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Log der Wache
Sommer 92
Tag 41: Keine Sichtung.
Tag 42: Keine Sichtung.
Tag 43: 23:06: Einzelner Viral gesichtet auf 200 m, Feuerposten 3. Keine Näherung.
Tag 44: Keine Sichtung.
Tag 45: 02:00: Schwarm von 3 bei FP 6. Ein Ziel bricht aus und attackiert die Mauer. Pfeilschüsse von FP 5/6. Ziel zieht sich zurück. Kein weiterer Kontakt.
Tag 46: Keine Sichtung.
Tag 47: 01:15: Läufer Kip Darrell meldet Bewegung am Schussfeld NW zwischen FP 9 und FP 10. Keine Bestätigung durch Wache auf Posten. Offiziell registriert als Keine Sichtung.
Tag 48: 21:40: Schwarm von 3 bei FP 1, 200 m. Ein Ziel nähert sich bis auf 100 m, zieht sich dann zurück.
Tag 49: Keine Sichtung.
Tag 50: 22:15: Schwarm von 6 bei FP 7. Jagen Kleinwild. Keine Näherung.
Glocke 23:05: Schwarm von 3 bei FP 3. 2 männlich, 1 weiblich. Schweres Gefecht, 1 Knock-out, Abschuss durch Arlo Wilson, Adjut. bei Alicia Donadio, 2. Captain. Auftrag zur Kadaverbeseitigung an Schwerarbeit. Reparaturmeldung an Schwerarbeit wg. Fugenriss am Aufstieg zu FP 6; für Schwerarbeit entgegengenommen durch Finn Darrell.
Während dieser Zeit insgesamt: 6 Kontakte, 1 unbestätigt, 1 Knock-out. Keine Seelen getötet oder befallen.
Hochachtungsvoll dem Haushalt vorgelegt durch
S. C. Ramirez, First Captain
Im Geflecht all dieser Ereignisse hat das Verschwinden von Theo Jaxon – Mitglied einer Ersten Familie und Second Captain der Wache – seinen Anfang im Grunde schon zwölf Tage zuvor genommen, am Morgen des Einundfünfzigsten des Sommers, nach einer Nacht, in der Wächter Arlo Wilson einen Viral erlegt hatte.
Der Angriff war am frühen Abend aus südlicher Richtung gekommen, in der Nähe des Feuerpostens drei. Auf seinem Posten an der gegenüberliegenden Seite der Mauer hatte Peter nichts davon mitbekommen. Erst in den frühen Morgenstunden, als die Nachschubeinheit sich am Tor versammelte, erhielt er einen umfassenden Bericht.
Der Angriff war in fast jeder Hinsicht typisch verlaufen. Das ganze Jahr über kam so etwas vor, allerdings am häufigsten im Sommer. Ein Dreierschwarm, zwei männliche und ein weiblicher Viral: Soo Ramirez vermutete – und andere stimmten ihr zu –, es handelte sich vermutlich um denselben Schwarm, der im Laufe der vorigen fünf Nächte zweimal gesichtet worden war, wie er am Rand des Schussfeldes herumstrich. So ging es oft, über mehrere Nächte zog es sich hin. Eine Gruppe von Virals tauchte am Rand des Scheinwerferlichts auf, anscheinend um die Verteidigungsanlagen der Kolonie zu erkunden. Danach folgten zwei Nächte ohne Sichtung, und dann erschienen sie wieder und kamen näher heran. Manchmal brach einer von ihnen aus, um das Feuer auf sich zu ziehen, aber immer zogen sie sich wieder zurück. Und in der dritten Nacht kam dann der Angriff. Die Mauer war viel zu hoch, als dass selbst der stärkste Viral mit einem Sprung heraufkommen konnte. Sie mussten die Fugen zwischen den Steinen benutzen, um Halt für die Zehen zu finden. Die Feuerplattformen mit ihren Stahlnetzen befanden sich auf der Mauerkrone. Jeder Viral, der so weit kam, war meistens vom Scheinwerferlicht geschwächt, schwerfällig und desorientiert, und viele zogen sich an dieser Stelle einfach wieder zurück. Wenn sie es nicht taten, klammerten sie sich an die Stahlgitter und streckten den Kopf so weit nach hinten, dass der Wächter auf dem Posten reichlich Gelegenheit hatte, mit der Armbrust auf den Sweetspot, den idealen Punkt unter dem Brustbein, zu schießen oder, wenn das nicht gelang, sein Messer zu benutzen. Nur selten schaffte ein Viral es, das Netz zu überwinden – Peter hatte es in seinen fünf Jahren auf der Mauer nur ein einziges Mal gesehen –, aber wenn es geschah, bedeutete es für den Wächter unweigerlich den Tod. Danach war die Frage nur noch, wie geschwächt der Viral vom Scheinwerferlicht war, wie lange die Wache brauchte, um ihn auszuschalten, und wie viele Leute sterben mussten, bis das gelang.
In jener Nacht war der Schwarm geradewegs auf Plattform sechs zugestürmt. Vielleicht hatten sie einfach nur Glück gehabt. Vielleicht hatten sie aber auch bei ihren zwei Besuchen vorher die verborgene Fuge unterhalb der Plattform entdeckt, einen Spalt von nicht mehr als einem halben Zentimeter Breite, verursacht durch unvermeidliche Verschiebungen zwischen den Steinen. Nur einer war ganz hinaufgekommen, ein weiblicher – ein Detail, das Peter immer verwunderlich fand, da die Unterschiede zwischen den Geschlechtern so gering waren und keinem Zweck dienten, weil die Virals sich nach allem, was man wusste, nicht fortpflanzten. Sie war groß, mehr als zwei Meter, und das Auffälligste an ihr war ihr dichtes weißes Haar. Ob dieses Haar darauf hindeutete, dass sie erst im hohen Alter befallen worden war, oder ob es Symptom einer biologischen Veränderung war, die sich in den Jahren seitdem ereignet hatte – obwohl Virals eigentlich nicht alterten und als unsterblich galten –, all das ließ sich nicht sagen. Peter hatte jedenfalls noch nie einen Viral mit Haaren gesehen. Der weibliche Viral war zu der Fuge hinaufgesprungen, die ungefähr zehn Meter über dem Boden verlief, und dann sofort unter die Befestigung des Stahlnetzes weitergeklettert. Dort hatte sie sich von der Mauer abgestossen und schnell den äußeren Rand des Gitters gepackt. Das alles hatte höchstens zwei Sekunden gedauert. Sie hatte zwanzig Meter hoch über dem Boden gehangen, die Beine angezogen und sich mit einer schnellen Schaukelbewegung über das Stahlnetz geschwungen, sodass sie mit ihren Klauenfüßen am Rand der Plattform landete. Arlo Wilson hatte ihr seine Armbrust ans Brustbein gedrückt und ihr den Bolzen aus nächster Nähe mitten durch den Sweetspot gejagt.
Im Morgengrauen berichtete Arlo mit lebhafter Freude am Detail, was passiert war, und Peter und die andern hörten zu. Wie alle Wilsons liebte Arlo nichts so sehr wie eine gute Geschichte. Er war kein Captain, aber er sah aus wie einer: ein großer Mann mit einem dichten Vollbart, muskulösen Armen und einem jovialen Auftreten; ein Mann, der natürliche Autorität besaß. Er hatte einen Zwillingsbruder namens Hollis, der ihm in jeder Hinsicht glich wie ein Ei dem andern, nur dass er glattrasiert war. Arlos Frau Leigh war eine Jaxon; sie war Peters und Theos Cousine, und so war Arlo auch mit Peter verwandt. Manchmal, wenn er nicht Wache stand, saß Arlo abends im Scheinwerferlicht auf dem Sonnenfleck und spielte Gitarre für die Leute, alte Folksongs aus einem Buch, das die Erbauer hinterlassen hatten, oder er ging in die Zuflucht und spielte für die Kinder, während sie sich bettfertig machten; komische selbst ausgedachte Lieder über ein Schwein namens Edna, das sich gern im Schlamm wälzte und den ganzen Tag Klee fraß. Jetzt, da Arlo selbst eine Kleine in der Zuflucht hatte, ein quäkendes Bündel namens Dora, vermutete man allgemein, dass er höchstens noch zwei Jahre auf der Mauer dienen würde, bevor er seinen Posten aufgab und in einem weniger gefährlichen Job arbeitete.
Dass es Arlo war, der den Ruhm für diesen Abschuss in Anspruch nehmen konnte, war Zufall, wie er selbst sofort einräumte. Jeder von ihnen hätte auf Posten sechs stehen können. Soo schob ihre Leute gern so oft hin und her, dass man niemals wusste, wo man abends stehen würde. Trotzdem war mehr im Spiel als bloßes Glück; das wusste Peter, auch wenn Arlo zu bescheiden war, um es auszusprechen. Mehr als ein Wächter war im entscheidenden Augenblick erstarrt. Peter hatte noch nie aus solcher Nähe einen Viral ausschalten müssen. Alle seine Abschüsse waren Döser gewesen, die er am helllichten Tag erlegt hatte, und er wusste nicht, ob er einen solchen Augenblick überstehen würde. Wenn also Glück im Spiel war, dann war es ein Glück für sie alle, dass es Arlo Wilson war, der dort gestanden hatte.
Jetzt, im Nachglanz dieser Ereignisse, stand Arlo mit ein paar anderen vor dem Tor beisammen. Sie gehörten zu der Nachschubeinheit, die zum Kraftwerk hinausgehen würde, um die Wartungsmannschaft abzulösen und die Magazine aufzufüllen. Üblicherweise bestand ein solcher Trupp aus sechs Mann: jeweils zwei Wächter als Vor- und Nachhut, und zwischen ihnen zwei Schwerarbeiter – alle nannten sie nur »Schrauber« – auf ihren Maultieren. Diese beiden hatten die Aufgabe, die Windturbinen zu warten, die den Strom für die Scheinwerfer lieferten. Ein drittes Maultier, eine Stute, zog den kleinen Karren mit dem Nachschub: hauptsächlich Lebensmittel und Trinkwasser, aber auch Werkzeug und Schläuche mit Schmierfett. Das Fett wurde aus Maismehl und ausgelassenem Schafstalg hergestellt, und schon jetzt summte eine Wolke von Fliegen über dem Karren, angelockt von dem Geruch.
Gleich würde die Morgenglocke läuten. Die beiden Schrauber, Rey Ramirez und Finn Darrell, sahen das Nachschubmaterial durch, und die Wächter saßen im Sattel und warteten. Theo, der verantwortliche Offizier, übernahm die Spitze neben Peter, und die Nachhut bildeten Arlo und Mausami Patal. Mausami kam aus einer Ersten Familie, und ihr Vater Sanjay war Oberhaupt des Haushalts. Aber im Sommer zuvor hatte sie Galen Strauss geheiratet, und so war sie jetzt eine Strauss. Peter kapierte es immer noch nicht so ganz. Ausgerechnet Galen. Er war ein durchaus sympathischer Kerl, aber letzten Endes hatte er etwas Verstörendes an sich. Als sei Galen Strauss nur annähernd er selbst. Vielleicht lag es daran, dass er immer blinzelte (dabei wussten alle, dass er schlechte Augen hatte), vielleicht auch an seiner geistesabwesenden Art. Was immer es war, man sollte meinen, dass er der Letzte wäre, den Mausami sich aussuchen würde. Theo hatte es zwar nie gesagt, aber Peter vermutete, dass er darauf gehofft hatte, Mausami eines Tages selbst zu heiraten. Theo und Mausami waren zusammen in der Zuflucht aufgewachsen; sie waren im selben Jahr entlassen worden und hatten ihre Lehre bei der Wache angetreten, und die Nachricht von ihrer Verheiratung mit Galen hatte ihn schwer getroffen. Tagelang hatte er Trübsal geblasen und kaum ein Wort gesprochen. Als Peter schließlich selbst davon anfing, hatte Theo nur gesagt, er habe kein Problem damit. Wahrscheinlich habe er nur zu lange gewartet. Er wolle, dass Maus glücklich sei, und wenn Galen derjenige sei, der dafür sorgen könne, dann sei es eben so. Theo war nicht der Mann, der über solche Dinge sprach, nicht einmal mit seinem Bruder. Also war Peter nichts anderes übriggeblieben, als ihm zu glauben. Aber Theo hatte ihm beim Reden nicht in die Augen gesehen.
