, Schlaffes aus zerfallendem Stoff. Er hielt es hoch, damit Alicia und Peter es sehen konnten. Eine Stoffpuppe.

»Ich glaube nicht.«

Die Bild vor seinen Augen verschwamm, und Peter begriff plötzlich. Die Leichen waren so klein. Hände aus lederumhüllten Knochen umklammerten Stofftiere und Spielsachen. Peter tat einen Schritt vorwärts und hörte und fühlte das Knirschen von Plastik unter seiner Sohle. Eine Injektionsspritze. Da lagen Dutzende, verstreut auf dem Boden.

Die Erkenntnis traf ihn wie ein Faustschlag.

»Theo, das ist … das sind …« Die Worte blieben ihm in der Kehle stecken.

Sein Bruder war schon auf dem Weg zur Treppe. »Machen wir, dass wir hier rauskommen.«

Erst draußen vor der Tür blieben sie wieder stehen und atmeten die frische Luft in tiefen Zügen. Peter sah Caleb drüben auf dem Dach der Tankstelle. Er suchte die Umgebung mit dem Fernglas ab.

»Sie müssen über ihr Schicksal Bescheid gewusst haben«, sagte Alicia leise. »Dachten sich, es wäre besser so.«

Theo hängte sich das Gewehr über die Schulter und trank gierig aus seiner Wasserflasche. Er war aschgrau im Gesicht, und Peter sah, dass seine Hände zitterten. »Dieser verdammte Zander«, sagte Theo. »Weshalb zum Teufel musste er herkommen?«

»An der Rückseite ist noch eine zweite Treppe«, sagte Alicia. »Wir sollten sie uns ansehen.«

Theo spuckte aus und schüttelte heftig den Kopf.

»Lass es gut sein, Lish«, sagte Peter.

»Was hat es für einen Sinn, das Gebäude zu überprüfen, wenn wir nicht alles überprüfen?«

Theo fuhr herum. »Ich will keine Sekunde länger hierbleiben.« Er war fest entschlossen, und seine Entscheidung war endgültig. »Wir brennen alles nieder. Und keine Diskussionen.«

Sie gingen wieder hinein, rissen Bücher aus den Regalen und warfen sie auf einen Haufen vor dem Ausleihetisch. Das Papier fing rasch Feuer, und die Flammen sprangen von einem Buch zum andern. Sie liefen hinaus, und aus einem Abstand von fünfzig Metern sahen sie zu, wie die Bibliothek brannte. Peter trank aus seiner Wasserflasche, aber nichts konnte den Geschmack in seinem Mund wegspülen, den Geschmack von Tod und Leichen. Er wusste, dass seine Augen etwas gesehen hatten, das ihn für den Rest seines Lebens begleiten würde. Zander war hergekommen, aber nicht nur wegen der Bücher. Er war gekommen, um die Kinder zu sehen.

Und in diesem Augenblick begannen die Sandwehen am Fuße des Gebäudes sich zu bewegen.

Alicia, die neben ihm stand, sah es als Erste.

»Peter …«

Der Sand brach überall ein, und die Virals kamen hervor, krallten sich aus den Dünen herauf, die sich vor die unteren Fenster geschoben hatten. Ein Schwarm von sechsen, die von den Flammen ins gleißende Mittagslicht getrieben wurden.

Sie schrien. Ihr lautes, schrilles Geheul voller Schmerz und Wut ließ die Luft erzittern.

Die Bibliothek stand jetzt in hellen Flammen. Peter hob sein Gewehr, und sein Finger tastete fummelnd nach dem Abzug. Seine Bewegungen fühlten sich unbestimmt an, ziellos. Alles an dieser Szene erschien ihm nur halb real. Noch mehr Virals erschienen in dem dicken schwarzen Rauch, der aus den oberen Fenstern wallte. Die Scheiben explodierten in einem glitzernden Scherbenschauer, und auf der Haut der Kreaturen loderten flüssige Feuerschleier. Ihm war, als sei geraume Zeit vergangen, seit er das Gewehr gehoben hatte, um zu schießen. Der erste Schwarm hatte sich in den Schatten der Treppe geflüchtet; eng kauerten sie sich zusammen und drückten die Gesichter in den Sand wie Kinder beim Versteckspiel.

