13 Uhr 01. Petersdom
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Matthias starrte auf die beiden Männer, die nebeneinander und mit auf dem Rücken gefesselten Händen hinter dem Hochaltar standen. Papst Alexander IX. hatte den Oberkörper etwas nach vorne gebeugt. Es fiel ihm offensichtlich schwer, sich auf den Beinen zu halten. Kardinal Voigt war so dicht an ihn herangetreten, dass er ihn, trotz der gefesselten Hände, zumindest mit der Schulter ein wenig stützen konnte.
Matthias drehte sich zu dem Mann um, der ihn noch immer anlächelte. Als Matthias nur noch etwa zehn Schritte von ihm entfernt gewesen war, hatte er aus der Innentasche seines schwarzen Sakkos eine Pistole gezogen und sie auf den Deutschen gerichtet.
»Damit wir unser Gespräch in Ruhe führen und ich meine Aufgabe ungestört beenden kann«, hatte er erklärt.
Nun sah Matthias ihm voller Abscheu in die Augen. Es war fast nicht zu glauben, wie sehr dieser Mann sich verändert hatte.
»Was sind Sie nur für ein Monster, Bertoni. Zu was sind Sie noch fähig?«
Das Lächeln wurde breiter und gemeiner. »Das ist das perfekte Stichwort, von Keipen, denn in der Tat habe ich noch einiges vor.« Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Für halb zwei habe ich die Reporter bestellt. Zum großen Finale, wie Sie sich denken können.« Seine Stimme klang dabei so, als würde er ihm die Szene eines Theaterstückes erklären. »Es ist jetzt drei Minuten nach eins. Wenn Sie also noch Fragen haben, beantworte ich sie Ihnen mit Freude, denn es ist mir wichtig, dass Sie die Gründe für all das kennen, bevor Sie ... Sie wissen schon ... Wenn ich Sie also bitten dürfte, Herr von Keipen« – Bertoni deutete mit der Pistole auf die beiden gefesselten Männer – »gesellen Sie sich zu meinem alten Freund Massimo und Ihrem Landsmann. Das vereinfacht die Sache.«
Als Matthias nicht sofort reagierte, hob Bertoni die Waffe etwas höher und zielte damit auf seine Stirn, so dass er schnell zu Voigt trat, den er lange ansah.
»Sie haben gestern Nacht mit Ihrem Anruf dafür gesorgt, dass Seine Heiligkeit sein Zimmer verlassen hat und entführt werden konnte. Warum?«
Voigt zog die Mundwinkel nach unten. »Bertoni stand während des Telefonats hinter mir. Mit der Pistole in der Hand behauptete er, er habe einen Sprengsatz unter dem Apostolischen Palast deponiert, den er zünden und der alles zerstören und alle Bewohner töten würde, wenn ich nicht anrufe. Ich habe ihm erst kein Wort geglaubt. Dann aber sagte er mir, wer er ist und woher er Sie kennt. Da wurde mir klar, dass alles möglich ist.«
»Nun, zu diesem Zeitpunkt war die Sache mit dem Sprengsatz vielleicht noch ein wenig übertrieben, Kardinal, aber mittlerweile stimmt es, und es geht sogar noch um einiges weiter, wie Sie ja mitbekommen haben. Aber dazu gleich mehr.«
Bertoni schien die Situation sichtlich auszukosten und grinste Matthias unverschämt an.
Als Matthias keine Anstalten machte, die Fragen zu stellen, die Bertoni erwartete, zog er einen der Stühle heran, die seitlich des Altars für die Messdiener bereitstanden. Er platzierte ihn weit genug von den dreien weg, so dass Matthias ihn nicht mit einem Sprung überraschen konnte, und ließ sich gemächlich darauf nieder. Die Waffe hielt er die ganze Zeit über auf den Papst gerichtet.
»Meine Vergangenheit ist eng mit der Ihres Vaters verknüpft«, begann er und sorgte schon mit diesem ersten Satz dafür, dass Matthias’ Knie weich wurden.