Das war Theos Art. Wie ihr Vater war er ein Mann, der durch sein Schweigen ebenso viel mitteilte wie mit Worten. Wenn Peter sich in den folgenden Tagen an diesen Morgen am Tor erinnerte, fragte er sich immer wieder, ob sein Bruder irgendwie verändert gewesen war, ob es irgendein Anzeichen dafür gegeben hatte, dass er vielleicht wusste – wie ihr Vater es gewusst hatte –, was passieren würde: dass er zum letzten Mal durch dieses Tor ritt. Aber da war nichts. Alles an diesem Morgen war gewesen wie immer. Eine ganz normale Nachschubexpedition, und Theo saß mit gewohnter Ungeduld auf seinem Pferd und befingerte den Zügel.
Während er auf die Glocke wartete, die ihnen das Zeichen zum Aufbruch gab, und sein Reittier unter ihm rastlos mit den Hufen scharrte, hing Peter seinen Gedanken nach, deren ganze Bedeutung er erst später verstehen würde. Als er den Kopf hob, sah er, dass Alicia vom Arsenal her zielstrebig auf sie zukam. Er erwartete, dass sie vor Theo stehen bleiben würde: zwei Captains, die sich besprachen, vielleicht die Ereignisse der Nacht und eine mögliche Smoke-Jagd auf den Rest des Schwarms erörterten. Aber das war es nicht. Sie marschierte geradewegs an Theo vorbei nach hinten.
»Vergiss es, Maus«, rief Alicia in scharfem Ton. »Du gehst nirgendwohin.«
Mausami sah sich um. Peter erkannte sofort, dass ihre Verwirrung gespielt war. Alle fanden, es sei ein Glück, dass Maus das Aussehen ihrer Mutter geerbt habe: das gleiche sanfte, ovale Gesicht, das volle schwarze Haar, das in dunklen Wellen auf ihre Schultern fiel, wenn sie es löste. Sie war schwerer als viele andere Frauen, aber sie bestand aus lauter Muskeln.
»Was meinst du damit? Warum?«
Alicia blieb vor ihr stehen und stemmte die Hände in die schmalen Hüften. Selbst im kühlen Licht des Morgengrauens leuchtete ihr Haar, das sie auf dem Rücken zu einem langen Zopf geflochten hatte, in einem tiefen, honiggoldenen Rot. Wie immer trug sie drei Klingen am Gürtel. Alle lachten darüber und frotzelten, sie habe nur deshalb noch keinen Mann gefunden, weil sie mit den Messern ins Bett ging.
»Weil du schwanger bist«, verkündete Alicia. »Darum.«
Für einen Augenblick verschlug es der Gruppe die Sprache. Peter drehte sich unwillkürlich im Sattel um und warf einen kurzen Blick auf Mausamis Bauch. Na, wenn sie schwanger war, konnte man es noch nicht sehen, obwohl es natürlich bei dem weiten T-Shirt nicht gut zu erkennen war. Er sah zu Theo hinüber, aber dessen Gesicht verriet nicht, was er dachte.
»Was sagt man denn dazu?« Arlos Mund in der Furche seines Bartes verzog sich zu einem breiten Grinsen. »Ich habe mich gefragt, wann ihr zwei das endlich schafft.«
Ein tiefes Rot war auf Mausamis kupferbraunen Wangen erblüht. »Wer hat dir das erzählt?«
»Was glaubst du wohl?«
Mausami schaute weg. »Ich bringe ihn um, das schwöre ich.«
Theo drehte sein Pferd zu Mausami herum. »Galen hat recht, Maus. Ich kann dich nicht mitreiten lassen.«
»Ach, was weiß der denn? Er versucht schon das ganze Jahr, mich von der Mauer herunterzuholen. Das kann er nicht bringen.«
»Galen hat nichts damit zu tun«, erklärte Alicia. »Ich tue es. Du wirst von der Wache abgezogen. Schluss. Basta.«
Hinter ihnen kam die Herde den Weg herunter. In ein paar Augenblicken würden sie im lärmenden Chaos der Tiere versinken. Peter sah Mausami an und bemühte sich, sie als Mutter zu sehen, aber es gelang ihm nicht ganz. Es war üblich, dass Frauen die Wache verließen, wenn die Zeit für sie gekommen war; das taten sogar viele Männer, wenn ihre Frauen schwanger wurden. Aber Mausami war Wächterin durch und durch. Sie konnte besser schießen als die Hälfte der Männer, in einer Krise blieb sie kühl, und jede ihrer Bewegungen war ruhig und zielstrebig. Wie Diamond, dachte Peter. Flink, wenn es nötig war.
»Du solltest dich freuen«, sagte Theo. »Das ist eine fabelhafte Neuigkeit.«
Mausami machte ein zutiefst verzweifeltes Gesicht, und Peter sah, dass sie Tränen in den Augen hatte.
»Hör auf, Theo. Kannst du dir wirklich vorstellen, dass ich in der Zuflucht hocke und kleine Strümpfe stricke? Ich glaube, ich würde den Verstand verlieren.«
Theo streckte die Hand nach ihr aus. »Maus, hör doch zu …«
Mausami wich zurück. »Nicht, Theo.« Sie wandte das Gesicht ab, um sich mit dem Handrücken die Tränen abzuwischen. »Okay, Leute. Die Show ist vorbei. Zufrieden, Lish? Du hast, was du wolltest. Ich gehe.« Sie ritt davon.
Als sie außer Hörweite war, faltete Theo die Hände über dem Sattelknauf und schaute auf Alicia hinunter, die eine ihrer Klingen am Saum ihres T-Shirts abwischte.
»Weißt du, du hättest auch warten können, bis wir zurück sind.«
Alicia zuckte die Achseln. »Ein Kind ist ein Kind, Theo. Du kennst die Regeln so gut wie jeder andere. Und offen gesagt, es ärgert mich ein wenig, dass sie es mir nicht gesagt hat. Es ist ja nicht so, als könnte sie es geheimhalten.« Alicia wirbelte das Messer um den Zeigefinger und schob es wieder in die Scheide. »Es ist am besten so. Sie wird sich schon wieder beruhigen.«
Theo runzelte die Stirn. »Du kennst sie nicht so gut wie ich.«
»Ich werde nicht mit dir diskutieren, Theo. Ich habe bereits mit Soo gesprochen. Die Sache ist entschieden.«
Die Herde drängte jetzt heran. Das Morgenlicht erwärmte sich zu einem gleichmäßigen Glanz. Gleich würde die Morgenglocke läuten, und das Tor würde sich öffnen.
»Wir brauchen noch einen vierten Mann«, sagte Theo.
Alicia strahlte. »Komisch, dass du das erwähnst …«
Alicia Blades. Sie war die letzte Donadio, aber alle nannten sie nur »Blades«, wegen ihrer Messer. Der jüngste Captain seit Tag Eins.
Alicia war noch in der Zuflucht gewesen, als ihre Eltern in der Dunklen Nacht ums Leben gekommen waren. Von dem Tag an hatte der Colonel sie großgezogen; er hatte sie unter seine Fittiche genommen, als wäre sie seine eigene Tochter. Ihre Geschichten waren untrennbar miteinander verflochten, denn wer immer der Colonel sein mochte – und in dieser Frage bestand große Uneinigkeit –, er hatte Alicia nach seinem Bild geformt.
Seine eigene Vergangenheit war unklar und mehr Mythos als Wirklichkeit. Es hieß, er sei eines Tages aus heiterem Himmel vor dem Haupttor aufgetaucht, mit einem leeren Gewehr und einer langen Halskette aus schimmernden, spitzen Objekten, die sich als Zähne erwiesen – Viralzähne. Wenn er jemals einen anderen Namen gehabt hatte, kannte ihn niemand. Er hieß einfach »der Colonel«. Manche sagten, er sei ein Überlebender aus der Baja-Siedlung, und andere meinten, er habe zu einer Gruppe nomadischer Jäger gehört. Wenn Alicia seine wahre Geschichte kannte, hatte sie nie jemandem etwas davon erzählt. Er hatte nie geheiratet und wohnte für sich allein in der kleinen Hütte, die er sich am Fuße der Ostmauer aus Holzabfällen gebaut hatte. Die Aufforderung, in die Wache einzutreten, hatte er immer zurückgewiesen und arbeitete lieber im Bienenhaus. Es ging das Gerücht, er habe einen geheimen Ausgang, den er benutzte, um auf die Jagd zu gehen; dann schleiche er sich vor dem Morgengrauen aus der Kolonie, um Virals zu erlegen, wenn die Sonne aufging. Aber niemand hatte ihn tatsächlich dabei gesehen.
Es gab andere wie ihn, Männer und Frauen, die aus diesem oder jenem Grund niemals heirateten, sondern für sich blieben, und der Colonel hätte in der Anonymität eines Einsiedlers versinken können, wären da nicht die Ereignisse der Dunklen Nacht gewesen. Peter war damals gerade sechs Jahre alt gewesen, und er war nicht sicher, ob seine Erinnerungen auf der Wirklichkeit beruhten, oder ob es nur Geschichten waren, die andere Leute ihm erzählt hatten und die seine eigene Fantasie im Laufe der Jahre ausgeschmückt hatte. Aber an das Erdbeben selbst konnte er sich erinnern. Erdbeben gab es öfter, allerdings nicht solche wie das, das den Berg an dem Abend erschüttert hatte, als die Kinder gerade zu Bett gehen sollten: ein einzelner, massiver Stoß, gefolgt von einem Beben, das eine volle Minute dauerte und so heftig war, dass es schien, als wolle die Erde auseinanderreißen. Peter erinnerte sich an das Gefühl der Hilflosigkeit, als er hochgehoben und wie ein Blatt im Wind hin und her geschleudert worden war, an die lauten Schreie, an das Gebrüll der Lehrerin und den Höllenlärm, an den Geschmack von Staub in seinem Mund, als die Westwand der Zuflucht einstürzte. Das Erdbeben hatte kurz nach Sonnenuntergang begonnen, und die Stromversorgung war ausgefallen. Als die ersten Virals in die äußere Umgrenzung eindrangen, konnte man nur noch das Schussfeld beleuchten und sich in die Reste der Zuflucht zurückziehen. Viele der Opfer starben verschüttet unter den Trümmern ihrer Häuser. Am nächsten Morgen waren 162 Seelen verloren, darunter neun ganze Familien, dazu die halbe Herde, die meisten Hühner und alle Hunde.
Viele von denen, die überlebt hatten, verdankten es dem Colonel. Er allein hatte die Sicherheit der Zuflucht verlassen und sich auf die Suche nach Überlebenden gemacht. Viele der Verletzten hatte er auf dem Rücken ins Lagerhaus geschleppt, und dort hatte er schließlich Stellung bezogen und die Virals die Nacht hindurch abgewehrt. Zu diesen Leuten hatten auch John und Angel Donadio gehört, Alicias Eltern. Von den fast zwei Dutzend Geretteten waren sie als einzige gestorben. Am nächsten Morgen war der Colonel, von oben bis unten voller Blut und Staub, in die Ruinen der Zuflucht gekommen, hatte Alicia bei der Hand genommen und schlicht verkündet: »Um dieses Mädchen werde ich mich kümmern.« Dann war er mit ihr im Schlepptau hinausmarschiert. Keiner der anwesenden Erwachsenen hatte noch genug Kraft gehabt, um Einwände zu erheben. Die Donadios waren Walker, keine Erste Familie, und wenn jemand bereit war, die Kleine zu sich zu nehmen, schien das nur vernünftig zu sein. Es stimmte aber auch – so sagten es die Leute jedenfalls damals –, dass sie in der Fügsamkeit des kleinen Mädchens die Hand des Schicksals gespürt hätten, fast so, als handele es sich um die Begleichung einer kosmischen Schuld. Alicia war für ihn bestimmt; so sah es jedenfalls aus.