»Peter, los, nichts wie weg!«

Als er Alicias Stimme hörte, schüttelte er die Lähmung von sich ab. Theo stand wie betäubt neben ihm. Der Lauf seines Gewehrs war nutzlos zu Boden gerichtet, und die Augen in seinem schlaffen Gesicht waren groß und unbeteiligt: Was soll’s?

»Theo, hör auf mich.« Alicia zerrte wütend an seinem Arm, und einen Moment lang glaubte Peter, sie würde ihn schlagen. Die Virals unten an der Treppe regten sich wieder. Ein kollektives Zucken ging durch ihre Körper wie ein Windhauch, der das Wasser eines Teichs kräuselt. »Wir müssen weg, sofort!«

Theo sah Peter an. »Oh, Bruder«, sagte er. »Ich glaube, wir sind am Arsch.«

»Peter«, flehte Alicia, »hilf mir.«

Sie packten Theo bei den Armen und nahmen ihn zwischen sich, und als sie den Platz halb überquert hatten, rannte Theo von allein. Das unwirkliche Gefühl war verflogen, und nur ein einziger Gedanke war an seine Stelle getreten: weg von hier. Als sie um die Ecke der Tankstelle bogen, sahen sie Caleb davongaloppieren. Sie sprangen auf die Pferde und jagten hinter ihm her über den harten Sandboden. Hinter ihnen hörte Peter, wie weitere Fensterscheiben klirrend explodierten. Alicia zeigte nach vorn und schrie durch den Wind: zur Mall. Offenbar wollte Caleb dort hin. In vollem Galopp stürmten sie eine Düne hinauf und wieder hinunter auf das leere Gelände, und sie sahen noch, wie Caleb am Westeingang des Einkaufszentrums aus dem Sattel sprang. Er schlug seinem Pferd aufs Hinterteil, und es lief davon, als er durch die Tür verschwand.

»Rein da!«, schrie Alicia. Sie hatte jetzt das Kommando. Theo war verstummt. »Los, und lasst die Pferde laufen!«

Die Pferde waren ein Köder, ein Opfer. Für einen Abschied war keine Zeit; sie sprangen herunter und rannten in das Gebäude. Der beste Platz, wusste Peter, wäre das Atrium. Das Glasdach dort war weggerissen, es gab Sonnenlicht und Deckung, und sie würden sich halbwegs gut verteidigen können. Sie rannten durch den dunklen Korridor. Die Luft roch schwer und sauer, die Wände waren vom Schimmel aufgequollen, und rostige Träger, lose Kabel und verkrustete Rohre traten überall zutage. Vor den meisten Geschäften waren die Rollläden heruntergelassen, aber andere standen offen wie staunende Mäuler, und das halbdunkle Innere war übersät von Müll. Peter sah Caleb, der vor ihnen herrannte, auf das goldene Tageslicht zu, das in breiten Strahlen hereinfiel.

Im Atrium schien die Sonne so hell, dass sie blinzeln mussten. Es sah aus wie in einem Wald. Fast jede Fläche erstickte unter dicken grünen Ranken, und in der Mitte streckten sich ein paar Palmen zur offenen Decke. Von den Dachträgern hingen Lianen herunter wie verschlungene, lebende Seile. Hinter einer Barrikade aus umgestürzten Tischen gingen sie in Deckung. Caleb war nirgends zu sehen.

