Rom. Porta San Paolo
54
Commissario Francesco Tissone war vor dem Torbogen stehen geblieben und betrachtete den langhaarigen jungen Mann, der mit verrenkten Gliedern mit dem Gesicht nach unten am Boden lag. Er war offensichtlich von dem etwa zehn Meter hohen Mittelteil der Porta San Paolo gestoßen worden. Zwischen seinen Schulterblättern lag ein kleines Holzkreuz. Die siebte Station: Jesus fällt zum zweiten Mal unter dem Kreuz, dachte Tissone und war dabei fast erleichtert, dass er keine der Szenen vorgefunden hatte, bei denen die Opfer wie ausgestopfte Tiere präpariert worden waren.
Die Szene wurde von den Scheinwerfern zweier Polizeifahrzeuge angestrahlt. Sicher würden bald auch die Kollegen der Spurensicherung eintreffen und ihre Scheinwerfer aufbauen. Mehrere Beamte der Polizia di Sicurezza hatten den Tatort von allen Seiten weiträumig abgesperrt. Auch die direkt daneben aufragende Cestius-Pyramide, das Grabmal des im Jahre 12 v. Chr. gestorbenen römischen Volkstribuns Caius Cestius Epulo, lag in dem abgesperrten Gebiet.
»Guten Morgen, Commissario Tissone«, sagte einer der Polizisten, ein sehr junger Mann mit fast weiblich anmutenden weichen Gesichtszügen. Er zeigte auf den Toten. »Er ist von einem Taxifahrer gefunden worden, der gerade von einem Kollegen vernommen wird. Treten Sie näher, ich möchte Ihnen etwas zeigen.«
Widerwillig sah Tissone dem jungen Beamten, der vor dem Toten in die Hocke gegangen war, über die Schulter.
»Sehen Sie, hier.«
Tissone beugte sich ein Stück nach vorne, konnte aber nichts sehen, weil sein eigener Schatten die Stelle verdunkelte. Er ging um den Toten herum und bückte sich. In den winzigen Querbalken des Kreuzes war etwas eingeritzt. Mit einem kurzen Blick auf den jungen Mann richtete er sich wieder auf.
»Konnten Sie entziffern, was dort steht?«
»Nein, es ist zu klein. Ich wollte nichts verändern, bis Sie . . .«
»Haben Sie einen Handschuh?«, unterbrach ihn Tissone und hoffte, dass er keinen Fehler machte, den ihm die Kollegen von der Spurensicherung später vorhalten würden.
Der Polizist reichte Tissone einen der dünnen Latexhandschuhe. Der Commissario streifte ihn über die rechte Hand.
So gerüstet packte er das kleine Kreuz vorsichtig mit Daumen und Zeigefinger an den Enden des Längsbalkens und ging damit zu den Polizeiwagen. Vor einem der Scheinwerfer bückte er sich und drehte das Kreuz so, dass die Schrift voll angestrahlt wurde.
Die Buchstaben und Zahlen waren ungleichmäßig, offensichtlich waren sie mit einer Nadel oder Ähnlichem von Hand in das Holz geritzt worden. Für einen Moment setzte sein Herzschlag aus:
D. Varotto † 20. 10. 2005
»Konnten Sie es entziffern, Commissario?«, wollte der junge Polizist wissen, der ihm neugierig nachgegangen war.
Tissone starrte auf die Inschrift. Er war zu keiner Regung fähig.
»Commissario?«, fragte der Beamte beunruhigt. »Was steht da?«
Endlich schaffte es Tissone, den Blick von dem Namen abzuwenden. Seine Gedanken rasten.
»Was ... welches Datum ist heute?«, fragte er den Mann benommen.
»Der 20. Oktober, Commissario.«
Tissone erhob sich und hielt ihm das Kreuz entgegen, woraufhin der Mann entsetzt zurückwich. »Aber Commissario, ich habe keine Handschuhe an. Wenn nun . . .«
»Auf diesen Kreuzen waren noch nie Fingerabdrücke.«
Mit einem Mal schien sein Gehirn wieder zu funktionieren. Er musste sofort Daniele anrufen und ihn warnen. Nachdem der Polizist noch immer keine Anstalten machte, das Kreuz an sich zu nehmen, steckte Tissone es kurzerhand in die Jackentasche, zog sein Handy heraus und drückte die Wahlwiederholungstaste. Seine Hand zitterte. Nach nur dreimaligem Klingeln sprang die Mailbox an.