In der Hütte des Colonels am Fuße der Mauer und später, als sie heranwuchs, im Ausbildungslager, brachte er ihr alles bei, was er draußen in den Darklands gelernt hatte – nicht nur das Kämpfen und Töten, sondern auch das Loslassen. Denn das war es, was man tun musste. Wenn die Virals kamen, erklärte der Colonel ihr, musste man sich sagen: Ich bin schon tot. Das kleine Mädchen hatte seine Lektionen gelernt. Mit acht Jahren hatte sie ihre Lehre bei der Wache begonnen, und im Umgang mit Bogen und Messer hatte sie alle andern schnell hinter sich gelassen. Mit vierzehn hatte sie bereits als Läuferin zwischen den einzelnen Feuerposten hoch über der Mauer gearbeitet. Eines Nachts kam ein Schwarm von sechs Virals – sie waren immer in Dreiergruppen unterwegs – über die Südmauer herein. Als Läuferin hatte Alicia nicht die Aufgabe, sie abzuwehren. Eine Läuferin hatte zu laufen und Alarm zu schlagen. Aber stattdessen erwischte sie den ersten mit einem Wurfmesser mitten durch den Sweetspot. Dann spannte sie ihre Armbrust und erlegte den zweiten noch in der Luft. Den dritten tötete sie mit dem Messer aus nächster Nähe. Sie nutzte sein Gewicht, um die Klinge unter sein Brustbein zu stoßen, als er auf sie fiel, und sein Gesicht war ihrem so nah, dass sie den Gestank der Nacht riechen konnte, der sie anwehte, als er starb. Die übrigen drei stoben auseinander und verschwanden über die Mauer in der Dunkelheit.
Noch nie hatte irgendjemand drei auf einmal ganz allein zur Strecke gebracht – und sie war ein fünfzehnjähriges Mädchen. Von diesem Tag an hatte Alicia Wache stehen dürfen, und mit zwanzig hatte sie den Rang eines Second Captain. Alle rechneten damit, dass Lish, wie man sie nannte, zum First Captain aufsteigen würde, wenn Soo Ramirez ihr Amt niederlegte.
Sie hatte Peter eines Nachts unter den Scheinwerfern davon erzählt, als sie beide Wache gestanden hatten. Bei dem dritten Viral war es passiert – da hatte sie losgelassen. Alicia war Peters Vorgesetzte, doch die beiden verstanden sich so gut, dass Fragen der Hierarchie keine Rolle spielten. Deshalb wusste er, dass Alicia es ihm nicht erzählte, um aufzutrumpfen. Sie erzählte es, weil sie Freunde waren. Nicht beim ersten oder beim zweiten, sagte sie, aber beim dritten. Da hatte sie gewusst, ohne jeden Zweifel gewusst, dass sie sterben würde. Und das Seltsame war: Als ihr das klargeworden war, war es kinderleicht gewesen, das Messer zu ziehen. Alle Angst war verflogen. Ihre Hand fand die Klinge, als wollten die beiden zueinander, und als die Bestie auf sie herabfiel, dachte sie nur: Na, nur zu! Wenn ich jetzt die Welt schon verlasse, kann ich dich genauso gut mit auf die Reise nehmen. Als wäre es eine Tatsache. Als hätte sie es bereits getan.
Die Herde war schon draußen, als Alicia mit ihrem Pferd zurückkam. Am Sattel hingen eine kleine Stofftasche und eine Wasserflasche. Alicia hatte keine ordentliche Wohnung. Es gab zwar viele leerstehende Häuser, aber sie bevorzugte einen kleinen Blechschuppen hinter dem Arsenal, wo sie eine Pritsche aufgestellt und ihre paar Habseligkeiten untergebracht hatte. Peter wusste nicht, ob sie jemals mehr als zwei Stunden am Stück geschlafen hatte, und wenn er sie suchte, schaute er in diesem Schuppen immer zuletzt nach, denn sie war ständig auf der Mauer. Sie trug jetzt einen Langbogen bei sich; der war leichter als eine Armbrust und beim Reiten weniger lästig. Aber einen Armschutz hatte sie nicht angelegt. Der Bogen sollte nur Eindruck machen. Theo bot ihr an, die Führung zu übernehmen, aber Alicia lehnte ab und nahm Mausamis Platz in der Nachhut ein. »Kümmert euch nicht um mich. Ich will nur frische Luft schnappen«, sagte sie und lenkte ihr Pferd an Arlos Seite. »Das hier ist dein Ritt, Theo. Gibt keinen Grund, die Befehlskette durcheinanderzubringen. Außerdem reite ich lieber mit diesem großen Kerl hier. Sein Geplauder hält mich wach.«
Peter hörte, wie sein Bruder seufzte. Er wusste, dass Alicia ihm manchmal auf die Nerven ging. Sie sollte ein bisschen vorsichtiger sein, hatte er schon mehr als einmal zu Peter gesagt, und er hatte recht: Ihre Zuversicht grenzte an Leichtfertigkeit. Theo drehte sich im Sattel um und schaute an Finn und Rey vorbei. Die zwei hatten die ganze Szene mit wortloser Gleichgültigkeit verfolgt. Wer mit wem ritt, war Sache der Wächter. Was interessierte es sie?
»Ist es dir recht, Arlo?«
»Na klar.«
»Weißt du, Arlo«, sagte Alicia, und ihre Ausgelassenheit ließ ihre Stimme heller klingen, »ich habe mich immer gefragt, ob es stimmt, dass Hollis sich den Bart abrasiert hat, damit Leigh euch beide auseinanderhalten kann.«
Es war allgemein bekannt, dass die Brüder Wilson als junge Männer mehr als einmal die Freundinnen getauscht hatten, angeblich immer völlig unbemerkt.
Arlo lächelte vielsagend. »Da musst du Leigh fragen.«
Aber jetzt war keine Zeit mehr zum Reden. Sie hatten sich bereits verspätet. Theo gab den Befehl zum Abmarsch, doch als sie sich dem Tor näherten, hörten sie hinter sich jemanden rufen.
»Anhalten! Haltet am Tor!«
Peter drehte sich um und sah, dass Michael Fisher ihnen nachlief. Michael war Erster Ingenieur für Licht und Strom. Wie Alicia war er mit seinen gerade achtzehn Jahren sehr jung für diesen Posten. Aber alle männlichen Fishers waren Ingenieure gewesen, und Michael war gleich nach der Entlassung aus der Zuflucht bei seinem Vater in die Lehre gegangen. Niemand begriff genau, was die Ingenieure eigentlich taten. Licht und Strom war mit Abstand das am höchsten spezialisierte Gewerbe. Man wusste nur dies: Sie sorgten dafür, dass der Strom den Berg herauffloss und die Scheinwerfer nachts in der Kolonie brannten – eine Leistung, die an Zauberei grenzte und zugleich völlig selbstverständlich war. Schließlich ging das Flutlicht ja Abend für Abend an.
»Gut, dass ich euch noch erwischt habe.« Michael schnappte nach Luft. »Wo ist Maus? Ich dachte, sie reitet mit euch.«
»Das soll dich nicht kümmern, Akku«, rief Alicia von hinten. Ihr Pferd, eine kastanienbraune Stute namens Omega, scharrte ungeduldig mit den Hufen. »Theo, können wir bitte einfach losreiten?«
Leise Verärgerung huschte über Michaels Gesicht. In solchen Momenten kniff er die Augen unter den strohblonden Haaren zusammen, seine blassen Wangen liefen rot an, und er sah noch jünger aus, als er war. Wortlos reichte er Theo den Gegenstand hinauf, den er mitgebracht hatte. Es war ein Rechteck aus grünem Kunststoff, dessen Oberfläche mit glänzenden Metallpunkten verziert war.
»Okay.« Theo drehte die Platte hin und her und betrachtete sie. »Ich gebe auf. Was ist das?«
»Das nennt man ein Motherboard.«
»Hey«, rief Alicia. »Können wir endlich los?«
Michael sah sie an. »Weißt du, es würde dich nicht umbringen, wenn du dich ein bisschen mehr dafür interessieren würdest, wie wir die Scheinwerfer in Betrieb halten.«
Alicia zuckte die Achseln. Die Feindseligkeit zwischen den beiden war allgemein bekannt. Sie zankten sich in einem fort, wie zwei Eichhörnchen. »Ihr drückt auf einen Knopf, und sie gehen an. Was gibt’s da zu kapieren?«
»Das reicht, Lish.« Theo sah Michael an: »Braucht ihr so ein Ding?«
Michael zeigte mit dem Finger auf die Platte. »Siehst du das da? Das kleine schwarze Viereck? Das ist der Mikroprozessor. Es braucht euch nicht zu kümmern, was er tut. Achtet nur darauf, dass die gleichen Zahlen draufstehen, wenn’s geht, aber alles, was mit einer Neun endet, müsste eigentlich funktionieren. Wahrscheinlich könntet ihr genau den gleichen in jedem Desktop-Computer finden, aber die Kakerlaken fressen den Klebstoff. Also versucht, einen zu finden, der sauber und trocken ist, ohne Insektenkacke. Vielleicht probiert ihr es in den Büros am Südende der Mall.«
Theo betrachtete das Motherboard noch einmal und schob es dann in seine Satteltasche. »Okay. Das hier ist zwar kein Abstaubertrip, aber wenn wir es dazwischenschieben können, machen wir’s. Sonst noch was?«
Michael runzelte die Stirn. »Ein Kernreaktor wäre praktisch. Oder ungefähr dreitausend Kubikmeter negativ ionisierter Wasserstoff in einem Protonenaustauschaggregat.«
»Um Himmels willen«, stöhnte Alicia, »sprich Englisch, Akku. Kein Mensch weiß verdammt noch mal, wovon du redest. Theo, können wir bitte losreiten?«
Michael warf ihr einen letzten wütenden Blick zu und wandte sich noch einmal an Theo. »Nur das Motherboard. Bringt mehr als eins mit, wenn ihr könnt, und denkt daran, was ich über den Klebstoff gesagt habe. Und – Peter?«
Peters Blick war zum Tor hinausgewandert. Draußen war die Herde nur noch als Staubwolke in der Morgensonne zu sehen, die den Hang hinauf zur Oberen Weide wehte. Aber er hatte nicht an die Herde gedacht, sondern an Mausami, an die Panik in ihrem Blick, als sein Bruder die Hand nach ihr ausgestreckt hatte. Als habe sie Angst vor seiner Berührung, als sei sie ihr unerträglich.
Er schüttelte diese Gedanken ab und sah Michael an, der vor ihm stand.
»Meine Schwester hat mich gebeten, dir etwas auszurichten«, sagte Michael.
»Sara?«
»Nur – du weißt schon.« Michael zuckte die Achseln. »Sei vorsichtig.«
Das Kraftwerk war vierzig Kilometer weit entfernt, fast einen ganzen Tagesritt. Als sie kaum eine Stunde unterwegs waren, verstummten alle, sogar Arlo, eingelullt von der Hitze und der Aussicht auf den vor ihnen liegenden Tag. Die Straße, die vom Berg hinunterführte, war teilweise weggespült, und sie mussten absteigen und ihre Tiere am Zügel führen. Das Fett hatte jetzt erst richtig angefangen zu stinken, und Peter war froh, dass er vorn ritt, nicht in dieser Duftwolke. Die Sonne stand hoch und heiß am Himmel, und es ging kein Lüftchen. Der Wüstenboden unter ihnen glänzte wie gehämmertes Metall.