Peter sah seinen Bruder an, der neben ihm kauerte. »Alles in Ordnung?«

Theo nickte unsicher. Sie alle atmeten keuchend. »Tut mir leid. Das vorhin. Ich bin einfach …« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht.« Er wischte sich den Schweiß aus den Augen. »Ich übernehme die linke Seite. Bleib du bei Lish.« Er huschte davon.

Lish kniete neben Peter. Sie zog den Verschluss ihres Gewehrs zurück. Vier Gänge trafen sich im Atrium. Der Angriff, falls er käme, würde von Westen her kommen.

»Glaubst du, die Sonne hat sie erledigt?«, fragte Peter.

»Keine Ahnung. Die schienen ziemlich aufgebracht zu sein. Ein paar vielleicht, aber nicht alle.« Sie schlang sich den Riemen ihres Gewehrs locker um den Unterarm. »Du musst mir eins versprechen«, sagte sie. »Ich will keine von denen werden. Wenn es so weit kommt, musst du dich darum kümmern.«

»Nein, Lish. Das werde ich nicht tun. Sag so was gar nicht erst.«

»Ich sage, wenn es so weit kommt.« Ihre Stimme klang fest. »Du darfst nicht zögern.«

Sie hatten keine Zeit mehr zum Reden. Sie hörten Schritte herankommen. Caleb stürmte ins Atrium. Er drückte etwas an die Brust. Als er sich hinter die Tische warf, sah Peter, was es war. Ein schwarzer Schuhkarton.

»Das glaube ich nicht«, sagte Alicia. »Du warst abstauben?«

Caleb nahm den Deckel ab und warf ihn beiseite. Ein Paar leuchtend gelbe Turnschuhe, noch in Seidenpapier gewickelt. Er streifte Zanders Stiefel ab und schob die Füße in die neuen Schuhe.

»Scheiße.« Enttäuscht zog er die Stirn kraus. »Die sind viel zu groß. Passen nicht mal annähernd.«

Und dann sprang der erste Viral herunter – eine verschwommene Bewegung, erst über, dann hinter ihnen. Er fiel geradewegs vom Dach des Atriums, und Peter bekam nur noch mit, wie Theo hochgehoben und Richtung Decke geschleudert wurde. Sein Gewehr baumelte an dem Riemen, der sich an seinem Arm verheddert hatte, und er griff mit Händen und Füßen ins Leere. Ein zweiter Viral, der kopfüber an einem der Deckenträger hing, packte ihn beim Fußknöchel, als sei er federleicht. Theo schwebte dort oben mit dem Kopf nach unten, und Peter sah den Gesichtsausdruck seines Bruders, den Ausdruck blanken Erstaunens. Er gab keinen Laut von sich. Sein Gewehr fiel herunter und landete kreiselnd auf dem Boden. Dann schleuderte der Viral ihn durch das offene Dach hinaus, und er war verschwunden.

Peter war aufgesprungen, und sein Finger fand den Abzug. Er hörte eine Stimme, seine eigene Stimme, die den Namen seines Bruders rief, und er hörte, wie Alicia anfing zu schießen. Drei Virals waren jetzt da oben, und sie schwangen sich von einer Strebe zur andern. Aus den Augenwinkeln sah Peter, wie Alicia mit Caleb quer durch das Atrium lief und ihn über die Theke eines Restaurants auf der anderen Seite schob. Dann schoss er endlich, schoss noch einmal. Aber die Virals waren zu schnell. Immer war die Stelle leer, auf die er gezielt hatte. Es kam ihm vor wie eine Art Spiel – als wollten sie ihn mit einem Trick dazu bringen, seine Munition zu verschießen. Seit wann tun sie das?, dachte er und fragte sich sofort, wann er diese Worte schon einmal gehört hatte.