Langsam ließ Tissone das Telefon sinken. Er überlegte fieberhaft. Daniele konnte das Mobiltelefon ausgeschaltet haben, um nicht gestört zu werden. Möglich war auch, dass er vergessen hatte, den Akku zu laden, was ihm schon öfter passiert war. Oder aber ... Hektisch wählte Tissone eine andere Nummer. Es dauerte einige Zeit, bis abgehoben wurde.
»Chef, hier ist Francesco.«
»Was gibt es?« Sofort bekam die Stimme den gewohnt festen Klang. Pasquale Barberi wusste, dass seine Mitarbeiter nicht ohne triftigen Grund bei ihm zu Hause anriefen. Schnell erzählte ihm Tissone von seinem Anruf bei Daniele Varotto und was er am Tatort vorgefunden hatte.
»Verdammt!«, rief Barberi, als Tissone seinen Bericht beendet hatte. »Dieser Dickkopf. Und Sie wissen nicht, wo Daniele hingefahren ist?«
»Nein, leider nicht. Ich habe ihn gefragt, aber er ist nicht darauf eingegangen.«
»Hm ... Und mit wem ist er unterwegs?«
»Mit dem Deutschen.«
»Und was ist mit dieser Journalistin, Alicia Egostina? Sie hatte sich doch auch an Daniele gehängt. Irgendwann hat er mir davon erzählt.«
»Von ihr hat er nicht gesprochen.«
»Versuch sie zu erreichen. Ich schicke Commissario Cileras zu dir. Er soll die Spurensicherung beaufsichtigen. Sobald er da ist, kommst du mich abholen.«
Andrea Cileras war ein noch junger, aber sehr eifriger Kollege. Er würde sich über die Bewährungsprobe freuen.
»Gut«, antwortete Tissone und fügte leise hinzu: »Ich mache mir große Sorgen.«
Eine Weile herrschte Stille, dann sagte sein Chef mit heiserer Stimme: »Ich auch«, und legte auf.
Alicia Egostina schien einen sehr leichten Schlaf zu haben, denn nach dem zweiten Läuten hob sie bereits ab. Nachdem Tissone sich mit Dienstgrad und Namen gemeldet hatte, konnte er förmlich spüren, wie sie sich mit einem Ruck im Bett aufrichtete.
»Ist etwas passiert? Wieder ein Mord?«
»Ja, Signorina, aber das ist nicht der Grund meines Anrufs. Es geht um Daniele Varotto.«
»Daniele? Was ist mit ihm?«
Man hörte ihren Worten deutlich die Angst an. Tissone atmete tief durch und erklärte ihr in ein paar knappen Sätzen die Situation.
»O mein Gott!«, sagte sie mit tonloser Stimme, nachdem er ihr von dem kleinen Kreuz mit Danieles Namen erzählt hatte.
Als Tissone dann aber von seinem Telefonat mit Daniele erzählte und sie fragte, ob sie wisse, wo er und Matthias sich aufhalten könnten, schrie sie ins Telefon: »Dieser Hund! Sind sie doch tatsächlich ohne mich gefahren ... Na, die können was erleben!«
»Signorina, das hört sich an, als wüssten Sie, wohin die beiden wollten.«
»Nicht die beiden, Commissario, sondern wir drei, und zwar morgen ... heute ... später. Natürlich weiß ich es. Schließlich habe ich den Ort im Internet gefunden.«
»Was haben Sie gefunden?«
Alicia berichtete ihm hastig, wie sie mit Monsignore Bertonis Hilfe auf das Castello gekommen waren.
»Und wo genau liegt dieses Castello?«, fragte Tissone.
»Ich fahr mit Ihnen hin«, antwortete sie.