Am Mittag machten sie Rast. Die Schwerarbeiter ließen die Tiere saufen, und die andern kletterten vorsichtig auf einen Felsvorsprung, Theo und Peter auf der einen Seite, Arlo und Alicia auf der andern, und sie spähten zur Baumgrenze hinüber.
»Siehst du, da?«
Theo hielt das Fernglas in der Hand und deutete auf den Schatten der Bäume. Peter beschirmte seine Augen vor dem grellen Licht.
»Ich sehe nichts.«
»Nur Geduld.«
Dann sah Peter es. Zweihundert Meter weit entfernt, eine kaum erkennbare Bewegung, nicht mehr als ein Rascheln in den Ästen einer hohen Kiefer, ein leiser Nadelschauer, der herabrieselte. Peter hielt den Atem an. Hoffentlich war es nichts. Aber dann hörte er es wieder.
»Er ist auf der Jagd. Hält sich im Schatten«, sagte Theo. »Wahrscheinlich sucht er Eichhörnchen. Sonst gibt’s hier nicht viel. Muss einen verdammten Hunger haben, wenn er so bei Tage unterwegs ist.«
Theo pfiff lang gezogen und hohl durch die Zähne, um die andern aufmerksam zu machen. Alicia fuhr herum. Theo deutete mit zwei Fingern auf seine Augen und zeigte dann zu der Baumreihe hinüber. Er hob die Hand und krümmte sie zu einem Fragezeichen: Siehst du es?
Alicia antwortete mit einer geballten Faust: Ja.
»Los, Bruder.«
Sie kletterten von dem Felsen herunter und trafen sich bei dem Karren, wo Rey und Finn es sich auf den Fettschläuchen bequem gemacht hatten. Sie kauten Zwieback und reichten eine Plastikflasche mit Wasser hin und her.
»Wir können ihn mit einer der Stuten ködern«, sagte Alicia sofort. Sie fing an, mit einem langen Stock im Staub zu ihren Füßen zu zeichnen. »Wir tauschen das Wasser gegen Fett, führen sie hundert Meter näher an die Bäume heran und warten ab, ob er anbeißt. Wahrscheinlich hat er schon etwas gewittert. Wir verteilen uns auf drei Positionen, hier, hier und hier« – sie malte die Punkte in den Sand –, »und dann nehmen wir ihn unter Feuer. Draußen in der Sonne kriegen wir ihn mühelos.«
Theo runzelte die Stirn. »Aber das hier ist keine Smoke-Jagd, Lish.«
Zum ersten Mal blickten Rey und Finn auf.
»Was denn, verdammt?«, fragte Rey. »Ist das euer Ernst? Wie viele sind denn da drüben?«
»Keine Sorge, wir hauen ab.«
»Theo, da ist nur der eine«, sagte Alicia. »Wir können ihn nicht einfach so ziehen lassen. Die Herde ist nur – wie viel? – vielleicht zehn Kilometer von hier.«
»Doch, das können und werden wir. Und wo einer ist, sind auch noch andere.« Theo sah Rey und Finn mit hochgezogenen Brauen an. »Können wir los?«
Rey stand hastig auf. »Verdammt, niemand sagt uns was. Lasst uns bloß schnell von hier verschwinden.«
Alicia musterte die anderen mit verschränkten Armen. Peter fragte sich, wie wütend sie jetzt war. Aber sie hatte es am Tor selbst gesagt: Das war die Befehlskette.
»Schön, du bist der Boss, Theo«, sagte sie schließlich.
Sie zogen weiter. Am Nachmittag waren sie am Fuße des Berges angekommen. Während der letzten Stunde des Abstiegs hatten sie den Turbinenpark immer vor Augen gehabt. Hunderte von Windturbinen standen verstreut auf der Ebene vor dem San-Gorgonio-Pass wie ein von Menschen gemachter Wald. Dahinter schimmerte eine zweite Bergkette im Dunst. Hier wehte ein heißer, trockener Wind, der ihnen die Worte von den Lippen riss und jedes Gespräch unmöglich machte. Mit jedem Meter, den sie hinunterstiegen, wurde die Luft heißer. Es war, als ritten sie in einen Glutofen hinein. Die Straße endete an der alten Stadt Banning. Von hier aus ging es auf der Östlichen Straße noch einmal zehn Kilometer weit landeinwärts bis zum Kraftwerk.
»Augen überall, Leute«, rief Theo durch das Rauschen des Windes. Einen Moment lang suchte er die Landschaft vor ihnen mit dem Fernglas an. »Bringen wir’s hinter uns. Lish an die Spitze.«
Peter war einen Augenblick lang verärgert. Er war auf Position zwei, und deshalb kam es ihm zu, die Spitze zu übernehmen. Aber er sagte nichts. Theos Entscheidung würde die Wogen zwischen Theo und Alicia glätten, und wenn sie am Kraftwerk ankämen, wären sie alle wieder Freunde. Theo gab ihr das Fernglas, und Alicia stieß ihrem Pferd die Fersen in die Flanken und ritt in flottem Trab fünfzig Meter voran. Ihr roter Zopf schwang in der Sonne hin und her. Ohne sich umzudrehen, hob sie die Hand und senkte dann die Handfläche parallel zum Boden. Sie stieß einen dünnen Pfiff aus; es klang wie der Ruf eines Vogels. Alles klar. Vorwärts.
»Also los«, sagte Theo.
Peter spürte, dass sein Herz schneller schlug. Nach der Monotonie des langen Ritts vom Berg herunter waren seine Sinne abgestumpft, aber jetzt erwachten sie wieder, und er nahm seine Umgebung mit verschärftem Bewusstsein wahr, als sehe er die Szenerie aus mehreren Blickwinkeln gleichzeitig. In gleichmäßigem Tempo ritten sie weiter, und sie hielten ihre Bögen schussbereit. Niemand sprach; nur Finn war vom Karren heruntergeklettert, führte die Maultierstute am Zügel und murmelte ihr beruhigende Worte zu. Der Weg, dem sie folgten, war kaum mehr als eine Sandpiste, zerfurcht von den Rädern der Karren, die hier seit vielen Jahren entlangfuhren. Peter empfand jedes Geräusch, jede Bewegung in der Landschaft wie ein Kribbeln in den Extremitäten: das leise Heulen des Windes durch ein zerbrochenes Fenster, das Flattern eines Segeltuchfetzens, der an einem schiefen Strommast hängen geblieben war, das Knarren eines längst unlesbaren Metallschilds, das über den Zapfsäulen einer alten Tankstelle hin und her schaukelte. Sie kamen an einem Haufen verrosteter Autos vorbei, halb im Sand begraben und ineinander verkeilt. Vor einem Häuserblock türmten sich Dünen, die fast bis unter das Dach reichten. Aus einer Wellblechhalle, ausgebleicht und rostzerfressen, wehte das Gurren von Tauben und, als sie mit dem Wind daran vorbeiritten, auch der Gestank ihres Kots.
»Augen auf, Leute«, wiederholte Theo. »Machen wir, dass wir schnell hier durchkommen.«
Schweigend erreichten sie die Stadtmitte. Die Gebäude hier waren größer. Sie hatten drei oder vier Geschosse, aber viele waren eingestürzt, sodass Lücken entstanden waren und Berge von gleichförmigem Schutt auf der Straße lagen. Autos und Lastwagen standen wild durcheinander am Straßenrand, manche mit offenen Türen – der Augenblick, in dem der Fahrer die Flucht ergriffen hatte, in der Zeit erstarrt –, aber in anderen, eingeschlossen unter der sengenden Wüstensonne, lagen verdorrte Leichen. »Slims« hießen sie: zerklüftete Knochenhaufen, über das Armaturenbrett gekrümmt oder an die Fenster gepresst, verschrumpelte Umrisse, die als menschliche Wesen nur noch an einem starren, immer noch mit einer Schleife zusammengebundenen Haarbüschel erkennbar waren, vielleicht auch am glänzenden Metall einer Armbanduhr an einer Knochenhand, die nach fast hundert Jahren immer noch das Lenkrad eines Pick-ups umklammerte, der bis an die Radkästen im Wüstenboden versunken war. Und das alles bewegungslos und still wie ein Grab, alles so, wie es seit der Zeit Davor gewesen war.
»Ich kriege Gänsehaut davon, Cousin«, sagte Arlo leise. »Einfach nicht hinsehen, sage ich mir immer, aber dann tu ich’s trotzdem jedes Mal.«
Als sie sich der Zufahrt zum Highway näherten, blieb Alicia unvermittelt stehen. Sie wendete ihr Pferd, hob die Hand und kam schnell zurück.
»Drei Döser unter der Trasse. Sie hängen an den Trägern an der Rückseite.«
Theo nahm diese Nachricht mit ausdrucksloser Miene auf. Das war anders als bei dem Viral, den sie an der Bergstraße gesichtet hatten. Es kam nicht in Frage, sich mit einem ganzen Schwarm anzulegen, schon gar nicht so spät am Tag.
»Wir müssen einen weiten Bogen um sie machen und die nächste Auffahrt nehmen, Lish. Einverstanden?«
»Nichts dagegen. Dann los.«
Sie wandten sich nach Osten und folgten dem Highway in einem Abstand von hundert Metern. Die Sonne stand jetzt vier Handbreit über dem Horizont; es wurde allmählich knapp. Im freien Gelände würden sie mit dem Karren nur langsam vorankommen, und bis zur nächsten Rampe waren es noch zwei Kilometer.
»Ich geb’s ungern zu«, sagte Theo leise zu Peter. »Aber Lish hatte nicht unrecht. Auf dem Rückweg sollten wir ein Jagdkommando aufstellen und diesen Schwarm hier ausschalten.«
»Wenn sie dann noch da sind.«
Theo legte die Stirn in Falten. »Oh, die werden da sein. Ein einzelner Smoke, der Eichhörnchen jagt, ist eine Sache. Das hier ist was anderes. Die wissen, dass wir diese Straße benutzen.«
Was die Smokes wussten und was sie nicht wussten, war immer die Frage. Waren sie reine Instinktwesen, oder konnten sie denken? Konnten sie planen und Strategien entwickeln? Und wenn Letzteres stimmte, folgte dann nicht daraus, dass sie in einem gewissen Sinn immer noch Menschen waren? Die Menschen, die sie gewesen waren, bevor sie befallen worden waren? Vieles war einfach unverständlich. Zum Beispiel, warum manche sich der Mauer näherten und andere es nicht taten. Warum einige – wie der, den sie an der Straße gesehen hatten – es riskierten, am helllichten Tag auf die Jagd zu gehen. Ob ihre Angriffe, wenn sie kamen, reine Zufallsereignisse waren oder ob sie durch irgendetwas ausgelöst wurden. Unerklärlich war auch ihr typisches Auftreten, immer in Dreiergruppen, wobei die individuellen Aktionen miteinander koordiniert waren wie die Reime eines Gedichts. Man wusste nicht einmal, wie viele eigentlich da draußen unterwegs waren und durch die Dunkelheit streiften. Ja, die Kombination von Scheinwerfern und Mauer hatte die Kolonie fast hundert Jahre lang zu einem sicheren Ort gemacht. Die Erbauer schienen den Feind gut gekannt zu haben, oder doch wenigstens gut genug. Aber wenn Peter beobachtete, wie ein Schwarm sich am Rand des Scheinwerferlichts bewegte, wie er aus der Dunkelheit auftauchte und an der äußeren Umgrenzungslinie entlangpatrouillierte, um dann wieder zu verschwinden, wohin auch immer – wenn Peter das sah, hatte er jedes Mal das deutliche Gefühl, ein einzelnes Wesen zu beobachten, das lebendig und beseelt war, ganz gleich, was die Lehrerin sagen mochte. Den Tod verstand er: Im Leben war der Körper mit der Seele verbunden, und im Tode trennten sie sich. Das hatte er in den letzten Stunden seiner Mutter gelernt. Das Geräusch ihrer letzten rasselnden Atemzüge und dann die plötzliche Stille – da hatte er gewusst, dass die Frau, die sie gewesen war, nicht mehr existierte. Wie konnte irgendetwas ohne Seele weiterleben?