Als der Erste dort oben losließ, sah Peter vor seinem geistigen Auge die tödliche Präzision seiner Flugbahn. Alicia stand jetzt mit dem Rücken zur Theke, und der Viral stürzte geradewegs auf sie herunter, die Arme ausgestreckt, die Beine angezogen, um die Wucht des Aufpralls aufzufangen – ein Wesen aus Zähnen und Klauen und geschmeidigen, kraftvollen Muskeln. Einen Augenblick, bevor er landete, tat Alicia einen Schritt vorwärts, direkt unter ihn, und hielt das Gewehr vor sich wie ein Messer.

Sie schoss.

Ein roter Dunst, ein Gewirr von sich überschlagenden Gliedmaßen, und das Gewehr flog klappernd zu Boden. Im Nu war Alicia wieder auf den Beinen. Der Viral lag reglos da, und in seinem Hinterkopf klaffte ein Krater voller Blut. Alicia hatte ihm geradewegs in den Mund geschossen. Die beiden andern Virals waren über ihnen erstarrt. Ihre Zähne blitzten, und sie schwenkten ihre Köpfe langsam in Alicias Richtung, als würde jemand an einer unsichtbaren Schnur ziehen.

»Raus hier«, schrie Alicia und flankte über die Theke. »Renn!«

Und das tat er. Er rannte.

Jetzt war er irgendwo mitten in dem Riesengebäude. Anscheinend führte kein Weg hinaus. Alle Ausgänge waren verbarrikadiert, versperrt von Bergen von Müll: Möbeln, Einkaufswagen, Abfallcontainern.

Und Theo, sein Bruder, war verschwunden.

Er musste sich verstecken. Das war seine einzige Chance. Er zerrte an den herabgelassenen Gittern, aber keins ließ sich hochschieben. Alle waren fest verschlossen. Aus dem Nebel der Panik erhob sich eine Frage: Warum war er noch nicht tot? Als er aus dem Atrium geflohen war, hatte er damit gerechnet, keine zehn Schritte weit zu kommen. Ein blitzartiger Schmerz, und alles wäre vorüber. Mindestens eine Minute verging, bevor er begriff, dass die Virals ihn nicht verfolgt hatten.

Weil sie beschäftigt waren, dachte er. Er musste sich an einem Gitter festhalten, um nicht in die Knie zu sacken. Er krümmte die Finger zwischen die Stäbe, legte die Stirn an das kalte Metall und rang nach Luft. Seine Freunde waren tot. Das war die einzige Erklärung. Theo war tot, Caleb war tot, Alicia war tot. Und wenn die Virals mit ihnen fertig wären, wenn sie sich sattgetrunken hätten, würden sie hinter ihm herkommen.

Ihn jagen.

Er rannte. Den Gang hinunter und in den nächsten, vorbei an Reihen von verrammelten Geschäften, ohne noch auf die Rollgitter zu achten. Er hatte nur noch einen Gedanken: raus hier, ins Freie. Plötzlich schimmerte Tageslicht vor ihm, irgendeine Öffnung: Er bog um die Ecke und schlitterte über die Fliesen in eine weite, kuppelartige Halle. Ein zweites Atrium. Ohne jegliche Spuren von Müll. Das Sonnenlicht fiel in rauchigen Strahlen durch einen Ring von Fenstern hoch über ihm herein.

Mitten in der Halle stand eine reglose Herde kleiner Pferde.

Sie standen in einem engen Kreis beisammen, unter einem freistehenden Schutzdach. Peter erstarrte. Gleich würden sie davonlaufen. Wie kam eine Pferdeherde in die Mall? Vorsichtig ging er weiter, und dann sah er es: Die Pferde waren nicht echt. Ein Karussell. Peter erinnerte sich, dass er so etwas auf einem Bild gesehen hatte, in einem Buch in der Zuflucht. Der Sockel drehte sich, und Musik spielte, und Kinder ritten auf den Pferdchen im Kreis herum. Er stieg hinauf. Eine dicke Staubschicht lag auf den Pferden und verhüllte die Einzelheiten. Dann trat er an eins der Tiere heran und wischte den Schmutz ab. Bunte Farben kamen zum Vorschein, präzise gemalte Details: die Augenwimpern, die Rillen in den Zähnen, die Blesse und die geblähten Nüstern.