»Wie Sie sich bestimmt erinnern, war Ihr Vater nicht nur ein intelligenter, sondern auch ein sehr misstrauischer Mensch. Als die ersten Mitglieder der Simonischen Bruderschaft nach Rom berufen wurden, begann Ihr Vater sich Gedanken darüber zu machen, was alles geschehen konnte, wenn eines Tages tatsächlich einer von ihnen zum Oberhaupt der katholischen Kirche gewählt werden würde. Er, der Magus der Bruderschaft, wollte auch in Rom die Fäden fest in der Hand halten. Was aber, wenn dieser neue Pontifex maximus plötzlich auf die Idee kam, zu vergessen, wer ihn auf den Thron gehoben hatte? Was, wenn der Neugewählte beschließen würde, ihn durch einen Handstreich zu entmachten und die Herrschaft an sich zu reißen?«
Papst Alexander IX. stöhnte auf und taumelte vor Schwäche, so dass Matthias, der neben ihm stand, seinen Arm nahm.
»Würden Sie dem Heiligen Vater bitte einen Stuhl geben?«, zischte er. »Sie sehen doch, wie erschöpft er ist.«
Doch Bertoni lächelte nur süffisant und fuhr fort: »Ihr Vater musste sich also irgendwie absichern. Er hatte natürlich Leute, die jeden Auftrag für ihn erledigen würden, aber das genügte ihm nicht. Sie wissen ja, wie perfektionistisch Ihr Vater war. Die belanglose Bemerkung eines seiner Vertrauten brachte ihn schließlich auf eine Idee. Dieser erwähnte in einem Gespräch mit ihm Anfang 1981, dass es am 4. März des Jahres eine große Sternenkonjunktion von Jupiter und Saturn geben würde, die ... aber das wissen Sie ja schon. Ihr Vater schmiedete den Plan, Jungen zu entführen, die an diesem Tag geboren waren, sie von der Umwelt zu isolieren und sie zu ›wiedergeborenen Gottessöhnen‹ zu erziehen, wie er sich ausdrückte. Natürlich in seinem Sinne. Würde später einmal ein Simoner zum Papst gewählt, der sich nicht an die Vorgaben Ihres Vaters halten wollte, würde er einen dieser Jungen in einer geschickten Inszenierung als wiedergeborenen Heiland präsentieren. Sie können sich vorstellen, dass es Ihrem Vater so gelungen wäre, die Kirche in ernsthafte Schwierigkeiten zu bringen. Denn erstens bedeutet die Wiederkehr des Gottessohnes laut katholischer Kirche, dass das Jüngste Gericht gekommen ist, was damit widerlegt wäre, und zweitens würde der Stuhl Petri überflüssig, denn wer braucht einen Stellvertreter, wenn er das Original haben kann?«
»Das ist doch hanebüchener Unsinn«, stieß Voigt aufgebracht aus. »Sie glauben doch nicht im Ernst, dass das tatsächlich funktioniert hätte!«
Bertoni wiegte den Kopf hin und her. »Es stimmt schon, dass Friedrich von Keipen zu dieser Zeit bereits erste Anzeichen einer, sagen wir, emotionalen Labilität zeigte. Aber ich habe ihm dennoch zugetraut, dass er die Kirche damit in ihren Grundfesten hätte erschüttern können. Aber letztendlich war es nicht meine Aufgabe und es stand mir auch nicht zu, Entscheidungen des Magus in Frage zu stellen. Wichtig für mich war, dass er mich mit der Organisation und der Durchführung der Sache beauftragte.«
»Das heißt, Sie gehörten dieser schauerlichen Bruderschaft an?«, fragte Papst Alexander IX. mit zitternder Stimme. »Und ich dachte, Nico ... Was ist mit Niccolò Gatto geschehen?«
Bertonis Gesicht verzog sich zu einem hämischen Grinsen. »Nun, Niccolòs Geschichte hat einen großen Teil dazu beigetragen, dass ich ein Mitglied der Bruderschaft wurde. Lucias Tod nach der Geburt unseres Sohnes Paolo schürte meinen Hass auf die irrsinnigen Dogmen der katholischen Kirche.«
Die drei Männer waren zusammengezuckt und starrten Bertoni jetzt ungläubig an.