Sie erreichten die Rampe. Im Norden, vor den Ausläufern der Berge, erkannte Peter durch die Staubschleier die langgestreckten, flachen Umrisse der Empire Valley Outlet Mall. Er war schon oft mit Abstaubertrupps da gewesen. Das Einkaufszentrum war im Laufe der Jahre gründlich abgegrast worden, aber es war so riesig, dass man immer noch brauchbare Sachen finden konnte. The Gap war leergeräumt, J. Crew auch, genau wie Williams Sonoma, REI und die meisten Geschäfte am südlichen Ende in der Nähe des Atriums, aber es gab eine große Sears-Filiale mit Fenstern, die guten Schutz boten, und ein JC Penney mit einem Außeneingang, durch den man schnell hinauskommen konnte, und in beiden fanden sich immer noch brauchbare Sachen wie Schuhe und Werkzeug und Kochtöpfe. Ihm fiel ein, dass er vielleicht etwas für Maus suchen könnte, und vielleicht hatte Theo den gleichen Gedanken. Aber jetzt war dafür keine Zeit.
Im Sand am Anfang der Zufahrtsrampe stand eine Entfernungstafel, verbogen vom hartnäckigen Wind:
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Alicia ritt zu den andern zurück. »Drunter ist alles klar. Wir sollten uns beeilen.«
Die Straße war passabel, und sie kamen wieder gut voran. Ein glühend heißer Wind wehte durch den Pass herunter. Peters Haut und seine Augen waren trocken wie Zunder kurz vor dem Entflammen. Ihm wurde bewusst, dass er kein Wasser mehr gelassen hatte, seit sie haltgemacht hatten, um die Pferde zu tränken, und er ermahnte sich, aus seiner Flasche zu trinken. Theo suchte mit dem Fernglas die Gegend vor ihnen ab. Mit einer Hand hielt er locker den Zügel. Sie waren jetzt so nah herangekommen, dass Peter die Windräder deutlich genug sehen konnte, um zu erkennen, welche sich drehten und welche nicht. Er versuchte, die zu zählen, die es taten, aber er verlor schnell die Übersicht.
Der Schatten des Berges legte sich schon über das Tal, als sie die Östliche Straße verließen. Endlich kam ihr Ziel in Sicht: ein Betonbunker, halb im Talboden versenkt, umgeben von einem hohen Elektrozaun, auf dem so viel Strom war, dass alles, was ihn berührte, sofort verbrutzelte. Und dahinter die Starkstromleitung, eine mächtige, rostfarbene Röhre, die sich östlich am Berg hinaufzog, an dieser Wand aus weißem Fels, die ein natürliches Hindernis bildete. Theo stieg ab und nahm den Lederriemen mit dem Schlüssel von seinem Hals. Der Schlüssel öffnete ein Metallkästchen an einem Pfosten. Es gab zwei solche Kästchen, eins auf jeder Seite des Zauns. Darin war ein Schalter für den Strom und ein zweiter, der das Tor öffnete. Theo schaltete den Strom ab und trat zurück, als das Tor aufschwang.
»Los.«
Neben dem Kraftwerk war ein kleiner offener Schuppen, von einem Blechdach überschattet, mit Trögen für die Pferde und einer Pumpe. Alle tranken gierig und gossen sich das Wasser mit hohlen Händen über das schweißnasse Haar. Finn und Rey versorgten die Tiere, und die andern gingen zur Eingangstür. Theo drehte noch einmal den Schlüssel herum. Mit metallischem klunk öffnete sich das Schloss, und sie traten ein.
Ein Schwall kühler Luft wehte ihnen entgegen, und sie hörten das dumpfe Summen von Lüftungsventilatoren. Peter fröstelte in der plötzlichen Kälte. Eine Glühbirne unter einem Drahtgitter beleuchtete die Stahltreppe, die ins Kellergeschoss führte. Unten war eine zweite Tür, die offen stand. Dahinter lag der Turbinenkontrollraum. Noch weiter hinten waren Unterkünfte, eine Küche und Lagerkammern für Lebensmittel und Geräte. Dahinter führte eine Rampe hinauf zu dem Stall, in dem sie Pferde und Maultiere in der Nacht unterstellten.
»Jemand zu Hause?«, rief Theo und stieß die Tür mit dem Fuß weiter auf. »Hallo?«
Keine Antwort.
»Theo …«, sagte Alicia.
»Ich weiß«, sagte Theo. »Das ist komisch.«
Vorsichtig traten sie durch die Luke. Auf dem langen Tisch in der Mitte des Kontrollraums lagen die Wachsfladen mehrerer abgebrannter Bienenwachskerzen und die Überreste einer hastig beendeten Mahlzeit: Dosen mit Brei, Teller mit Zwieback, ein fettglänzender gusseiserner Topf, der anscheinend irgendein Fleischragout enthalten hatte. Alles sah aus, als sei es seit mindestens einem Tag nicht mehr angerührt worden. Arlo wedelte mit seinem Messer über dem Topf hin und her, und eine Wolke von Fliegen stob auseinander. Trotz der summenden Ventilatoren war die Luft stickig, und es stank nach Menschen und heißen Isolierungen. Das einzige Licht, ein blassgelbes Leuchten, kam von den Anzeigen an der Kontrolltafel, mit denen der Stromfluss von den Turbinen überwacht wurde. Darüber hing eine Uhr. Es war 18:45.
»Wo zum Teufel sind sie?«, fragte Alicia. »Ist mir etwas entgangen, oder ist es gleich Zeit für die Zweite Glocke?«
Sie durchstöberten die Unterkünfte und die Lagerräume und fanden bestätigt, was sie schon wussten: Der ganze Bunker war leer. Sie stiegen die Treppe hinauf und traten hinaus in die Hitze des frühen Abends. Rey und Finn erwarteten sie im Schatten des Blechdachs.
»Irgendeine Ahnung, wohin sie gegangen sein könnten?«, fragte Theo die beiden.
Finn hatte sein Hemd ausgezogen und zusammengeknüllt. Er tauchte es in den Wassertrog und wischte sich dann über Brust und Achseln. »Einer der Werkzeugkarren fehlt. Und ein Maultier.« Er legte den Kopf zur Seite, sah Rey an und dann wieder Theo, als wollte er sagen: So sieht meine Theorie aus. »Sie könnten noch draußen bei den Turbinen sein. Zander ist manchmal knapp dran.«
Zander Phillips war der Chef des Kraftwerks. Er war nicht besonders gesprächig und übrigens auch nicht besonders ansehnlich. Nach der langen Zeit hier draußen in Sonne und Wind war er verschrumpelt wie eine Rosine, und das Leben in der Isolation hatte ihn schroff, ja beinahe stumm gemacht. Angeblich hatte niemand je gehört, dass er auch nur fünf Worte hintereinander gesprochen hatte.
»Wie knapp?«
Finn zuckte die Schultern. »Hey, das weiß ich nicht. Frag ihn, wenn er zurückkommt.«
»Wer ist sonst noch hier unten?«
»Nur Caleb.«
Theo trat aus dem Schatten und spähte hinaus zum Windpark. Die Sonne senkte sich inzwischen hinter den Berg, und bald würde sein Schatten quer über das Tal bis hinüber zum Vorgebirge auf der anderen Seite reichen. Wenn es so weit wäre, würden sie die Türen verschließen müssen; daran war nicht zu rütteln. Caleb Jones war fast noch ein Kind, gerade mal fünfzehn Jahre alt, und wegen seiner Vorliebe für knöchelhohe Sportschuhe nannten ihn alle nur Hightop.
»Na, sie haben noch ’ne halbe Handbreit«, sagte Theo schließlich. Alle wussten es, aber es musste trotzdem gesagt werden. Theo sah nacheinander jeden an, um sich zu vergewissern, dass sie verstanden hatten, was er meinte. »Bringen wir die Tiere hinein.«
Sie führten die Tiere über die hintere Rampe in den Stall und verriegelten das Schott für die Nacht. Als sie damit fertig waren, war die Sonne hinter dem Berg verschwunden. Peter ließ Arlo und Alicia im Kontrollraum zurück und ging zu Theo, der am Tor wartete und das Turbinenfeld mit dem Fernglas absuchte. Er spürte das erste Prickeln der Nachtkälte an seinen Armen und an der sonnenverbrannten Haut im Nacken. Mund und Kehle waren wieder trocken, und der Geschmack von Staub und Pferden lag auf seiner Zunge.
»Wie lange warten wir noch?«
Theo antwortete nicht. Es war eine rhetorische Frage, der Versuch, die Stille mit Worten zu füllen. Irgendetwas war passiert, denn sonst wären Zander und Caleb inzwischen längst wiederaufgetaucht. Peter dachte an seinen Vater, und vermutlich tat Theo es auch: Demo Jaxon, der auf das Turbinenfeld hinausgeritten und spurlos verschwunden war. Wie lange mochten sie in jener Nacht gewartet haben, bevor sie das Tor vor Demo Jaxon verschlossen hatten?
Peter hörte Schritte hinter sich. Alicia kam von der Luke auf sie zu. Sie blieb neben ihnen stehen und schaute hinaus über das Feld, das allmählich in der Dunkelheit versank. Sie standen noch einen Augenblick lang wortlos da und sahen zu, wie die Nacht sich über das Tal schob. Als der Schatten des Berges die Hügel auf der anderen Seite erreichte, zog Alicia ein Messer und wischte es am Saum ihres T-Shirts ab.
»Ich sag’s nur ungern …«
»Nicht nötig.« Theo drehte sich zu den beiden um. »Okay, wir sind hier fertig. Schließen wir ab.«
Von-Tag-zu-Tag. So nannten sie es. Nicht an die Vergangenheit zu denken, die allzu voll von Verlust und Tod war, und nicht an die Zukunft, weil sie alle vielleicht keine Zukunft hatten. Vierundneunzig Seelen lebten unter den Flutlichtscheinwerfern, von Tag zu Tag.
Aber so war es für Peter nicht immer. In müßigen Augenblicken auf Wache, wenn alles ruhig war, oder wenn er in seiner Koje lag und auf den Schlaf wartete, dachte er oft unversehens an seine Eltern. Es gab Leute in der Kolonie, die immer noch vom Himmel sprachen, von einem Ort jenseits des körperlichen Daseins, zu dem die Seele nach dem Tod hinauffuhr, aber mit dieser Vorstellung hatte er nie etwas anfangen können. Die Welt war die Welt, ein Reich der Sinne, das man berühren, schmecken, fühlen konnte, und Peter vermutete, dass die Toten, wenn sie sich überhaupt irgendwo hinbegaben, in den Lebenden aufgingen. Vielleicht hatte die Lehrerin es ihm gesagt, vielleicht war er auch selbst darauf gekommen. Aber so lange er zurückdenken konnte, seit er aus der Zuflucht gekommen war und die Wahrheit über die Welt erfahren hatte, war er davon überzeugt, dass es so war. Solange er seine Eltern im Gedächtnis behalten konnte, würde ein Teil von ihnen weiterleben, und wenn er selbst eines Tages stürbe, würden diese Erinnerungen zusammen mit ihm in andere übergehen, die noch lebten. So würden sie alle – nicht nur Peter und seine Eltern, sondern alle, die schon gegangen waren und die noch kommen würden – immer weiterleben.