Und dann spürte er es – ein plötzliches Kribbeln in den Finger- und Zehenspitzen, wie bei der Berührung von kaltem Metall. Er schreckte auf und hob den Kopf.

Vor ihm stand ein Mädchen.

Ein Walker.

Er hätte nicht sagen können, wie alt sie war. Dreizehn? Sechzehn? Ihr langes, dunkles Haar war stumpf und verfilzt. Sie trug verschlissene Jeans, die über den Knöcheln abgeschnitten waren, und ein T-Shirt, das starr vor Dreck war. Die Sachen waren zu groß für ihre knabenhafte Gestalt. Die Hose war mit einem Elektrokabel um ihre Taille gebunden, und an den Füßen trug sie Sandalen mit Plastik-Gänseblümchen.

Bevor Peter etwas sagen konnte, legte sie einen Finger an die Lippen. Nicht reden. Sie lief in die Mitte des Karussells, drehte sich um und winkte ihn zu sich: Er solle mitkommen.

Er hörte sie wieder. Ein Huschen im Gang, das Rattern der Stahlgitter vor den Geschäften.

Die Virals kamen. Suchten ihn. Jagten ihn.

Das Mädchen riss die Augen auf. Beeil dich, sagte ihr Blick. Sie nahm seine Hand und zog ihn in die Mitte der Karussellplattform. Dort fiel sie auf die Knie und packte einen Eisenring im Boden. Eine Falltür, glatt in die Holzplanken des Bodens eingepasst. Sie kletterte hinunter, und er sah nur noch ihr Gesicht.

Schnell, schnell.

Peter folgte ihr in das Loch und schloss die Falltür über sich. Jetzt waren sie unter dem Karussell in einer Art Kriechkeller. Stäubchen flirrten in den Lichtstrahlen, die durch die Ritzen zwischen den Bodendielen über ihnen fielen. Peter konnte die dunkle, klobige Maschinerie des Karussells ausmachen und daneben auf dem Boden eine zerknüllte Schlafdecke. Plastikflaschen mit Wasser und Konservendosen mit längst abgeblätterten Etiketten stapelten sich reihenweise. Wohnte sie hier?

Der Holzboden über ihnen erbebte. Das Mädchen war auf die Knie gesunken. Ein Schatten ging über sie hinweg. Sie zeigte ihm, was er tun sollte.

Leg dich hin. Sei ganz still.

Er gehorchte. Sie kletterte auf ihn und legte sich auf seinen Rücken. Er fühlte ihre Wärme, ihren Atem in seinem Nacken. Sie bedeckte ihn mit ihrem Körper. Die Virals waren jetzt überall auf dem Karussell. Er spürte ihre Gedanken, wie sie suchten, tasteten, hörte das leise Klicken in ihren Kehlen. Wie lange würde es dauern, bis sie die Falltür entdeckten?

Nicht bewegen. Nicht atmen.

Er schloss fest die Augen und zwang sich zu absoluter Stille, und er wartete auf das Krachen, wenn die Falltür aus den Angeln gerissen würde. Das Gewehr lag neben ihm auf dem Boden. Vielleicht würde er einen oder zwei Schüsse abgeben können, aber das wäre alles.

Sekunden vergingen. Wieder erzitterte der Boden, und er hörte das scharfe, erregte Atmen der Virals, die Menschen witterten und Blut in der Luft schmeckten. Doch irgendetwas stimmte nicht. Er spürte, dass sie unsicher waren. Das Mädchen lastete auf ihm. Schirmte ihn ab, beschützte ihn. Oben war Stille. Waren die Virals weg? Eine Minute verstrich, dann noch eine. Er rätselte, was das Mädchen als Nächstes tun würde. Schließlich rutschte sie von ihm herunter. Er richtete sich auf den Knien auf. Ihre Gesichter waren nur eine Handbreit voneinander entfernt. Die weich gerundete Wange war die eines Kindes, aber ihre Augen hatten nichts Kindliches. Er konnte ihren Atem riechen, ein wenig süß, wie Honig.