»Ihres Sohnes?«, fragte Papst Alexander IX. leise.
»Ja, meines Sohnes. Lucia war eine herrliche Frau, viel zu schade für Niccolò, dessen heimliche Freundin sie war. Als sie von mir schwanger wurde, haben wir uns darauf geeinigt, dass wir Niccolò in dem Glauben lassen, er sei der Vater des Kindes.«
»O mein Gott!« Der Papst schwankte bedenklich, so dass Matthias alle Mühe hatte, ihn auf den Füßen zu halten.
Schließlich nickte Bertoni. »Holen Sie ihm schon einen Stuhl, von Keipen. Aber langsam.«
Vorsichtig ließ Matthias den Arm des alten Mannes los, bereit, sofort wieder zuzugreifen. Als er merkte, dass Papst Alexander IX. stehen blieb, zog er einen der Messdienerstühle heran. Der Lauf der Waffe blieb dabei die ganze Zeit auf ihn gerichtet. Noch während das Kirchenoberhaupt sich langsam auf den Stuhl sinken ließ, redete Bertoni weiter.
»Dann beging Niccolò jedoch den Fehler, sich seinem engen Freund Massimo anzuvertrauen und ihm von der Schwangerschaft zu erzählen. Und der hatte nichts Besseres zu tun, als es dem Bischof zu berichten. Und weil der daraufhin Niccolò quasi aus der Kirche schmiss und er und seine Freundin – meine Lucia – der Schande wegen flüchten mussten, kam mein Sohn unter Umständen zur Welt, die dazu führten, dass seine Mutter starb. Sie ist verblutet, Massimo Ferdone.« Bertonis Stimme war schärfer geworden, und er sah den Papst nun direkt an. »In jedem Krankenhaus hätte man sie retten können, aber ihr selbstgefälligen Pfaffen habt sie in Schande fortgejagt, so dass sie das Kind heimlich auf einem alten Bauernhof bekommen musste wie ein Stück Vieh.«
Die Augen des Papstes wurden feucht, aber er sagte nichts.
»Damals habe ich zum ersten Mal die katholische Kirche verflucht«, fuhr Bertoni fort, »aber es brauchte noch viele Jahre, bis ich mich endgültig dazu entschloss, es euch heimzuzahlen. Niccolò liebte meinen Sohn, den er für seinen eigenen hielt. Ich konnte aus der Ferne beobachten, wie Paolo zu einem stattlichen jungen Mann wurde.«
Bertoni machte eine kurze Pause, bevor er weitersprach.
»Als er 1973 von einem Wegelagerer erschlagen wurde, nahm Niccolò sich noch in der gleichen Nacht das Leben. Um den gutgläubigen Nico tat es mir zwar auch irgendwie leid, aber mit meinem Sohn hatte euer Gott mir den letzten Menschen genommen, der mir je etwas bedeutet hatte.«
Matthias nickte. »Ja, er hat Ihnen so viel bedeutet, dass Sie sich nicht um ihn kümmerten und zusahen, wie er jemand anderen für seinen Vater hielt.«
»Halten Sie den Mund!«, fuhr Bertoni ihn an. »Was wissen Sie denn? Ich habe ihn geliebt, und sein Tod war die indirekte Folge der Starrsinnigkeit der Kirche. Hätte man damals nicht . . .«
Er stockte und atmete tief durch.
»Ich habe damals den Brief geschrieben und mit Niccolòs Namen unterzeichnet«, fuhr er schließlich fort, wieder an Papst Alexander IX. gewandt, der jedoch nicht darauf reagierte, sondern nur starr vor sich hin sah. »Als ich kurze Zeit später von einem Priester angesprochen wurde, der mir etwas von einer geheimen Bewegung erzählte, die die Kirche grundlegend verändern wolle, hatte ich den Weg gefunden, mich an der Kirche zu rächen. Ich wurde Mitglied der Simonischen Bruderschaft.«