Die Gesichter seiner Eltern konnte er sich nicht mehr vor Augen rufen. Sie waren als Erstes verschwunden, schon nach wenigen Tagen. Wenn er an sie dachte, sah er sie weniger, als dass er sie fühlte. Es war eine Woge von erinnerten Empfindungen, die ihn wie Wasser durchflutete. Der sanfte Klang der Stimme seiner Mutter. Die Form ihrer Hände, blass und feingliedrig, aber zugleich kraftvoll, wenn sie ihrer Arbeit im Krankenrevier nachging, diesen und jenen berührte und Trost spendete, so gut es ging. Das Knarren der Stiefel seines Vaters, wenn er abends die Leiter der Schutzmauer hinaufstieg, wo Peter als Läufer zwischen den Posten unterwegs war. Und wie er wortlos an ihm vorbeiging und ihm zum Gruß nur eine Hand auf die Schulter legte. Die heiße, energiegeladene Atmosphäre des Wohnzimmers in den Tagen der Langen Ritte, wenn sein Vater, sein Onkel und die anderen Männer sich versammelten, um ihre Route zu planen. Und später dann der Klang ihrer Stimmen, wenn sie bis tief in die Nacht hinein auf der Veranda ihren selbstgebrannten Schnaps tranken und einander erzählten, was sie in den Darklands gesehen hatten.
Das hatte Peter sich gewünscht: sich als Teil von ihnen zu fühlen. Zu den Männern der Langen Ritte zu gehören. Aber er hatte immer gewusst, dass es nie dazu kommen würde. Wenn er im Bett lag und ihre Stimmen auf der Veranda hörte, ihren vollen, männlichen Klang, wusste er es, weil er sich kannte. Irgendetwas fehlte ihm. Er wusste keinen Namen dafür, er wusste nicht einmal, ob es einen Namen dafür gab. Es war mehr als nur Mut, mehr als Aufopferung, obwohl beides ein Teil davon war. Das einzige Wort, das ihm einfiel, war Größe. Das war es, was die Männer der Langen Ritte besaßen. Und Peter wusste, wenn der Tag käme, an dem einer der Jaxon-Söhne mit ihnen reiten durfte, dann wäre es Theo, den sein Vater zum Tor rief. Peter würde zurückbleiben.
Auch seine Mutter hatte das gewusst. Seine Mutter, die die Schmach seines Vaters und dann seinen letzten Ritt mit stoischem Gleichmut ertragen hatte, während jeder die Wahrheit kannte und niemand wagte, sie auszusprechen. Seine Mutter, die am Ende, als der Krebs ihr schon alles andere genommen hatte, noch immer kein böses Wort über ihren Vater gesprochen hatte, der sie alle verlassen hatte. Er lebt jetzt in seiner eigenen Zeit. Es war Sommer gewesen, ein Sommer wie jetzt, mit langen, glühend heißen Tagen, als sie sich ins Bett gelegt hatte. Theo war damals schon Vollwache – noch kein Captain, aber das sollte bald kommen. Die Aufgabe, ihre Mutter zu pflegen, war an Peter gefallen, und er hatte Tag und Nacht bei ihr gesessen, ihr beim Essen und Ankleiden und sogar beim Waschen geholfen, eine peinliche Intimität, die sie beide ertragen hatten, weil es unvermeidlich gewesen war. Sie hätte sich ins Krankenrevier legen können, wie es üblich war. Aber seine Mutter war die Erste Krankenschwester, und wenn Prudence Jaxon zu Hause in ihrem Bett sterben wollte, dann würde niemand ihr widersprechen.
Wenn Peter an diesen Sommer dachte, an diese langen Tage und endlosen Nächte, dann war es, als habe er diesen Abschnitt seines Lebens nie ganz hinter sich gelassen. Es erinnerte ihn an eine Geschichte, die die Lehrerin ihnen einmal erzählt hatte: Eine Schildkröte kroch auf eine Mauer zu. Jeder Schritt war jeweils nur halb so groß wie der vorherige, und auf die Weise kam sie nie ans Ziel. So hatte Peter sich gefühlt, als er seiner Mutter beim Sterben zusah. Drei Tage lang hatte sie in einem unruhigen Fieberschlaf verbracht, aus dem sie immer wieder erwachte, um gleich wieder wegzudämmern. Sie hatte kaum ein Wort gesprochen und nur die einfachsten Fragen beantwortet, die für ihre Pflege nötig waren. Ab und zu hatte sie einen Schluck Wasser getrunken, aber das war alles. Sandy Chou, die diensthabende Krankenschwester, war an jenem Nachmittag da gewesen, und sie hatte Peter gesagt, er solle sich auf das Ende gefasst machen. Es war dunkel im Zimmer; das Licht von den Scheinwerfern wurde von den Ästen des Baumes gedämpft, der vor dem Fenster stand. Schweiß glänzte auf ihrer bleichen Stirn, und ihre Hände – die Hände, denen Peter im Krankenrevier stundenlang bei der Arbeit zugesehen hatte – lagen reglos neben ihr. Seit es Abend geworden war, hatte Peter das Zimmer nicht mehr verlassen, damit sie nicht allein war, wenn sie aufwachte. Dass der Tod nur noch wenige Stunden entfernt war, wusste Peter. Sandy hatte keinen Zweifel daran gelassen. Aber eigentlich sagte es ihm die Reglosigkeit ihrer Hände auf der Decke, die ihre lange, geduldige Arbeit eingestellt hatten.
Wie nahm man Abschied? Würde es sie erschrecken, wenn er die Worte ausspräche? Und was würde die Stille ausfüllen, die danach käme? Bei seinem Vater hatte er keine Gelegenheit dazu gehabt, und in mancher Hinsicht war dies das Schlimmste gewesen. Er war einfach verschwunden, im Nichts. Was hätte er zu seinem Vater gesagt, wenn er es gekonnt hätte? Ein selbstsüchtiger Wunsch, aber er dachte es trotzdem: Nimm mich, hätte er gesagt. Nicht Theo. Mich. Bevor du gehst, entscheide dich für mich. Die Szene stand glasklar vor seinem geistigen Auge: Die Sonne ging auf, sie saßen auf der Veranda, nur sie beide, sein Vater schon für den Ritt gekleidet. Er klappte den Kompass mit dem Daumen auf und wieder zu, wie es seine Gewohnheit war. Aber die Szene hatte kein Ende. Nie hatte er sich vorstellen können, was sein Vater geantwortet hätte.
Und jetzt starb hier seine Mutter. Wenn der Tod ein Raum war, den die Seele betrat, dann stand sie auf der Schwelle, und trotzdem fand Peter nicht die richtigen Worte, um ihr zu sagen, was er empfand: dass er sie liebte, und dass sie ihm fehlen würde, wenn sie fort wäre. In ihrer Familie war es immer so gewesen – Peter war ihr Sohn, wie Theo der Sohn des Vaters war. Darüber wurde nie gesprochen; es war eine schlichte Tatsache. Peter wusste, dass es Fehlgeburten gegeben hatte, und mindestens ein Baby war zu früh zur Welt gekommen, aber etwas hatte mit ihm nicht gestimmt, und es war nach wenigen Stunden gestorben. Er glaubte, es sei ein Mädchen gewesen. Doch das war passiert, als Peter selbst noch klein gewesen war, noch in der Zuflucht, und deshalb wusste er nichts Genaues. Vielleicht war es das, was fehlte – nicht etwas in ihm, sondern in ihr –, und vielleicht war es der Grund, weshalb er die Liebe seiner Mutter immer so stark gespürt hatte. Er war derjenige, den sie behalten wollte.
Das erste weiche Licht des Morgens erfüllte die Fenster, als er hörte, wie ihre Atmung sich veränderte, in ihrer Brust stecken blieb wie ein Schluckauf. Eine schreckliche Sekunde lang glaubte er, der Augenblick sei gekommen, aber dann öffnete sie die Augen.
Mama?, sagte er und nahm ihre Hand. Mama, ich bin hier.
Theo, sagte sie.
Konnte sie ihn sehen? Wusste sie, wo er war? Mama, sagte er, ich bin Peter. Soll ich Theo holen?
Sie schien in sich hineinzuschauen, in eine Tiefe, die unendlich und grenzenlos war, ein Ort der Ewigkeit. Gib acht auf deinen Bruder, Theo, sagte sie. Er ist nicht stark wie du. Dann schloss sie die Augen und öffnete sie nicht mehr.
Er hatte seinem Bruder nie etwas davon gesagt. Es hatte keinen Sinn, fand er. Manchmal dachte er, vielleicht habe er sich verhört, oder vielleicht seien diese letzten Worte dem Delirium der Krankheit entsprungen. Aber das war Wunschdenken. Sosehr er sich auch bemühte, es umzudeuten, es war doch völlig klar, was sie gemeint hatte. Nach all den langen Tagen und Nächten, in denen er sie gepflegt hatte, war es Theo gewesen, den sie in ihrer letzten Stunde an ihrem Bett gesehen hatte. Und an den sie die letzten Worte ihres Lebens gerichtet hatte.
Über die verschwundene Mannschaft des Kraftwerks fiel kein Wort mehr. Sie fütterten die Tiere, aßen dann selbst und zogen sich in die Unterkunft zurück, einen engen, übelriechenden Raum mit Etagenbetten und schmutzigen, mit muffigem Stroh gefüllten Matratzen. Als Peter sich hinlegte, schnarchten Finn und Rey schon. Peter war es nicht gewohnt, so früh zu Bett zu gehen, aber er war jetzt seit vierundzwanzig Stunden auf den Beinen und döste bald ein.
Verwirrt wachte er ein paar Stunden später wieder auf. Seine Gedanken schwammen immer noch in den Strömungen angstvoller Träume. Seine innere Uhr sagte ihm, dass es Halbnacht oder später war. Die Männer schliefen alle, doch Alicias Koje war leer. Er stand auf und tappte durch den dunklen Flur in den Kontrollraum, und dort saß sie an dem langen Tisch und blätterte im Licht der Kontrolltafel in einem Buch. Die Uhr zeigte 02:33.
Sie hob den Kopf und sah ihn an. »Ich weiß nicht, wie du schlafen konntest bei dem Geschnarche.«
Er setzte sich ihr gegenüber auf einen Stuhl. »Habe ich ja nicht, nicht richtig jedenfalls. Was liest du da?«
Sie klappte das Buch zu und rieb sich die Augen. »Keine Ahnung. Ich hab’s im Lagerraum gefunden. Da stehen Kisten über Kisten davon.« Sie schob es über den Tisch. »Sieh es dir an, wenn du willst.«
Wo die wilden Kerle wohnen, stand auf dem Cover. Es war ein dünnes Buch und enthielt hauptsächlich Bilder: Ein kleiner Junge in einem Tierkostüm mit Ohren und Schwanz verfolgte einen kleinen weißen Hund mit einer Gabel. Peter blätterte die spröden, staubig riechenden Seiten um, eine nach der andern. Bäume wuchsen im Zimmer des Jungen, dann kam eine Mondnacht, dann eine Reise über das Meer zu einer Inseln mit lauter Ungeheuern.
»Diese ganze Sache, dass man ihnen in die Augen schauen soll«, sagte Alicia, und dann hielt sie sich den Handrücken vor den Mund und gähnte. »Ich weiß nicht, was das nützen soll.«
Peter klappte das Buch zu und legte es zur Seite. Er konnte sich auf all die Bilder keinen Reim machen, aber so war es mit den meisten Dingen aus der Zeit Davor. Wie hatten die Menschen damals gelebt? Was hatten sie gegessen, getrunken, was für Kleider getragen? Wie hatten sie sich verhalten? Waren sie im Dunkeln herumgelaufen, als wäre nichts dabei? Wenn es keine Virals gegeben hatte, wovor hatten sie dann Angst gehabt?
»Ich glaube, das ist alles erfunden.« Er zuckte die Achseln. »Nur eine Geschichte. Ich glaube, der Junge träumt.«
Alicia zog die Brauen hoch, und ihr Blick sagte: Wer weiß? Wer kann schon sagen, wie die Welt früher war?
»Ehrlich gesagt, ich hatte gehofft, dass du aufwachst«, erklärte sie. Sie stand auf und hob eine Laterne vom Boden auf. »Ich muss dir etwas zeigen.«
Sie führte ihn zurück, an den Unterkünften vorbei und in einen der Lagerräume. Auf Metallregalen stapelte sich Material: öliges Werkzeug, Rollen von Draht und Lötzinn, Plastikcontainer mit Wasser und Alkohol. Alicia stellte die Laterne auf den Boden, trat an eins der Regale und fing an, seinen Inhalt auf den Boden zu räumen.