»Wie hast du …«

Sie schüttelte heftig den Kopf, um ihn zum Schweigen zu bringen. Sie zeigte zur Decke und drückte dann noch einmal den Finger an die Lippen.

Sie sind weg. Aber sie kommen wieder.

Sie stand auf und öffnete die Falltür. Mit einer kurzen Drehung des Kopfes gab sie ihm ein Zeichen.

Komm mit. Sofort.

Sie stiegen hinauf auf die Karussellplattform. Die Halle war leer, aber die Anwesenheit der Virals war noch spürbar. Die Luft bewegte sich in unsichtbaren Wirbeln, wo sie gewesen waren. Mit schnellen Schritten führte das Mädchen ihn zu einer Tür auf der anderen Seite des Atriums. Sie stand offen; ein Betonkeil hielt sie fest. Sie liefen hindurch, und das Mädchen nahm den Keil weg und ließ die Tür zufallen. Er hörte das Klicken eines Schlosses.

Schwarze Finsternis.

Wieder überkam ihn Panik und das überwältigende Gefühl der Orientierungslosigkeit. Aber dann nahm sie seine Hand. Ihr Griff war fest und sollte ihn beruhigen. Sie zog ihn weiter.

Ich habe dich. Es ist alles in Ordnung.

Er versuchte seine Schritte zu zählen, doch es gelang ihm nicht. Ihre Hand forderte ihn auf, schneller zu gehen; seine Unsicherheit halte sie auf. Er stolperte über irgendetwas, und das Gewehr rutschte ihm aus der Hand und verschwand im Dunkeln.

»Warte …«

Von hinten kam ein hallendes Dröhnen. Dann das Kreischen von verbogenem Metall. Die Virals hatten sie gefunden. Vor ihnen schimmerte mattes Tageslicht, und allmählich trat die Umgebung aus der Dunkelheit hervor. Sie waren in einem langen, hohen Korridor. Links und rechts lehnten Slims an den Wänden, ein Chor von grinsenden Skeletten mit verrenkten Gliedern, deren Haltung wie eine Warnung erschien. Wieder krachte es hinter ihnen. Die Tür gab nach und brach aus den Angeln. Der Korridor endete an einer weiteren offenen Tür. Ein Treppenhaus. Von hoch oben fiel fahles Tageslicht herunter, und das Gurren und der Geruch von Tauben wehte ihm entgegen. An der Wand hing ein Schild: ZUM DACH.

Er drehte sich um. Das Mädchen war vor der Tür zum Treppenhaus stehen geblieben. Ihre Blicke trafen sich für einen spukhaften Moment. Ehe eine weitere Sekunde vergehen konnte, war das Mädchen herangetreten, hatte sich auf die Zehenspitzen gestellt und ihren geschlossenen Mund an seine Wange gedrückt wie ein Vogel, der den Schnabel ins Wasser taucht.

Einfach so. Sie küsste ihn auf die Wange.

Peter war zu verdattert, um etwas zu sagen. Das Mädchen hatte sich in den dunklen Gang zurückgezogen. Geh jetzt, sagte ihr Blick.

Dann schloss sie die Tür.

»Hey!« Er hörte das Klicken des Schlosses und packte die Türklinke; sie ließ sich nicht bewegen. Er hämmerte gegen die verschlossene Stahltür. »Hey! Lass mich nicht allein!«

Aber das Mädchen war verschwunden wie ein Gespenst. Sein Blick fiel wieder auf das Schild. ZUM DACH. Sie wollte, dass er hinaufging.