»Das geht nicht. Erstens weiß ich gar nicht, ob wir selbst hinfahren, zweitens darf ich keine Zivilistin zu einem Einsatz mitnehmen, und drittens . . .«
»Und drittens verrate ich Ihnen nicht, wo dieses Castello liegt. Also?«
»Das kann nur mein Chef entscheiden, Signorina. Ich kann nicht . . .«
»Was sind Sie? Ein jämmerlicher Kriecher? Oder auch ein Mann? Ich ziehe mich schnell an, während Sie sich auf den Weg zu mir machen. Ihr Chef wird Ihnen schon nicht den Kopf abreißen. Sobald ich in Ihrem Auto sitze, sage ich Ihnen, wo Daniele hinwollte.«
»Nein, Signorina, Sie werden es mir jetzt sofort sagen!«, brüllte Tissone zu seiner eigenen Überraschung. »Weil Daniele womöglich gerade in Lebensgefahr ist, während Sie hier mit mir Ihre Spielchen treiben! Also: Ich möchte jetzt auf der Stelle wissen, wohin Daniele und Signore Matthias unterwegs sind, haben Sie verstanden? Jede Minute zählt!«
Drei, vier Sekunden vergingen, dann sagte sie kleinlaut: »Das Castello liegt drei Kilometer von einem kleinen Ort entfernt, der Marmore heißt, etwa hundertzehn Kilometer nördlich von Rom. Die nächstgrößere Stadt ist Terni.«
»Terni kenne ich«, sagte Tissone. »Ziehen Sie sich an, ich hole Sie ab.«
Nur dreißig Minuten später brachen sie nach Marmore auf. Tissone fuhr mit hoher Geschwindigkeit durch die leeren Straßen Roms. Neben ihm saß sein Chef. Barberi hatte gleich nach Tissones zweitem Anruf die Kollegen in Terni informiert. Sie hatten ihm zugesichert, sofort mit mehreren Polizisten zum Castello aufzubrechen und dort nach dem Rechten zu sehen.
»Ich hoffe, wir finden die beiden«, murmelte Tissone nach einer Weile.
»Ich wünsche mir fast, dass wir uns mit dem Castello getäuscht haben und es dort niemanden gibt, der ihnen etwas antun kann«, sagte Alicia von der Rücksitzbank.
»Daniele kann sich jedenfalls auf etwas gefasst machen«, brummte Barberi. »Uns seine Erkenntnisse vorenthalten und auch noch auf eigene Faust weiterermitteln!«
»Was blieb ihm denn anderes übrig, nachdem Sie ihn beurlaubt hatten?«
Alicia hatte sich nach vorne gebeugt. Ihre Stimme klang angriffslustig.
Barberi drehte sich zu ihr um. »Die Beurlaubung war nicht meine Idee gewesen, sondern eine Anweisung von ganz oben.«
»Und ist Ihnen noch nie der Gedanke gekommen, sich für einen Ihrer Mitarbeiter einzusetzen, wenn Sie das Gefühl haben, dass er ungerecht behandelt wird?«
»Signorina Egostina, wir wollen doch nicht vergessen, dass der Auslöser für Danieles Suspendierung ein Leitartikel war, der in Ihrer Zeitung erschienen ist.«
»Stimmt, aber ich bin nicht der verantwortliche Chefredakteur. Von dem Artikel habe ich erst erfahren, als Daniele es mir erzählt hat. Es ist doch wohl etwas anderes, wenn . . .«
»Ich denke, wir sollten uns jetzt lieber um die Gefahr Gedanken machen, in die Daniele sich gebracht hat«, fiel Tissone ihr ins Wort.
»Sie haben recht, das sollten wir«, lenkte sie ein. »Aber wenn das hier vorbei ist, werde ich mir überlegen, ob ich nicht einen Artikel über das Obrigkeitsdenken in gewissen Polizeibehörden schreiben sollte.«
Barberi sog hörbar die Luft ein, schluckte dann aber seinen Ärger hinunter. »Tun Sie, was Sie nicht lassen können. Aber jetzt erzählen Sie uns bitte, was genau Sie herausgefunden haben.«
»Ein Freund eines Kurienmitglieds hat offenbar etwas mit dieser Mordserie zu tun«, begann Alicia. »Er . . .«