»Und? Steh nicht einfach herum.«
»Was machst du da?«
»Na was schon! Und sprich nicht so laut. Ich will die andern nicht wecken.«
Als das ganze Regal ausgeräumt war, befahl Alicia ihm, sich an das eine Ende zu stellen, und sie ging zum anderen. Peter sah, dass das Regal eine Rückwand aus Sperrholz hatte, die die Wand dahinter verdeckte. Sie schoben es nach vorn.
In der Wand war eine Luke.
Alicia trat vor, drehte an einem Ring, und die Luke schwang auf. Dahinter lag ein enger, schlauchartiger Raum mit einer offenen Wendeltreppe aus Stahl. An der Wand stapelten sich Metallkisten. Die Treppe verschwand oben in der Dunkelheit, irgendwo über seinem Kopf. Die Luft war abgestanden und roch nach Staub.
»Wann hast du das denn entdeckt?« Peter war verblüfft.
»In der letzten Jahreszeit. Ich habe mich nachts gelangweilt und ein bisschen herumgeschnüffelt. Ich nehme an, es ist eine Art Fluchtweg, den die Erbauer hinterlassen haben. Die Treppe führt auf einen niedrigen Dachboden.«
Peter nahm die Laterne und deutete auf die Metallkisten. »Was ist da drin?«
»Das«, sagte sie und lächelte spitzbübisch, »ist das Beste überhaupt.«
Zusammen schleiften sie eine der Kisten zurück in den Lagerraum. Sie war aus Metall, einen Meter lang und halb so hoch, und auf der Seitenwand standen die Worte U. S. MARINE CORPS. Alicia kniete sich davor, klappte die Schließen hoch und öffnete den Deckel. Sechs lange, schwarze, ölig glänzende Objekte, in Schaumstoff gebettet, kamen zum Vorschein. Es dauerte einen Moment, bis Peter begriff, was er da sah.
»Heilige Scheiße, Lish.«
Sie reichte ihm eine der Waffen, ein langläufiges Gewehr. Es fühlte sich kühl an und roch leicht nach Öl. Verblüffend leicht lag es in seinen Händen, als sei es aus einem Material, das der Schwerkraft trotzte. Selbst in dem trüben Licht des Lagerraums sah er den schimmernden Glanz im Schliff der Mündung. Die Schusswaffen, die er bisher gesehen hatte, waren kaum mehr als verrostete Antiquitäten gewesen, Gewehre und Pistolen, die die Army zurückgelassen hatte. Die Wache hatte noch ein paar davon im Arsenal, aber soweit er wusste, war die Munition dafür schon vor Jahren aufgebraucht worden. Noch nie im Leben hatte Peter etwas so Neues und Sauberes gesehen, so unberührt vom Zahn der Zeit.
»Wie viele sind es?«
»Zwölf Kisten mit je sechs Gewehren, und etwas mehr als tausend Patronen. Oben unter dem Dach sind noch sechs Kisten.«
Seine ganze Nervosität war verflogen, und er gierte nur noch danach, dieses wunderbare neue Ding in seinen Händen zu benutzen und seine Macht zu fühlen. »Zeig mir, wie man es lädt«, sagte er.
Alicia nahm ihm das Gewehr aus der Hand und entriegelte das Magazin. Dann nahm sie einen Patronenclip aus der Kiste, schob ihn an seinen Platz vor dem Abzugbügel, drückte ihn nach vorn, bis er einrastete, und schlug zweimal mit der flachen Hand unter den Schaft.
»Man zielt wie mit einer Armbrust.« Sie wandte sich ab, um es zu demonstrieren. »Im Grunde ist es das Gleiche, nur mit sehr viel mehr Power. Aber lass den Finger vom Abzug. Damit sollte man nicht spaßen.«
Sie gab ihm die Waffe zurück. Ein geladenes Gewehr! Peter hob es an die Schulter und sah sich nach irgendetwas um, auf das es sich zu zielen lohnte. Schließlich entschied er sich für eine Rolle Kupferdraht auf dem Regal gegenüber. Der Drang, zu schießen, die explosive Wucht des Rückstoßes an der Schulter zu spüren, war so stark, dass es fast körperliche Anstrengung erforderte, den Gedanken beiseitezuschieben.
»Vergiss nicht, was ich dir über den Abzug gesagt habe«, warnte Alicia. »Du hast zwanzig Schuss pro Magazin. Jetzt lade dieses hier, damit du weißt, wie es geht.«
Sie nahm ihm das geladene Gewehr ab und gab ihm ein neues. Peter versuchte sich an die einzelnen Schritte zu erinnern: Sicherung, Magazinverschluß, Patronenclip. Als er fertig war, schlug er zweimal kräftig an den Rahmen, wie er es bei Alicia gesehen hatte.
»Wie war das?«
Alicia sah ihm prüfend zu. Sie hielt ihr eigenes Gewehr so, dass der Schaft an ihrer Hüfte lag. »Nicht schlecht. Ein bisschen langsam. Und halt es nicht so, sonst schießt du dir in den Fuß.«
Hastig hob er den Lauf. »Ich dachte, du hältst nicht viel von diesen Dingern.«
Sie zuckte die Achseln. »Tue ich eigentlich auch nicht. Sie sind unsauber, sie sind laut, und sie wiegen dich in falsche Sicherheit.« Sie gab ihm einen zweiten Clip für seine Hüfttasche. »Andererseits, die Smokes sind damit ziemlich gut in Schach zu halten, wenn man es richtig anstellt.« Sie klopfte mit dem Finger an ihr Brustbein. »Ein Schuss, genau auf den Sweetspot. Auf weniger als drei Meter kann es kaum schiefgehen. Aber verlass dich nicht drauf.«
»Dann hast du schon mal so ein Gewehr benutzt.«
»Habe ich das gesagt?«
Peter wusste, dass es keinen Sinn hatte, weiter zu bohren. Zwölf Kisten mit Army-Gewehren. Wie sollte Alicia da widerstehen?
»Wem gehören die Dinger?«
»Woher soll ich das wissen? Soweit ich sehe, sind sie Eigentum des United States Marine Corps, wie es auf den Kisten steht. Hör auf mit der Fragerei, und lass uns gehen.«
Sie traten wieder durch die Luke und stiegen die Treppe hinauf. Mit jeder Stufe wurde es wärmer. Zehn Meter weiter oben erreichten sie eine kleine Plattform mit einer weiteren Leiter, und in der Decke über ihren Köpfen war eine weitere Luke. Alicia stellte die Laterne auf die Plattform, reckte sich auf den Zehenspitzen hoch und drehte an dem Rad. Sie schwitzten beide wie verrückt. Die Luft war so stickig, dass sie fast nicht atmen konnten.
»Sie klemmt.«
Er hob die Arme und half ihr. Mit einem Quietschen gab der Mechanismus nach. Zwei Drehungen, drei, und dann klappte die Luke an ihren Scharnieren herunter. Kühle Nachtluft floss wie ein Wasserschwall durch die Öffnung herunter. Sie roch nach Wüste, trockenen Zypressen und Büffelgras. Über sich sah Peter nichts als ein tiefes Schwarz.
»Ich gehe zuerst«, sagte Alicia. »Ich rufe dich.«
Sie stieg nach oben, und kurz darauf hörte er, wie ihre Schritte sich entfernten. Er lauschte, mit einem Mal war es still. Sie war irgendwo auf dem Dach, und es gab kein Licht, das sie schützte. Er zählte bis zwanzig, bis dreißig. Sollte er ihr folgen?
Dann erschien Alicias Gesicht über ihm in der offenen Luke. »Lass die Laterne unten. Alles klar. Komm hoch.«
Er stieg die Leiter hinauf, holte tief Luft und trat nach draußen.
Unter die Sterne.
Zuerst war es wie ein Schlag vor die Brust, der die Luft aus seiner Lunge presste, ein Gefühl von nackter Panik, als sei er ins Nichts hinausgetreten, in den Nachthimmel. Seine Knie gaben nach, und mit der freien Hand griff er in die Luft, um sich irgendwo festzuhalten und ein Gefühl für Form und Gewicht zu finden, für die gültigen Dimensionen der Welt um ihn herum. Der Himmel über ihm war ein schwarzes Gewölbe – und überall waren Sterne!
»Peter, atmen«, sagte Alicia.
Er merkte, dass ihre Hand auf seiner Schulter lag. In der Dunkelheit schien Alicias Stimme aus nächster Nähe und zugleich aus weiter Ferne zu kommen. Er tat, was sie sagte, und sog die Nachtluft tief in seine Brust. Nach und nach passten seine Augen sich an. Jetzt konnte er die Dachkante erkennen, und dahinter das Nichts. Sie waren an der südwestlichen Ecke, erkannte er, in der Nähe des Abluftauslasses.
»Und – was sagst du?«
Er schwieg eine ganze Weile und ließ den Blick über den Himmel wandern. Je länger er hinsah, desto mehr Sterne erschienen. Sie drangen durch die Finsternis. Das waren die Sterne, von denen sein Vater erzählt hatte, die Sterne, die er auf den Langen Ritten gesehen hatte.
»Weiß Theo davon?«
Alicia lachte. »Weiß Theo wovon?«
»Von der Luke. Den Gewehren.« Er zuckte hilflos die Achseln. »Von allem.«
»Ich hab es ihm nie gezeigt, wenn du das meinst. Ich nehme an, dass Zander es weiß, denn er kennt jeden Zollbreit hier. Aber zu mir hat er nie ein Wort darüber verloren.«
Sein Blick suchte ihr Gesicht. Im Dunkeln erschien sie irgendwie verändert. Sie war die Alicia, die er schon immer gekannt hatte, aber sie war auch jemand Neues. Er begriff, was sie getan hatte: Sie hatte das alles für ihn aufgehoben.
»Danke.«
»Bilde dir deswegen bloß nicht ein, dass du was Besondres bist oder so was. Wenn Arlo vor dir aufgewacht wäre, dann stände er jetzt hier.«
Das stimmte nicht, und das wusste er.
»Trotzdem«, sagte er.
Sie führte ihn an den Rand des Daches. Der Blick ging nach Norden über das leere Tal. Es war völlig windstill. Die Umrisse der Berge auf der anderen Seite hoben sich dunkel vom Himmel ab und ragten hinauf in den schimmernden Sternenkranz. Sie legten sich nebeneinander bäuchlings auf den noch sonnenwarmen Beton.
»Hier.« Alicia nahm etwas aus ihrem Beutel. »Das brauchst du.«
Ein Nachtsichtgerät. Sie zeigte ihm, wie man es oben auf dem Gewehr anbrachte und einstellte. Peter schaute schon durch das Okular und sah eine von fahlgrünem Licht übergossene Landschaft aus Büschen und Steinen, geteilt von einem Fadenkreuz. Am unteren Rand des Bildes sah er eine Anzeige: 212 Meter. Die Zahl stieg an und nahm ab, wenn er den Lauf hin und her schwenkte. Einfach unglaublich.
»Glaubst du, sie leben noch?«
Alicia antwortete nicht gleich. »Ich weiß es nicht«, sagte sie dann. »Wahrscheinlich nicht. Kann aber nicht schaden, zu warten.« Wieder schwieg sie. Es gab nicht viel dazu zu sagen. »Glaubst du, ich war heute zu streng zu Maus?«
Die Frage überraschte ihn. Solange er Alicia kannte, hatte sie noch nie nachträgliche Bedenken geäußert.