Er lief die Stufen hoch. Die Luft war heiß wie in einem Backofen, der Gestank von Taubenkot erstickend. Lange Streifen mit getrocknetem Vogeldreck verschmierten die Wände und überkrusteten Treppe und Geländer wie eine dicke Farbschicht. Die Vögel nahmen kaum Notiz von ihm; sie flatterten hierhin und dahin, als er näher kam, als sei seine Anwesenheit nicht mehr als eine Kuriosität. Drei Absätze, vier – er keuchte vor Anstrengung, der faulige Geschmack in Mund und Nase war widerwärtig und quälend, und seine Augen brannten, als sei Säure hineingespritzt worden.

Endlich war er oben. Eine letzte Tür. Und darüber ein winziges Fenster, unerreichbar hoch. Das Glas war zerbrochen und die verbliebenen Splitter am Rand vergilbt von Ruß und Alter.

Vor der Tür hing ein Vorhängeschloss.

Eine Sackgasse. Nach all dem hatte das Mädchen ihn in eine Sackgasse geschickt. Ein wütendes Dröhnen erschütterte das Treppenhaus, als der erste Viral unten gegen die Tür schlug. Die Tauben flatterten auf und stoben auseinander, und Federn wirbelten durch die Luft.

Dann sah er sie – so verkrustet von Vogelkot, dass sie mit der Wand ringsum unsichtbar verschmolzen war. Mit dem Ellenbogen zertrümmerte er die Scheibe und riss die Axt heraus. Unten krachte es zum zweiten Mal. Mit dem nächsten Schlag würden die Virals die Tür zertrümmern und die Treppe heraufstürmen.

Peter hob die Axt über den Kopf und ließ sie auf das Vorhängeschloss herunterfahren. Die Klinge prallte ab, aber er sah, dass er ein wenig Schaden angerichtet hatte. Er holte tief Luft, schätzte den Abstand und schlug noch einmal mit aller Kraft zu. Ein sauberer Treffer: Das Schloss splitterte und flog davon. Er stemmte sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Tür. Ächzend vor Alter und Rost gab sie nach, und er taumelte hinaus ins Sonnenlicht.

Er war auf dem Dach am Nordende der Mall. Der Blick ging zu den Bergen hinüber. Hastig humpelte er bis zum Rand.

Es ging mindestens fünfzehn Meter tief hinunter. Er würde sich die Beine brechen. Mindestens.

Dann würde er bewegungsunfähig auf dem Boden liegen und auf die Virals warten. Er wollte nicht so enden. Sein Ellenbogen blutete, und eine Blutspur folgte ihm von der Tür bis zur Dachkante. An Schmerz konnte er sich nicht erinnern, aber offenbar hatte er sich geschnitten, als er die Glasscheibe vor der Feueraxt eingeschlagen hatte. Auf ein bisschen Blut kam es jetzt allerdings kaum noch an. Zumindest hatte er die Axt.

Er drehte sich zur Tür um und hob die Axt schlagbereit über den Kopf, als ein Schrei von unten heraufkam.

»Spring!«

Alicia und Caleb kamen im Galopp um die Ecke geritten. Alicia winkte ihm zu. Sie stand vorgebeugt in den Steigbügeln. »Spring!«

Er dachte an Theo, der in die Höhe gerissen worden war. Er dachte an seinen Vater, der am Ufer des Meeres gestanden hatte, und er dachte an das Meer und die Sterne. Er dachte an das Mädchen, das ihn mit seinem Körper beschützt hatte, und er dachte an ihren warmen, süßen Atem in seinem Nacken und auf seiner Wange, wo sie ihn geküsst hatte.

Seine Freunde riefen und winkten, die Virals kamen die Treppe herauf, und die Axt lag in seiner Hand.

Nicht jetzt, dachte er. Noch nicht. Er schloss die Augen und sprang.

Passage Trilogie Bd. 1 - Der Übergang
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