»Nein, du hast es richtig gemacht.«
»Aber sie ist ein Verlust für die Wache. Das kannst du nicht bestreiten.«
»Egal. Du hast es selbst gesagt. Maus kennt die Regeln so gut wie jeder andere.«
»Ich würde lieber sie als Galen behalten.« Sie stöhnte. »Was zum Teufel findet sie bloß an diesem Kerl?«
Peter hob den Kopf. Der Himmel war so übersät von Sternen – fast war es, als könnte er die Hand ausstrecken und sie berühren. Noch nie im Leben hatte er etwas so Schönes gesehen. Er musste an die Ozeane denken, an ihre Namen in dem Buch, die klangen wie Worte aus einem Lied – Atlantik, Pazifik, Indischer Ozean, Polarmeer –, und an seinen Vater, der am Meeresufer gestanden hatte. Vielleicht waren die Sterne das, was Auntie gemeint hatte, wenn sie von Gott sprach. Von dem alten Gott, aus der Zeit Davor. Vom Gott des Himmels, der über die Welt wachte.
»Musst du je …«, begann Alicia, »ich weiß nicht … daran denken?«
Peter sah sie an. Sie spähte immer noch durch das Nachtsichtgerät.
»Woran denken?«
Alicia lachte nervös. Das hatte er noch nie von ihr gehört. »Muss ich es wirklich aussprechen? Dich zu verheiraten, Peter. Kinder zu bekommen.«
Doch. Natürlich hatte er daran gedacht. Fast alle verheirateten sich, wenn sie erst zwanzig waren. Aber die Arbeit bei der Wache machte es schwer. Man war die ganze Nacht auf und verschlief fast den ganzen Tag, oder man lief halb benebelt vor Erschöpfung herum. Aber wenn Peter sich dieser Frage ernsthaft stellte, wusste er, dass das nicht der einzige Grund war. Etwas an dieser Vorstellung erschien ihm einfach unmöglich, sie traf auf andere zu, aber nicht auf ihn. Es hatte Mädchen in seinem Leben gegeben, und dann auch ein paar, die er als Frauen bezeichnet hätte, und jede hatte ein paar Monate in Anspruch genommen und ihn in einen Zustand versetzt, in dem sie für kurze Zeit praktisch das Einzige war, woran er dachte. Aber am Ende hatte er sich immer wieder von ihnen entfernt oder sie aus irgendeinem unerklärlichen Grund zu jemand anderem manövriert, den er besser geeignet fand.
»Eigentlich nicht, nein.«
»Und was ist mit Sara?«
Er spürte, dass er in Abwehrstellung ging. »Was soll mit ihr sein?«
»Ach, komm, Peter.« Sie klang genervt. »Ich weiß, dass sie sich mit dir zusammentun will. Das ist kein Geheimnis. Sie kommt auch aus einer Ersten Familie, und es wäre eine gute Verbindung. Das finden alle.«
»Was hat denn das damit zu tun?«
»Ich sag’s nur. Liegt doch auf der Hand.«
»Na, für mich nicht.« Er schwieg kurz. So hatten sie noch nie miteinander gesprochen. »Hör zu, ich mag Sara. Ich bin nur nicht sicher, ob ich sie heiraten will.«
»Aber willst du es? Ich meine, heiraten?«
»Eines Tages. Vielleicht. Lish, warum fragst du mich das?«
Wieder drehte er sich um und sah sie an. Sie spähte durch ihr Zielfernrohr ins Tal und schwenkte den Gewehrlauf dabei langsam über den Horizont.
»Lish?«
»Warte. Da bewegt sich was.«
Er ging wieder in Position. »Wo?«
Alicia hob kurz das Gewehr und deutete auf »zwei Uhr«.
Er schaute durch sein Nachtsichtgerät. Eine einzelne Gestalt huschte von einem Busch zum nächsten, etwa hundert Meter weit vor dem Zaun. Ein Mensch.
»Das ist Hightop«, sagte Alicia.
»Woher weißt du das?«
»Er ist zu klein für Zander. Und sonst ist hier draußen niemand.«
»Ist er allein?«
»Ich kann’s nicht erkennen. Warte. Nein. Zehn Grad nach rechts.«
Peter schwenkte hin. Etwas leuchtete grün, hüpfte über den Wüstenboden wie ein flacher Stein. Dann sah er den zweiten und den dritten Viral, noch zweihundert Meter weit entfernt, aber sie kamen näher.
»Was machen sie denn? Warum greifen sie ihn sich nicht einfach?«
»Ich weiß es nicht.«
Dann hörten sie es.
»Hey!« Das war Calebs Stimme, schrill und wild und voller Angst. Er rannte jetzt auf den Zaun zu und wedelte mit den Armen. »Macht das Tor auf, macht das Tor auf!«
»Scheiße!« Alicia sprang auf. »Komm schon.«
Sie sprangen hinunter in die Dachkammer, und Alicia riss eine der Kisten neben der Luke auf und nahm eine Art Pistole heraus – ein kurzes Ding mit einem dicken, stumpfnasigen Lauf. Peter hatte keine Zeit, zu fragen, was es war. Sie rannten zurück aufs Dach, und Alicia hob die Pistole über das Turbinenfeld und drückte ab.
Die Leuchtkugel schoss in den Himmel und zog einen zischenden Lichtstreifen hinter sich her. Peter wusste instinktiv, dass er nicht hinschauen sollte, aber er konnte nicht anders. Er tat es doch, und sofort brannte sich der weißglühende Kern der Leuchtkugel in seine Netzhaut. Im Zenit ihrer Flugbahn schien sie zu verharren, schwebend im Raum, und dann explodierte sie und tauchte das Turbinenfeld in helles Licht.
»Damit hat er eine Minute«, sagte Alicia. »Hinten führt eine Leiter nach unten.«
Sie schlangen sich die Gewehre über die Schulter. Alicia war als Erste bei der Leiter und rutschte daran hinunter wie an zwei Stangen, ohne dass ihre Füße die Sprossen berührten. Während Peter noch hinunterkletterte, schoss sie eine zweite Leuchtkugel in den Himmel. Dann rannten sie los.
Caleb stand vor dem Tor im Elektrozaun. Die Virals waren ins Dunkel zurückgewichen. »Bitte! Lasst mich rein!«
»Scheiße, wir haben keinen Schlüssel«, rief Peter.
Alicia riss das Gewehr von der Schulter und zielte auf den Stahlkasten. Eine Explosion von Feuer und Lärm – und in einem Funkenregen flog der Schaltkasten von seinem Pfosten.
»Caleb, klettere über den Zaun!«
»Dann werde ich gegrillt!«
»Nein, wirst du nicht, jetzt ist kein Strom mehr drauf!« Sie sah Peter an. »Glaubst du, der Strom ist weg?«
»Woher soll ich das wissen?«
Alicia trat einen Schritt vor, und ehe Peter etwas sagen konnte, drückte sie die flache Hand an den Drahtzaun. Nichts passierte.
»Beeilung, Caleb!«
Caleb krallte die Finger zwischen die Maschen und fing an zu klettern. Ringsumher wurden die Schatten länger, als die zweite Leuchtkugel heruntersank. Alicia zog eine Leuchtpatrone aus ihrem Beutel, lud die Pistole damit und feuerte sie ab. Die Leuchtkugel zog ihren Rauchschweif hinter sich her, höher und höher, und dann zerbarst sie über ihnen in grellem Licht.
»Das war die letzte«, sagte Alicia zu Peter. »Wir haben ungefähr zehn Sekunden Zeit, bis sie begreifen, dass der Strom aus ist.« Caleb saß jetzt rittlings oben auf dem Zaun. »Caleb«, schrie sie, »beweg deinen Arsch!«
Er ließ sich die letzten fünf Meter herunterfallen, rollte beim Landen zur Seite und war gleich wieder auf den Beinen. Seine Wangen waren tränennass und verschmiert mit Dreck und Rotz, und er war barfuß. In ein paar Sekunden würde es wieder stockdunkel sein.
»Bist du verletzt?«, fragte Alicia. »Kannst du rennen?«
Der Junge nickte.
Sie liefen los. Peter fühlte die Virals, bevor er sie kommen sah. Als er sich umdrehte, war der erste oben auf dem Zaun und katapultierte sich zu ihnen herein. Neben seinem Ohr knallte ein Schuss. Die Kreatur krümmte sich in der Luft, stürzte zu Boden und sackte auf die harte Erde. Peter fuhr herum. Alicia hatte den Gewehrkolben an der Schulter und zielte auf den Zaun. Rasch hintereinander gab sie noch drei Schüsse ab.
»Bring ihn weg!«, schrie sie.
Er rannte mit Caleb zur Leiter. Hinter ihnen feuerte Alicia immer weiter. Ihre Schüsse hallten durch den Vorhof. Mehrere Virals waren jetzt innerhalb der Umzäunung. Peter schlang sich das Gewehr über die Schulter und kletterte die Leiter hinauf. Oben auf dem Dach drehte er sich um. Alicia kam rückwärts auf den Bunker zu. Als ihr Magazin leer war, warf sie das Gewehr weg und stieg die Leiter herauf. Peter nahm seins von der Schulter, zielte ungefähr in die Richtung, in die sie geschossen hatte, und drückte ab. Der Lauf flog in die Höhe, und die Kugel schwirrte blindlings in die Dunkelheit. Er zitterte am ganzen Körper von diesem Gefühl, von der unbändigen Wucht des Rückstoßes.
»Pass doch auf! Und du musst zielen, um Himmels willen!«
»Ich versuch’s ja!« Es waren jetzt drei, die aus der Dunkelheit auf die Leiter zukamen. Peter trat einen Schritt nach rechts und drückte den Kolben fest an die Schulter. Man zielt wie mit einer Armbrust. Seine Chance, einen Viral zu treffen, war gering, aber vielleicht konnte er sie zurücktreiben. Er drückte ab, und sie sprangen davon, huschten zurück in die Dunkelheit. Ein paar Sekunden hatte er gewonnen.
»Halt den Mund, und komm endlich herauf!«, schrie er.
»Ja, wenn du aufhörst, auf mich zu schießen!«
Dann war sie oben. Er packte ihre Hand und zog mit aller Kraft, und sie sprang auf das Dach. Caleb stand an der Luke und fuchtelte mit den Armen. »Hinter euch!«
Alicia kletterte durch die Luke, und Peter drehte sich um. Ein Viral stand an der Dachkante. Peter riss das Gewehr hoch und schoss, aber zu spät. Die Bestie war schon verschwunden.
»Vergiss die Smokes!«, rief Alicia von unten.
Er ließ sich einfach durch die Öffnung fallen und landete auf Caleb, der ächzend unter ihm einknickte. Ein stechender Schmerz zuckte durch seinen Fußknöchel, und sein Gewehr fiel klappernd zu Boden. Alicia sprang über sie beide hinweg und streckte sich, um die Luke zu schließen. Aber etwas drückte von außen dagegen. Alicia verzerrte das Gesicht vor Anstrengung, und ihre Füße suchten auf der Leitersprosse nach einem Halt.
»Ich … krieg sie nicht … zu!«
Peter und Caleb sprangen auf und halfen ihr, aber der Druck von der anderen Seite war zu stark. Peter hatte sich den Knöchel verstaucht, fühlte den Schmerz jedoch nur undeutlich. Er sah sich nach seinem Gewehr um und entdeckte es bei der Treppe.
»Lasst los«, sagte er. »Lasst die Luke herunterfallen. Anders geht’s nicht.«
»Bist du verrückt?« Aber dann sah er ihren Augen an, dass sie begriff, was er vorhatte. »Gut, mach’s.« Sie sah Caleb an, und der nickte. »Fertig?«
»Eins … zwei …«
»Drei!«
Sie ließen die Falltür los. Peter warf sich auf das Gewehr, riss es herum und stieß die Mündung nach oben durch die Öffnung. Zum Zielen war keine Zeit, aber er hoffte, dass es gar nicht nötig wäre.
Und das war es auch nicht. Der Lauf fuhr geradewegs in den offenen Mund des Virals, glitt wie ein Speer vorbei an den Reihen glänzender Zähne bis an den knochigen Grat über dem Schlund. Peter sah ihm in die Augen und dachte: Halt still. Mit einem letzten, harten Stoß rammte er die Mündung hinein, und dann jagte er Zander Phillips eine Kugel ins Hirn.